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Märchen aus Italien Spanien und Portugal


Illustrationen


von Sabine Wilharm

Märchen europäischer Völker


Die Sprache der Tiere

Es war einmal ein junger Ehemann, der konnte in seinem Landstrich keine Arbeit finden und wanderte in ein anderes Land. Dort trat er in den Dienst eines Priesters. Eines Tages fand er bei der Arbeit auf dem Felde einen ungewöhnlich großen Pilz, den pflückte er und brachte ihn seinem Herrn. Dieser dankte ihm und sprach: »Geh morgen zu dem Platz zurück, wo du den Pilz gefunden hast; grabe dort nach, und was du am besagten Platz findest, das bringe mir!« Der Bauer tat, wie ihm befohlen war, und fand beim Ausgraben zwei Schlangen. Er tötete sie und brachte sie seinem Patron nach Hause. — Am gleichen Tag hatte man dem Priester Aale gebracht, und er sagte seiner Magd: »Nimm von den Aalen die beiden kleinsten und backe sie für unsern jungen Mann!« Die Magd aber verwechselte die Aale mit den beiden Schlangen, buk die letzteren und servierte sie dem jungen Bauern. Dieser aß sie und fand Geschmack an dem Gericht. Kaum war er mit dem Essen fertig, da hörte er, wie die Katze und der Hund des Priesters miteinander sprachen: »Ich muß mehr Fleisch haben als du«, begann der Hund. »Nein«, sagte die Katze, »ich bin es, die mehr verdient.« — »Ich gehe täglich mit meinem Herrn aus dem Hause«, versetzte der Hund, »und deshalb muß ich auch mehr zum Fressen erhalten als du, die du den ganzen Tag daheimsitzt.« — »Wenn du mit dem Herrn ausgehst, so ist das deine Pflicht, so wie es die meine ist, zu Hause zu bleiben.« Der Bauer begriff nun, daß er durch das Schlangengericht die Gabe erworben hatte, die Sprache der Tiere zu verstehen. Er ging in den Stall, um den Maultieren ihre Gerste vorzuwerfen. Die Maultiere aber sprachen untereinander. »Mir muß man mehr Gerste geben als dir«, sagte das eine, »denn ich bin ein Reittier und du nur ein Lasttier.« —»Oho«, entgegnete das andere Maultier, »meine Lasten sind noch schwerer als dein Reiter, und deshalb muß ich genausoviel Gerste erhalten wie du!« Als der Bauer dieses Gespräch vernahm, teilte er die Gerste in gleiche Teile. »Siehst du, daß er es genauso macht, wie ich es gesagt habe«, sprach das Lasttier. Der junge Mann kehrte ins Haus zurück, da kam ihm die Katze entgegen und sagte zu ihm: »Hör mich an: Ich weiß, daß du unsere Sprache verstehst. Paß auf: Dein Patron hat die Schlangen gesucht, weil er in einem



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Zauberbuch gelesen hat, daß, wer diese Schlangen ißt, die Sprache der Tiere zu verstehen vermag. Nun hat ihm die Magd gestanden, daß sie die Schlangen mit den Aalen verwechselt und dir als Speise vorgesetzt hat. Der Herr wird jetzt wissen wollen, ob du die Sprache der Tiere verstehst. Wenn er dich fragt, dann antworte >nein!<, und wenn er in dich dringt, dann beharre auf deinem >nein<, denn sonst mußt du sterben, und die Gabe, die Tiersprache zu verstehen, geht auf deinen Patron über.«Der Bauer verhielt sich genau, wie ihm die Katze geraten hatte, und leugnete, die Sprache der Tiere zu verstehen. Schließlich wurde der Priester des Fragens überdrüssig und schickte den Mann fort.

Als der Bauer seinen Weg verfolgte, stieß er auf eine Herde. Die Hirten waren ganz verzweifelt, weil ihnen Nacht für Nacht einige Schafe verlorengingen. — »Was gebt ihr mir, wenn ich dafür sorge, daß euch keines mehr verlorengeht?«fragte der Bauer. »Wenn du das fertigbringst«, sagte der älteste der Hirten, »dann geben wir dir eine Stute und ein junges Maultier.« Der Bauer blieb nun bei der Herde und legte sich am Abend bei den Tieren aufs Stroh. Um Mitternacht hörte er, daß Wölfe kamen und mit den Hunden ein Gespräch begannen: »Oh, Gevatter Vito.« —»Oh, Gevatter Cola«, antworteten die Hunde. »Können wir wohl etliche Schafe bekommen?« —»Nein, ihr könnt heute nichts bekommen, weil sich draußen ein Hirte bei den Schafen auf die Lauer gelegt hat.«

Acht Tage lag so der Bauer bei den Schafen und hörte jede Nacht, wie die Hunde die Wölfe davor warnten, näher zu kommen. So gingen keine Schafe mehr verloren. Dann ließ der Bauer die alten Hunde töten und neue Wachhunde kaufen. In der nächsten Nacht schrien die Wölfe wieder: »Oh, Gevatter Vito, können wir kommen?« «

»Kommt nur her«, riefen die neuen Hunde, »eure Freunde hat man umgebracht, und wenn ihr näher kommt, dann wollen wir schon ordentlich Krach schlagen, und ihr könnt so viel Kugeln in den Bauch bekommen, wie ihr wollt!«

Am andern Morgen erhielt der Bauer die versprochene Stute und das junge Maultier und begab sich damit vergnügt auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, frage ihn seine Frau, wem denn die beiden Tiere gehörten. »Das sind unsere Tiere«, entgegnete der Bauer.



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»Wie hast du sie denn erworben?«wollte die Frau wissen. Aber der Gatte blieb ihr die Antwort schuldig.

Einige Zeit später war in einer benachbarten Ortschaft ein Fest. Der Bauer beschloß, es zusammen mit seiner Frau zu besuchen; sie setzten sich beide auf den Rücken der Stute, indes das Fohlen hinterdrein lief. »Mama, wart auf mich!« rief das Kleine. Die Stute antwortete: »Spring nur zu, denn du hast es leichter, während ich zwei Leute auf meinem Rücken tragen muß.« Als der Bauer das hörte, brach er in ein schallendes Gelächter aus. »Warum lachst du?«fragte ihn seine Gattin. »Nur so, wegen nichts«, entgegnete er. »Sag mir sofort, warum du lachst! Sonst steig ich ab und gehe nach Hause.« —»Gut, ich werde es dir sagen, wenn wir bei der Kirche angekommen sind.«

Als sie bei der Kirche angekommen waren, fragte die Frau erneut: »Also, warum hast du gelacht?« — »Ich werde es dir sagen, sobald wir wieder daheim sind.« Die Frau wollte nun nicht mehr das Fest besuchen, denn sie brannte vor Neugier. So kehrten sie gleich wieder nach Hause zurück.

»Jetzt aber sag es mir!«fing die Frau zu Hause von neuem an. »Geh und rufe den Beichtvater, und dann werde ich es dir sagen!« befahl der Bauer. Die Frau legte erzürnt das Kopftuch um und holte eilends den Beichtiger. Der Gatte dachte indessen bekümmert: >Jetzt ist es aus: Ich werde sterben. Aber erst will ich beichten und kommunizieren, um in Frieden gehen zu können.< Und während er diese traurigen Gedanken wälzte, streute er den Hühnern etwas Kleie hin. Die Hühner kamen in Scharen herbei, um die Kleie aufzupicken, aber der Hahn sprang mitten unter sie und scheuchte sie mit einem Flügelschiag davon. Der Bauer sagte zum Hahn: »Warum willst du die Hennen nichtfressen lassen?« Der Hahn antwortete: »Die Hennen müssen das tun, was ich will, es mögen ihrer noch soviel sein. Ich mache es nicht wie du, der du nur eine Frau hast und dabei dich von ihr beherrschen läßt. Nun willst du gar noch sagen, daß du unsere Sprache verstehst, und so wirst du sterben.«

Der Bauer überlegte die Geschichte und sprach: »Du hast doch wahrlich mehr Verstand als ich!« Er nahm seinen Leibriemen, legte ihn ins Wasser, bis er schön geschmeidig war, und wartete auf die Rückkehr seiner Frau.

Kaum war sie zurück, da begann sie: »Aber jetzt kommt der Beichtvater,



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und nun sag mir endlich, warum du gelacht hast!« Da nahm der Mann den Gürtel und verprügelte seine Frau nach Strich und Faden, bis sie genug hatte. Als der Priester kam und fragte: »Wer will beichten?«, entgegnete der Bauer: »Meine Frau!«

Der Priester durchschaute die Situation und ging wieder heim. Als die Frau sich wieder erholt hatte, fragte der Gatte sie: »Weißt du nun, was du wissen wolltest?« Da antwortete die Neugierige: »Ja, ich weiß mir nun genug.«Und von diesem Tag an war sie nicht mehr neugierig.


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