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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


38. Das Glück des Toren

Ein Bursche hatte eine Mutter; der Vater lebte aber nicht mehr. Der Bursche war ein Waisenkind. Die Mutter war eine große Beterin (tachunit), die keine Stunde des Gebets vorübergehen ließ. Der Bursche war aber ein törichter Schwätzer. Wenn morgens um vier Uhr der Geistliche (Marabu) von der Djemaa (Moschee) aus zum Gebet rief, erhob sich die Mutter schon und begann laut zu beten. Und wenn der Geistliche abends zum letzten Gebet rief, erhob sie sich abermals und betete nochmals laut.

Der Bursche schlief aber morgens gern lange, und das Beten der Mutter störte ihn. Eines Morgens weckte der Geistliche wieder wie immer um vier Uhr und störte dabei den törichten Burschen im Schlafe. Der Bursche nahm darauf seine Debus (Keule), ging hin, wo der Geistliche niedergekniet hatte, und als er betend den Kopf neigte, schlug er ihn mit der Keule so in den Nacken, daß er tot hinfiel. Dann nahm er die Leiche des Geistlichen und trug sie zum Brunnen. Er war sehr froh über das, was er angerichtet hatte.

Froh kam er nach Hause und sagte zu seiner Mutter: "Der Geistliche wird mich nicht mehr morgens im Schlafe stören. Ich habe ihn totgeschlagen und in den Brunnen geworfen." Die Witwe erschrak. Sie sagte bei sich: "Mein Sohn wird es allen Leuten erzählen!" Die Witwe ging in den Schafstall, zog ein Schaf heraus, tötete es, trug es zum Brunnen und warf es hinein.

Der törichte Bursche lief auf den Tajmait (Männerversammlungsplatz), sprang froh unter den Männern umher und rief: "Ho! Der Geistliche wird mich jetzt morgens nicht mehr im Schlafe stören. Ich habe ihn totgeschlagen und in den Brunnen geworfen." Die Männer sagten: "Das ist ja entsetzlich!" Sie liefen mit Haken und Stricken zum Brunnen und suchten das, was da unten lag, heraufzuholen. Sie ergatterten endlich den Hammel, den die Witwe eben erst wohlüberlegt obenauf geworfen hatte, zogen ihn herauf und lachten. Sie sagten untereinander: "Oh! Der törichte Bursche hat keinen so schlechten Witz gemacht. Er nennt den Geistlichen einen Hammel!"

Eines Tages gab die Mutter dem törichten Burschen einen Teppich, daß er ihn auf den Markt trage und verkaufe. Der Bursche ging mit seinem Teppich auf den Markt, bot ihn feil, wartete, verhandelte, fand aber den ganzen Tag über niemanden, der ihm den Teppich abgekauft hätte, und ging abends damit wieder heim. Zwischen dem



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Markt und dem Dorf, in dem seine Mutter wohnte, rann ein Fluß, an dem der törichte Bursche vorbeigehen mußte. Als der törichte Bursche vorbeiging, rauschte der Fluß. Der Bursche sagte: "Was sagst du? Du sagst, deine Füße frören dich? Du sagst, du brauchst einen Teppich? Willst du mir den Teppich nächsten Markttag bezahlen? Du willst dies tun? — Dann will ich dir den Teppich über die Füße decken." Der törichte Bursche warf den Teppich weit aus und breitete ihn auf dem Flusse aus. Der Fluß trug den Teppich fort. Der Bursche rief ihm nach: "Vergiß nur nächsten Markttag nicht zu zahlen!"

Der Bursche ging heim. Er sagte vergnügt zu seiner Mutter: "Ich habe den Teppich verkauft." Die Mutter sagte: "Wo hast du das Geld?" Der Bursche sagte: "Das Geld bekomme ich nächsten Markttag. Der Fluß hat nämlich den Teppich gekauft." Die Mutter fragte: "Wer hat den Teppich gekauft?" Der Bursche sagte: "Der Fluß hat ihn gekauft. Der Fluß fror an den Füßen. Er will ihn mir nächsten Markttag bezahlen." Die Mutter sagte: "Da sieh nur zu, wie du dein Geld bekommst. Nimm nur gleich die Hacke mit, um das viele Geld, das er dir in der Tasche bereit hält, herauszukratzen."

Am nächsten Markttag nahm der Bursche eine Hacke über die Schulter und ging auf dem Wege zum Markt zum Fluß hinab. Er ging an das Ufer und sagte: "Zeige einmal! Wo hast du denn deine Goldtasche ?" Es war heller Tag und der Fluß rauschte wie immer. Der Bursche konnte nichts Besonderes hören. Der Bursche sagte: "Du bist heute recht träge mit deinen Antworten. Ich werde deine Goldtasche selbst suchen müssen." Der törichte Bursche nahm seine Hacke von der Schulter und begann in das Ufer und in das Bett Löcher zu schlagen und Dämme aufzuwerfen. Der Wasserlauf wurde so aus seinem Bett weggezogen und trat zurück in ein altes, von dem die Bauern ihn mit Mühe weggezogen hatten, damit der Fluß so ihre Felder am Ufer berieselte. Es dauerte gar nicht lange, so floß das Wasser seitwärts ab und die unten beschäftigten Bauern erkannten die Gefahr, die ihren Äckern drohte. So kamen die Bauern alle zusammen, liefen den Flußlauf aufwärts und kamen zu dem törichten Burschen, der emsig mit der Hacke weiterarbeitete.

Die Bauern sagten: "Bursche, was machst du da?" Der Bursche sagte: "Ich habe eine Verhandlung mit dem Fluß, die ich nur allein mit ihm abmachen kann. Es ist eine Geschäftssache." Der Bursche arbeitete weiter. Die Bauern fragten: "Um was handelt es sich denn?" Der törichte Bursche sagte: "Als ich neulich mit einem Teppich vom



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Markte hier vorüberkam, hatte der Fluß kalte Füße und bat mich, ihm den Teppich zu verkaufen. Heute wolle er bezahlen. Nun bin ich dabei, seine Goldtasche zu suchen. Stört mich nicht weiter durch dumme Fragen, damit ich mit dem Handel bald zu Ende komme."

Die Bauern traten zur Seite. Sie sagten zueinander: "Wenn der Bursche hier oben noch lange weiterarbeitet, so wird er unten unsere Äcker zerstören. Wir wollen zusammenlegen und den Teppich bezahlen." Die Bauern einigten sich. Sie kamen zurück. Sie sagten: "Hier schickt dir der Fluß das Geld von unten herauf." Der Bursche nahm das Geld, zählte es nach und sagte: "Es ist richtig." Darauf ergriff er seine Hacke, lief nach Hause, gab seiner Mutter das Geld und sagte: "Hier ist die Bezahlung." Der Bursche ging dann auf den Tajmait, setzte sich zu den Männern und sagte: "Wenn ihr mit den Menschen handelt, macht ihr schlechte Geschäfte. Ich handele mit dem Fluß, der zahlt besser."

Am nächsten Markttage gab die Mutter dem törichten Burschen einen Burnus (taschluacht, Plur.: tischleach) und sagte zu ihm: "Bringe diesen Burnus auf den Markt und verkaufe ihn." Der Bursche nahm ihn und ging zum Markt. Er zeigte den Burnus diesem. Er zeigte den Burnus jenem. Kein Mensch wollte den Burnus kaufen. Denn der Bursche verlangte zu viel für seinen Burnus. Dem Burschen wurde das langweilig. Er ging über den Fleischmarkt weg dahin, wo die Geier (isri, Plur.: isran) waren, und fragte: "Wollt ihr den Burnus nicht kaufen? Da, seht ihn euch an!" Der Bursche warf den Burnus den Geiern hin. Die Geier nahmen ihn auf und flogen damit von dannen. Der törichte Bursche rief den Geiern nach: "Hooo! Vergeßt nicht! Am nächsten Markttag komme ich wieder! Dann bezahlt ihr mir den Burnus meiner Mutter." Der törichte Bursche ging nach Hause und sagte zu seiner Mutter: "Den Burnus habe ich gut verkauft. Eine ganze Familie hat ihn mitgenommen." Die Mutter fragte: "Hast du denn das Geld?" Der Bursche sagte: "Nein, das Geld habe ich nicht. Ich habe den Burnus den Geiern verkauft. Die werden mir am nächsten Markttage zahlen." Die Mutter sagte: "Da wirst du wohl in ihr Haus gehen müssen, um das Geld zu bekommen." Der Bursche sagte: "Ich habe viel Zeit. Es kommt mir auf den Weg nicht an."

Am nächsten Markttage nahm der Bursche seine Hacke auf die Schulter, ging auf den Markt und sah sich nach den Geiern um. Er traf die Geier am Fleischmarkte und sagte: "Ihr da! Habt ihr mein Geld mitgebracht?" Der Bursche winkte mit der Hacke. Da flogen



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die Geier schreiend auf und davon. Der törichte Bursche sagte: "Meine Mutter ist doch eine kluge Frau; sie hat gleich vorhergesagt, daß ich bis in das Haus der Geier hinaufsteigen muß, um mein Geld zu bekommen. Nun rufen sie mich schon." Er rief den Geiern nach: "Fliegt nicht so schnell. Ich muß doch nachkommen!"

Der törichte Bursche stieg hinter den Geiern her den Berg hinauf. Er fand ihr Nest. Er ging auf das Nest zu. Die Geier flogen schreiend fort. Der Bursche sagte: "Seht nur. Nehmen werde ich mir mein Geld schon selbst." Er ergriff seine Hacke und lockerte den Boden. Da fand er, daß zwei Töpfe eingescharrt waren, die voller Gold- und Silberstücke waren. (Die Geier sollen nach Angabe der Kabylen die gleichen diebischen Gelüste haben, die man bei uns den Raben zuschreibt.) Die Geier hatten das Gold und das Silber zusammengetragen. Der Bursche sah das Gold und das Silber und er sagte: "Was, das wollt ihr mir alles geben? Bei meinem Kopfe! Ihr zahlt nicht schlecht. Das kann ich ja gar nicht alles tragen." Der Bursche lief fort.

Der Bursche lief nach Hause und sagte zu seiner Mutter: "Mutter, du hast recht gehabt, die Geier zahlen nur bei sich zu Hause. Sie haben mir zwei große Topfscherben voll Gold- und Silberstücke hingestellt, die soll ich mitnehmen. Komm nun mit zwei Körben und trage das Gold nach Hause". Die Mutter nahm zwei Körbe. Sie sagte bei sich: "Wenn es wahr ist, was der törichte Junge sagt, werde ich mit der Habsucht der Leute zu tun haben, denn der Junge wird es überall erzählen. Ich muß der Sache Pfeffer beimischen" (das soll heißen, ihr einen anderen Geschmack geben). Die Frau füllte den einen Korb mit Eiern und den anderen mit Kuchen. Sie sagte: "Ich bin fertig und werde vorangehen." Die Mutter ging. Sie ließ bald einen Kuchen, bald ein Ei fallen. Der törichte Bursche hob den Kuchen auf. Er hob das Ei auf. Er verzehrte alle Kuchen und Eier, die die Mutter unterwegs fallen ließ. Die Mutter sagte unterwegs: "Es regnet heute." Es war aber nicht wahr. Die Sonne schien. Der Sohn sagte: "Was sagst du? Es regnet heute ?" Die Mutter ließ wieder einen Kuchen und ein Ei fallen und sagte: "Ja, es regnet heute." Der Bursche aß den Kuchen und das Ei und sagte: "Ja, es regnet heute."

Die Mutter kam mit dem Burschen zu dem Nest der Geier. Sie sah das Gold und das Silber in den Nestern. Sie packte die beiden Körbe voll und kam abends wieder nach Hause. Der Bursche ging am anderen Tage auf den Tajmait, auf dem alle Männer versammelt waren,



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und sagte: "Meine Mutter und ich sind jetzt reiche Leute. Wir haben Gold und Silber in Töpfen gefunden." Die Leute hörten hin. Die Leute fragten: "Wann war das?" Der Bursche sagte: "Das war an dem Tage, an dem es Eier und Kuchen regnete." Die Leute lachten. Die Leiste sagten untereinander: "Er ist wirklich ein törichter Schwätzer." —

Eines Tages ging der törichte Bursche auf der Landstraße hin. Seiner Gewohnheit nach schwatzte er vor sich hin und er sagte: "Wenn Gott mich hundert Goldstücke auf der Landstraße finden läßt, werde ich sie aufnehmen und mitnehmen. Wenn Gott mir nur neunundneunzig Goldstücke hinlegt, lasse ich sie liegen." Hinter dem Burschen ging ein schlauer Händler, ohne daß der erstere es wußte. Der schlaue Händler sagte bei sich: "Was der törichte Bursche sagt, kann ihm, wenn er es ausführt, vor dem Richter ein Stück Geld kosten, das der einstecken kann, der die neunundneunzig Goldstücke hinlegt." Der schlaue Händler lief voraus und legte neunundneunzig Goldstücke auf die Straße. Der törichte Bursche kam an die Stelle, fand die Goldstücke, nahm sie auf, zählte sie und sagte: "Ho! Das hätte ich nicht von Gott gedacht. Jetzt ist mir Gott noch ein Goldstück schuldig. Höre Gott! Merke es dir gut und zahle mir das letzte Goldstück bald!" Der törichte Bursche ging weiter.

Der schlaue Händler kam aus seinem Versteck und sagte: "Du hast meine neunundneunzig Goldstücke weggenommen." Der Bursche fragte: "Hast du die neunundneunzig Goldstücke etwa da hingelegt oder hat Gott sie dich verlieren lassen?" Der Händler sagte bei sich: "Ich darf vor dem Richter nicht sagen, daß ich die neunundneunzig Goldstücke dort hingelegt habe." Der schlaue Händler sagte: "Nein, ich habe sie nicht hingelegt. Gott hat sie mich verlieren lassen. Komm vor den Richter!" Der törichte Bursche sagte: "Ich habe keine guten Kleider, um mit dir zum Richter zu kommen!" Der schlaue Händler gab ihm neue Kleider. Der Bursche sagte: "Zu Fuß kann ich nicht gehen." Der Händler gab ihm einen Maulesel. Der törichte Bursche ritt in den neuen Kleidern auf dem Maulesel mit dem schlauen Händler zum Richter. Der Händler sagte: "Der Bursche hat mir neunundneunzig Goldstücke gestohlen." Der Bursche sagte: "Ho! Jetzt behauptest du wohl auch noch, daß du mir die Kleider, die ich am Leibe habe, und den Maulesel, auf dem ich reite, hinterher dazugegeben hast?!"Der schlaue Händler sagte: "Gewiß habe ich sie dir hinterher noch gegeben." Der Richter sagte: "Du bist als schlau bekannt. Was du eben selbst angibst, wäre SO



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töricht, daß ich dir die ganze Sache nicht glaube." Der törichte Bursche sagte: "Mein Richter, frage ihn, ob ich nicht durch seine Vermittlung von Gott neunundneunzig Goldstücke bekommen habe." Der Richter fragte: "Ist es so?" Der schlaue Händler sagte: "Das ist ja das, was ich behaupte. Gott hat sie mich verlieren lassen." Der törichte Bursche sagte: "Und Gott hat sie mich gewinnen lassen und ist mir dabei ein Goldstück schuldig geblieben. Richter, ich bitte dich, mir das Goldstück Gottes durch den schlauen Händler auszahlen zu lassen." Der Richter lachte und sagte: "Höre du, Schlauer, wenn du wirklich, wie du eben sagtest, auf Veranlassung Gottes das Geld verloren und es nicht zum Zwecke der Erpressung auf die Straße gelegt hast, so zahle dem Burschen im Namen des Gottes auch das letzte Goldstück. Sonst müßte ich die Sache anders auffassen."

Der schlaue Händler zahlte das letzte Goldstück und ging. Der törichte Bursche steckte das Goldstück ein und sagte zu dem Richter: "Wegen dieses letzten Goldstückes hat mir Gott mehr Schwierigkeiten gemacht als mit den neunundneunzig ersten."


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