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Märchen aus Italien Spanien und Portugal


Illustrationen


von Sabine Wilharm

Märchen europäischer Völker


Die Sirene des Meeres

An der Grenze der Lombardei lebte einmal ein Mann namens Bernio, der, wenn er auch nicht gerade wohlhabend war, doch an Geist und Gemüt andern keineswegs nachstand. Er nahm ein wackeres, hübsches Mädchen mit Namen Alchia zur Frau. Sie stammte zwar aus einer armen Familie, war aber dafür sehr klug und von rühmenswerten Sitten, und zudem liebte und schätzte sie ihren Mann als ihr höchstes Gut in dieser Welt. Sie hätten gar gerne Kinder gehabt, aber diese Gnade wurde ihnen von Gott nicht gewährt, denn meistens weiß der Mensch nicht recht, was er als das ihm Tauglichste vom Schicksal erbitten soll. Nachdem sie lange ein Kind ersehnt hatten und schließlich erkannten, daß ihnen das Glück nicht hold sein wollte, beschlossen sie, ein Kind anzunehmen und wie ein eigenes zu erziehen.

Sie gingen also eines Morgens früh an jenen Ort, wo die von ihren Eltern verlassenen kleinen Kinder ein Obdach finden, und sahen dort ein Knäblein, das ihnen schöner und lieblicher erschien als die übrigen. Dieses nahmen sie zu sich, erzogen es mit aller Sorgfalt und hielten es in guter Zucht. Nun geschah es aber, daß durch den Willen Gottes, der die Welt regiert und alles nach seinem Gutdünken lindert und mildert, Alchia doch noch ein Kindlein bekam, das ganz seinem Vater glich. Beide Eltern hatten darüber eine unglaubliche Freude und nannten ihr Kind Valentino. Der Knabe wuchs bei guter Pflege und sorgsamer Erziehung auf, war artig und folgsam und liebte seinen Bruder Fortunio so sehr, daß er sich beinahe zu Tode grämte, wenn er einmal ohne ihn war. Allein die Zwietracht, die Feindin alles Guten, konnte eine so innige Liebe nicht länger mit ansehen, trat eines Tages dazwischen und gab ihnen ihre bitteren Früchte zu kosten. Denn als sie einmal nach Kinderart miteinander spielten und allerlei Späße trieben, konnte es Valentino nicht leiden,



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daß ihm Fortunio im Spiel überlegen war, und er geriet in eine derartige Wut, daß er ihn mehrmals einen Bastard nannte. Fortunio war darüber höchst verwundert, und es ärgerte ihn sehr. »Was«, rief er aus, »ein Bastard bin ich?« Valentino fuhr fort zu schimpfen und wiederholte denselben Ausdruck noch einmal in seinem Zorn. Da verließ Fortunio über die Maßen betrübt das Spiel, ging zu seiner vermeintlichen Mutter und fragte sie in sanftem Ton, ob er nicht ihr und Bernios Sohn sei. »Freilich«, antwortete Alchia, und als sie erfuhr, daß ihn Valentino mit Schimpfworten beleidigt habe, drohte sie diesem ernstlich und schwur, ihn gehörig zu bestrafen. Allein Fortunio hatte durch Alchias Worte schon Verdacht geschöpft, ja es schien ihm gewiß, daß er ihr Sohn nicht sei, und er drang wiederholt in sie, es ihm doch zu sagen, denn er wollte durchaus die Wahrheit wissen.

Alchia mußte schließlich dem Ungestüm seiner Bitten nachgeben und gestand ihm, daß er nicht ihr leiblicher Sohn, sondern um Gottes willen und zur Buße von ihrer und ihres Mannes Fehler und Sünden an Kindes Statt aufgenommen worden sei. Diese Worte gingen dem Jüngling wie Dolchstiche ins Herz, und seine Betrübnis stieg aufs höchste. Er fühlte sich grenzenlos unglücklich und hätte sich beinahe ein Leid angetan. Dann aber beschloß er, sein Elternhaus zu verlassen und aufs Geratewohl in die Welt hinauszuziehen, um zu versuchen, ob ihm das Glück vielleicht irgendeinmal günstig sein werde. Als Alchia das erfuhr und sah, daß sie ihn auf keine Weise von seinem trotzigen Entschluß abbringen konnte, wurde sie so erzürnt über ihn, daß sie ihn verwünschte und Gott bat, er möge, falls er einmal übers Meer fahre, von der Sirene ebenso in die Tiefe gezogen werden wie die Schiffe von den sturmbewegten und tosenden Wellen des Meeres.

Fortunio, vom heftigen Drang seines Unwillens und der Gewalt seines Zornes getrieben, achtete nicht auf den mütterlichen Fluch, sondern reiste fort, ohne seinen Eltern Lebewohl zu sagen, und nahm seinen Weg nach Westen. Er wanderte bald durch Sümpfe und Täler, bald wieder über Berge und andere wilde und gebirgige Gegenden. Da kam er eines Morgens zwischen der sechsten und neunten Stunde in einen dichtbelaubten und undurchdringlichen Wald und traf, als er hineingegangen war, den Wolf, den Adler und die Ameise, die



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sich wegen eines erbeuteten Hirsches heftig stritten und über die Teilung nicht einig werden konnten. Wie nun die Tiere in diesem Streit begriffen waren und keines dem andern nachgeben wollte, kamen sie schließlich dahin überein, daß der Jüngling Fortunio, der gerade dazugekommen war, ihren Zwist entscheiden solle und jedem von ihnen den Teil der Beute zusprechen möge, der ihm am passendsten schiene. Damit waren sie zufrieden und versprachen einander, sich bei seinem Entscheid zu beruhigen und sich nicht dagegen aufzulehnen, sollte auch die Teilung ungerecht ausfallen.

Fortunio übernahm dieses Amt gern, und nachdem er sich zuerst die Eigenart der drei Tiere reiflich überlegt hatte, teilte er die Beute auf folgende Weise: Dem Wolf als einem gefräßigen und mit Zähnen wohlversehenen Geschöpf bestimmte er zum Lohn für seine Mühe sämtliche Knochen nebst dem mageren Fleisch. Dem Adler, der ein Raubvogel ist und keine Zähne hat, wies er als Entgelt die Eingeweide und das Fett zu, welches das Fleisch und die Knochen umgibt. Der Körner schleppenden und fleißigen Ameise, der jene Kraft fehlt, die Wolf und Adler besitzen, teilte er zum Preis für ihre Arbeit das zarte Gehirn zu.

Ein jedes war mit diesem wohlüberlegten Urteil zufrieden, und sie dankten ihm für die ihnen erwiesene Gefälligkeit, so gut sie konnten. Und weil der Undank eines der ärgsten Laster ist, beschlossen sie alle drei, ihn nicht eher weiterziehen zu lassen, als bis ihm jeder einzelne diesen Dienst aufs beste vergolten hätte. Da sprach der Wolf, um ihm seine Erkenntlichkeit für den Urteilsspruch zu beweisen: »Bruder, ich verleihe dir hiermit die Kraft, daß jedesmal, wenn du wünschest ein Wolf zu sein und sprichst: >Wär ich nur ein Wolf<, du augenblicklich zu einem Wolf verwandelt wirst, worauf du nach Belieben deine vorige Gestalt wieder annehmen kannst.« Und auf dieselbe Weise wurde er auch vom Adler und der Ameise belohnt, daß er sich auch in diese beiden Tiere verzaubern konnte.

Hocherfreut über das empfangene Geschenk sagte Fortunio ihnen dafür herzlichsten Dank und nahm von den Tieren Abschied. Er wanderte nun weiter und gelangte endlich nach Polonia, einer edlen und volkreichen Stadt, die damals der tapfere und mächtige König Odescalco regierte. Dieser hatte eine Tochter namens Doralice und hätte sie gern auf ehrenvolle Weise verheiratet. Er ließ deshalb ein



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Turnier ankündigen und nahm sich vor, die Prinzessin keinem andern zur Ehe zu geben als dem, der in dem Wettkampf Sieger bleibe. Viele Herzöge, Markgrafen und andere mächtige Herren waren von allen Seiten herbeigeeilt, den kostbaren Preis zu gewinnen. Schon war der erste Tag des Turniers vorüber, und ein garstiger und ungestalter Sarazene von wunderlichem Aussehen und einer Hautfarbe so schwarz wie Pech schien die Oberhand zu gewinnen.

Als die Königstochter die Häßlichkeit und Unsauberkeit des Sarazenen bemerkte, geriet sie in die größte Bestürzung bei dem Gedanken, dieser könne womöglich Sieger im Kampf werden. Traurig stützte sie ihre rosenfarbene Wange auf die zarte Hand, grämte sich über ihr hartes Schicksal und wünschte eher zu sterben, als die Gemahlin eines so häßlichen Sarazenen zu werden.

Fortunio war unterdessen in die Stadt gekommen, hatte die seltene Pracht und den Zulauf der Turnierteilnehmer gesehen und auch vernommen, was die Ursache einer solchen Festlichkeit sei. Es entbrannte in ihm ein glühendes Verlangen, auch im Turnier zu zeigen, was er zu leisten fähig war. Weil es ihm aber an allem gebrach, was ein Kämpfer benötigt, war er sehr traurig. Und wie er so betrübt dastand und die Augen zum Himmel aufschlug, erblickte er Doralice, die Tochter des Königs, die an einem reichgeschmückten Fenster saß, von vielen schönen und vornehmen Frauen umgeben, nicht anders als die strahlende Sonne unter den kleineren Sternen. Als dann die finstere Nacht gekommen und alles zur Ruhe gegangen war, zog sich Doralice traurig und ganz allein in ein reichgeschmücktes und schönes Zimmer zurück.

Und wie sie so einsam am offenen Fenster stand, erblickte Fortunio sie abermals und sprach zu sich selbst: >Ach, wär ich nur ein Adler!< Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da wurde er auch schon zum Adler. Er flog zum Fenster hinein, verwandelte sich wieder in einen Menschen und stellte sich fröhlich und vergnügt der Prinzessin vor. Das Mädchen erschrak heftig bei seinem Anblick und fing an, so laut zu schreien, als würde sie von gierigen Hunden zerrissen. Der König, der sich nicht weit von der Tochter aufhielt, hörte ihr lautes Schreien, eilte zu ihr, und als er vernahm, daß ein Jüngling im Zimmer sei, durchsuchte er jeden Winkel. Er fand aber nichts und begab sich wieder zur Ruhe, denn Fortunio war schnell wieder zum Adler



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geworden und durchs Fenster entflohen. Kaum hatte sich der Vater niedergelegt, so hub die Prinzessin von neuem an zu schreien, denn der Jüngling stand wie das erstemal vor ihr.

Allein Fortunio, der für sein Leben fürchtete, verwandelte sich auf ihre Hilferufe hin alsbald in eine Ameise und verbarg sich in den goldblonden Zöpfen des Mädchens. Odescalco eilte wieder herbei, als er die Stimme seiner Tochter hörte, und als er niemanden sah, ward er sehr böse auf sie und drohte ihr, es solle ihr schlecht ergehen, wenn sie noch einmal schreie. Damit ging er zornig weg in der Meinung, sie habe im Traum einen jener Ritter gesehen, die aus Liebe für sie im Turnier getötet worden seien. Fortunio hatte des Vaters Worte wohl gehört, und kaum war dieser fort, so legte er seine Ameisenhülle wieder ab und erschien in seiner früheren schönen Gestalt wieder.

Sowie Doralice den Jüngling erblickte, wollte sie sogleich zum Bett hinausspringen und schreien. Aber sie konnte nicht, denn Fortunio verschloß ihr mit einer Hand den Mund und sagte: »Meine Herrin, ich bin nicht hierhergekommen, um Euch Ehre und Gut zu rauben, sondern um Euch zu trösten und Euer ergebenster Diener zu sein. Wenn Ihr wieder schreit, so wird entweder Euer ruhmvoller Name und Euer guter Ruf darunter leiden, oder Ihr werdet die Ursache von meinem und Eurem Tod. Und deshalb, o Herrin meines Herzens, bringt nicht zu gleicher Zeit Eure Ehre und unser beider Leben in Gefahr!«Während Fortunio diese Worte sprach, weinte Doralice und kränkte sich sehr, denn sie konnte diesen erschreckenden Überfall nicht überwinden. Aber der Jüngling redete ihr mit so süßen Worten zu, daß diese einen Berg hätte zerspalten können. Es gelang ihm endlich, ihren Widerwillen zu besiegen, und von seiner Anmut bezaubert, versöhnte sie sich mit ihm. Da sie nun sah, daß der Jüngling ein so schönes Aussehen und so kräftige und wohlgeformte Glieder hatte, mußte sie unwillkürlich an die Häßlichkeit des Sarazenen denken und wurde sehr betrübt, daß dieser Sieger im Turnier und dadurch Besitzer ihrer Person werden könnte. Sie war noch mit diesen Gedanken beschäftigt, als Fortunio zu ihr sagte: »Fräulein, hätte ich das Nötige dazu, wie gerne würde ich tjostieren, denn ich wäre gewiß, den Sieg zu erringen.« — »Wenn das geschähe«, erwiderte die Prinzessin, »so dürfte kein anderer als Ihr auf meine Hand



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Anspruch machen.« Als sie ihn nun ganz begeistert und vom besten Willen zu einem solchen Unternehmen beseelt sah, stattete sie ihn mit Geld und einer großen Menge Edelsteine aus. Voller Freuden empfing der Jüngling das Geld und die Juwelen und fragte sie, in welcher Kleidung er ihr am besten gefallen würde. »In weißer Atlasseide«, gab sie zur Antwort. Und wie sie es anordnete, so tat er auch.

Am folgenden Tag legte Fortunio eine funkelnde Rüstung an, zog einen Waffenrock von weißem Atlas mit reicher Stickerei in Gold und eingelegter Stoffverzierung darüber, bestieg ein starkes mutiges Roß, dessen Decke von der gleichen Farbe wie der Ritter war, und begab sich, ohne daß ihn jemand kannte, auf den Turnierplatz. Das Volk war schon zum glänzenden Schauspiel versammelt und sah den kühnen, unbekannten Ritter mit der Lanze in der Hand zum Turnier bereit. Alle betrachteten ihn voll Erstaunen, und ein jeder fragte: »Wer mag wohl der Unbekannte sein, der sich so anmutig und prächtig zum Turnier stellt?« Fortunio trat in die Schranken und gab seinem Gegner ein Zeichen, ebenfalls einzutreten. Beide legten die knorrigen Lanzen ein und sprengten wie zwei entfesselte Löwen aufeinander los. Und so gewaltig traf der Jüngling den Kopf des Sarazenen, daß dieser rücklings vom Pferde fiel und wie ein Glas, das man gegen eine Mauer wirft, tot auf dem Boden liegenblieb. Und so viele andere ihm an diesem Tag auch begegneten, es wurden alle von ihm mit Wucht zu Boden geworfen. Da war nun die Prinzessin froh und schaute ihm mit größter Aufmerksamkeit und Bewunderung zu. Auch dankte sie im stillen dem lieben Gott, daß er sie aus der drohenden Knechtschaft des Sarazenen befreit hatte, und bat den Allerhöchsten, er möge ihm die Siegespalme verleihen. Als die Nacht gekommen war und man Doralice zur Tafel rief, wollte sie nicht erscheinen. Sie gab vor, sie fühle noch keine Lust zum Essen, und ließ sich einige auserlesene Speisen und köstliche Weine bringen, damit sie, wenn sie Verlangen verspüre, später etwas genießen können.

Darauf schloß sie sich in ihr Zimmer ein, öffnete das Fenster und wartete auf ihren Geliebten mit inniger Sehnsucht. Er kam auch richtig wie in der vorigen Nacht, und so setzten sie sich beide fröhlichen Sinnes zur Mahlzeit. Dann fragte Fortunio, wie er sich morgen



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kleiden solle. »In grünen Atlas«, erwiderte sie, »ganz mit feinstem Silber und Gold bestickt, und ebenso die Decke des Pferdes.« Und das wurde alsbald am Morgen ins Werk gesetzt. Wieder erschien der Jüngling auf dem Platz, trat zur bestimmten Zeit in die Schranken, und wenn er tags zuvor seine Tapferkeit bewiesen hatte, so tat er an diesem Tag noch weit mehr, so daß ein jeder laut bestätigte, das schöne Königstöchterlein komme mit Recht ihm zu. Ganz überglücklich vor Freude bediente sich Doralice am Abend wieder desselben Vorwands wie in der vergangenen Nacht. Sie schloß sich in ihr Gemach ein, öffnete das Fenster und erwartete den tapferen Jüngling, worauf sie ungestört mit ihm speiste.

Und als er sie wiederum fragte, was für ein Gewand er am folgenden Tag anziehen solle, antwortete sie: »Eines von dunkelrotem Atlas, ringsum mit Gold und Perlen bestickt, und in gleicher Weise soll auch die Decke des Pferdes verziert sein, denn auch ich werde in dieser Art gekleidet sein.« —»Meine Gebieterin«, sprach Fortunio hierauf, »sollte ich morgen etwas später als sonst beim Turnier erscheinen, so wundert Euch nicht darüber, denn gewiß werde ich nicht ohne billigen Grund meine Ankunft verzögern.«

Als nun der dritte Tag und die zum Turnier bestimmte Stunde gekommen war, wartete das ganze Volk mit größter Freude auf den Beginn des Schauspiels; aber wegen der außerordentlichen Kraft des Unbekannten wagte es lange keiner von den kämpfenden Rittern, zu erscheinen. Und weil sich der Jüngling auch nirgends blicken ließ, entstand nicht nur beim Volk die größte Beunruhigung, sondern auch die Prinzessin geriet in bange Sorge, obwohl sie von der Verzögerung in Kenntnis gesetzt war. Deshalb sank sie, von Kummer übermannt, wie ohnmächtig nieder, ohne daß es freilich jemand bemerkte. Sobald sie aber vernahm, Fortunio nähere sich dem Kampfplatz, kehrten ihre verirrten Lebensgeister augenblicklich wieder zurück.

Diesmal erschien ihr Geliebter in ein herrliches, reiches Gewand gekleidet, und die Decke seines Pferdes war mit feinstem Gold, glänzenden Rubinen, Smaragden, Saphiren und großen Perlen geschmückt, welche nach allgemeinem Urteil ein ganzes Königreich wert waren. Sobald der wackere Kämpfer auf dem Platz anlangte, riefen alle mit lauter Stimme: »Es lebe der unbekannte Ritter!« und



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jubelten ihm mit langanhaltendem Beifall, Klatschen und Pfeifen zu. Er trat in die Schranken und erwies sich so tapfer, daß er alle in den Sand warf und im Kampfspiel glorreich den Sieg davontrug. Darauf stieg er von seinem wackeren Pferd herunter und wurde unter den Klängen schmetternder Trompeten und anderer Musikinstrumente sowie unter lautem Jubelgeschrei, das hoch in die Luft drang, von den Ersten und Vornehmsten der Stadt auf ihren Schultern zum König getragen. Dort legte er den Helm und die glänzende Rüstung ab, und der Landesherr sah einen schönen Jüngling vor sich. Da ließ er seine Tochter rufen und gab sie ihm vor allem Volk mit großer Feierlichkeit zur Gemahlin, und die Festlichkeiten bei Hofe dauerten einen ganzen Monat.

Nachdem Fortunio nun eine gewisse Zeit mit seiner geliebten Doralice verbracht hatte, schien es ihm unziemlich und verächtlich, stets im Müßiggang zu verbleiben und gleich wie die Taugenichtse und Toren nichts anderes zu tun, als die Stunden zu zählen. Und er beschloß denn, sich auf die Reise zu begeben und Gegenden auf zusuchen, in denen er seine große Tapferkeit am rechten Ort bewähren könne. Er rüstete also eine Galeere aus, belud sie mit vielen Schätzen, die der Schwiegervater ihm geschenkt hatte, nahm Abschied von ihm und seiner Gemahlin und stieg auf sein Segelschiff. Bei günstigem Wind fuhr er dahin und erreichte bald das Atlantische Meer. Er hatte jedoch kaum zehn Meilen auf dem Wasser zurückgelegt, als sich eine Sirene, die größte, die man jemals gesehen hatte, der Galeere näherte und bezaubernd zu singen anfing. Fortunio, der auf einer Seite des Schiffes lag und den Kopf über das Wasser hielt, um besser zu lauschen, schlief bei ihrem Gesang ein, und also schlafend wurde er von der Sirene in die Meeresflut hinabgezogen, worauf sie mit ihm unter den Wellen verschwand.

Die Schiffsleute, die ihm nicht schnell genug zu Hilfe kommen konnten, waren außer sich vor Schmerz, behängten das Fahrzeug mit schwarzen Tüchern, kehrten traurig und trostlos zum unglücklichen Odescalco zurück und erzählten ihm das furchtbare Ereignis, das sich auf dem Meer zugetragen hatte. Da verfielen der König und Doralice und mit ihnen die ganze Stadt in größte Betrübnis, und alles legte Trauerkleider an.

Als für Doralice bald darauf die Stunde gekommen war, schenkte



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ihr Gott einen sehr schönen Knaben, der unter liebevoller Pflege zum Alter von zwei Jahren heranwuchs. Und da sich nun die kummervolle, betrübte Doralice immer noch ihres geliebten Mannes beraubt sah und es für sie keine Hoffnung mehr gab, ihn wiederzusehen, beschloß sie in ihrer hohen und unerschrockenen Seele, obwohl der König nicht einwilligen wollte, sich auf gut Glück dem Meer anzuvertrauen und dort ihr Heil zu versuchen. Sie ließ also eine wohlausgerüstete und gutbewaffnete Galeere bereitmachen, nahm drei wunderbar gearbeitete Äpfel mit, von denen der erste aus Bronze, der zweite aus Silber und der dritte aus feinstem Gold war, sagte ihrem Vater Lebewohl und bestieg mit ihrem Knaben das Schiff.

Der Wind blies frisch in die Segel, und sie war bald auf dem offenen Meer. Als nun die trauernde Frau auf der weiten, ruhigen See dahinfuhr, befahl sie ihren Schiffsleuten, dorthin zu steuern, wo ihr Gemahl von der Sirene hinabgezogen worden war. Sie taten, wie ihnen geheißen. Doch sobald das Schiff zu jener Stelle gelangte, fing der Knabe erbärmlich an zu weinen. Und weil ihn die Mutter auf keine Weise beruhigen konnte, gab sie ihm den Apfel aus Bronze zum Spielen. Und wie er damit spielte, erblickte die Sirene den Apfel. Sie näherte sich dem Schiff, hob den Kopf ein wenig über die schäumenden Wogen und sprach zu Doralice: »Gib mir diesen Apfel, Frau; denn ich bin ganz verliebt in ihn.«Doralice erwiderte, sie könne ihn nicht hergeben, er sei der Zeitvertreib ihres Kindes. »Wenn du die Güte haben wolltest, ihn mir zu schenken«, versetzte darauf die Sirene, »so würde ich dir deinen Gemahl bis an die Brust zeigen.« Als Doralice, die große Sehnsucht empfand, ihren Gatten zu sehen, das hörte, schenkte sie ihr den Apfel. Und zur Vergeltung für das kostbare Geschenk zeigte ihr die Sirene, wie sie versprochen hatte, Fortunio bis an die Brust, tauchte dann mit ihm wieder in die Wasserflut und ließ sich nicht mehr sehen.

Die Frau aber, die alles aufmerksam betrachtet hatte, bekam nur ein um so größeres Verlangen nach ihm und wollte ihn ganz sehen. Da sie sich aber nicht zu helfen wußte, suchte sie sich mit ihrem Kind zu trösten. Der Knabe fing von neuem an zu weinen, und die Mutter gab ihm jetzt den Apfel von Silber, damit er zufrieden sei. Nun erblickte die Sirene auch diesen und begehrte ihn zum Geschenk. Allein Doralice zuckte die Achseln und weigerte sich, ihn herzugeben,



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weil sie sah, daß ihr Kind seine Freude daran hatte. Da sprach die Sirene: »Wenn du mir diesen Apfel gibst, der weit schöner ist als der andere, so verspreche ich dir, dir deinen Mann bis an die Knie zu zeigen.«

Die arme Doralice, die ein großes Verlangen hatte, mehr von ihrem geliebten Gatten zu sehen, setzte diesmal die Liebe zu ihrem Kind hintan und gab freudig den silbernen Apfel weg, worauf die Sirene ihr Versprechen hielt und dann wieder in die Tiefe tauchte. Ganz schweigsam und traumverloren starrte Doralice auf die Wellen und wußte nicht, was sie anfangen sollte, um ihren geliebten Fortunio zu erretten. Dann nahm sie das Knäblein wieder auf den Arm, das noch immer weinte, und fand dabei wieder einigen Trost. Das Kind aber erinnerte sich jetzt wiederum seines Spielzeugs, des Apfels, und die Mutter war wohl oder übel genötigt, ihm den goldenen Apfel zu geben. Sobald das Fischweib diesen gewahrte und sah, daß er weit schöner war als die beiden ersten, verlangte sie ihn ebenfalls zum Geschenk. Und sie wußte ihr so zu schmeicheln und sie zu überreden, daß sie auch diesen hingab, so sehr auch das Kind danach verlangte.

Und weil die Sirene versprochen hatte, ihr dafür den Gemahl ganz zu zeigen, näherte sie sich dem Schiff, erhob den Rücken ein wenig übers Wasser und ließ sie den Gatten Fortunio völlig sehen. Kaum sah sich dieser außerhalb der Wasserflut und frei auf dem Rücken der Sirene, da rief er unverzüglich voller Freude: »O wär ich nur ein Adler!« Und sogleich wurde er zum Adler, schwang sich empor in die Lüfte und flog auf den Mastbaum des Schiffes. Von dort kam er herunter aufs Verdeck und verwandelte sich vor den Augen aller Seeleute in seine frühere Gestalt, küßte und umarmte zuerst seine Gemahlin und sein Kind und hernach alles Schiffsvolk. Alle waren glücklich, ihren Herrn wiedergefunden zu haben, und sie kehrten nun miteinander in das väterliche Reich zurück.

Und als sie heimkamen, begannen sie die Trompeten, Pauken und Trommeln und andere Instrumente erschallen zu lassen. Wie der König das hörte, wunderte er sich und war sehr begierig, zu wissen, was das zu bedeuten habe. Und es währte auch nicht lange, da kam ein Bote und brachte ihm die Kunde, Fortunio, sein Schwiegersohn, und seine geliebte Tochter Doralice seien heimgekehrt. Und als sie



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das Schiff verlassen hatten, zogen sie alle zum Palast, wo sie unter größter Freude und mit Jubel empfangen wurden.

Einige Tage darauf begab sich Fortunio nach Hause, verwandelte sich in einen Wolf und zerriß Alchia, seine Stiefmutter, und seinen Bruder Valentino wegen der argen Kränkung, die sie ihm angetan hatten. Dann nahm er wieder seine eigentliche Gestalt an, bestieg sein Pferd und wandte sich wieder zurück in das Reich seines Schwiegervaters, wo er mit Doralice, seinem treuen und geliebten Weib, viele Jahre in Frieden lebte und beide in größter Wonne und gegenseitigem Glück sich ihrer Liebe freuten.


Copyright: arpa, 2015.

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