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Märchen aus Italien Spanien und Portugal


Illustrationen


von Sabine Wilharm

Märchen europäischer Völker


Seinem Schicksal kann keiner entrinnen

Es war einst ein Kaufherr. Der besaß einen Sohn, der in allen Wissenschaften und feinen Umgangsformen bewandert war und solche Klugheit besaß, daß er auch das verstand, was die Vögel sagten, wenn sie sangen. Es geschah aber, daß dieser Kaufmann mit vielen Waren über das Meer fuhr und seinen Sohn mitnahm. Und als sie schon lange Zeit dahingesegelt waren, kamen sie durch Zufall in die Nähe einer ganz öden und unbewohnten Insel. Und während sie sich diesem Eiland immer mehr näherten, flogen zwei Vögel auf den



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Mastbaum des Schiffes und buben an, mit süßer Stimme zu singen. Da sprach der Kaufherr zu seinem Sohn: »Ich habe gehört, daß es gelehrte Leute gibt, die verstehen, was die Vögel reden, wenn sie singen.« Da fragte der Sohn: »Verstehst du denn nicht, was diese Vögel jetzt sagen?« —»Ich freilich nicht«, erwiderte der Vater. — »Die Vögel berichten«, erklärte jetzt der Sohn, »ich solle in der Welt noch so erhöht werden, daß Ihr es als eine besondere Gnade und Gunst erachten werdet, mir das Wasser für die Hände zu reichen, und meine Mutter wird mir das Handtuch hinhalten.« Hierauf entgegnete der Vater voller Neid und Ingrimm: »Wahrlich, den Tag sollst du nicht erleben«, packte seinen Sohn und warf ihn hinunter ins Meer. Dann fuhr er rasch von dannen, denn das Schiff hatte günstigen Wind, und er glaubte, sein Sohn sei in den Wellen versunken. Allein wie durch göttliche Vorsehung spülte ihn die Meeresflut gesund und heil an den Strand der nahen Insel, und er irrte volle zwei Tage und zwei Nächte umher, ohne etwas zu essen oder zu trinken, denn erfand dort nichts. Endlich am dritten Tag tauchte in der Nähe ein Schiff auf, und er gab den Leuten ein Zeichen, sie möchten ihn mitnehmen. Zum Glück war der Herr des Schiffes barmherzig und reich. Also fuhr er zur Insel hin und nahm ihn in sein Fahrzeug auf. Und weil der Jüngling großen Hunger hatte, gab er ihm zuerst zu essen und zu trinken und fragte ihn dann nach seinem Schicksal, das ihn auf diese Insel geworfen habe. Der junge Mann erzählte ihm alles, wie es sich zugetragen hatte, und weil der Kaufmann von seiner Frau keine Kinder hatte, nahm er ihn als seinen Sohn an. Der Jüngling sprach: »Ihr habt mich vom Tode errettet, darum will ich immer bei Euch bleiben und Euch dienen.« Und als sie ans Land und in die Heimat des Kaufmanns gelangt waren, führte ihn dieser in sein Haus und stellte ihn seiner Gattin vor, indem er ihr die Erlebnisse des Jünglings erzählte. Und auch sie nahm ihn an Kindes Statt an. Nun trug es sich zu, daß dem König jenes Landes jedesmal, wenn er von seinem Schloß ausreiten wollte, drei Raben zu Häupten flogen und laut schrien. Und da sich dies nun seit langer Zeit immer wiederholte, fürchtete er, es sei das Zeichen eines bevorstehenden großen Unglücks, und er hielt sich für einen argen Sünder, weshalb ihm Gott der Herr diese Plage auferlegt habe. Darum ließ er überall in seinem Land ausrufen, es sollten alle weisen Männer seines Königreichs



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zu ihm an den Hof kommen, und wer ihn von dieser Pest befreien könne, dem gebe er seine Tochter zur Frau und die Hälfte seines Reiches.

Also ging unser Kaufherr, der ein wirklicher Edelmann war, mit dem Jüngling auch hin, und dieser bat ihn, er möge ihm doch die Gunst erweisen, ihn vor den König zu führen. Und der König stand auf und begab sich in den Palast, wo sich viele Leute versammelt hatten, und alsbald kamen auch die Raben wieder über sein Haupt geflogen und machten ein arges Geschrei. Auf dies hin wiederholte der König sein Versprechen mit einem Eid und verhieß demjenigen seine Tochter und das halbe Königreich, der ihn von dieser Plage erlösen könne. Es war aber keiner, der ihm irgendein Mittel zu geben wußte. Da sprach der Jüngling: »Ich will ihm antworten.« Sein Pflegevater aber schalt ihn, er solle dies nicht tun, und fügte hinzu: »Siehst du nicht, welch eine Menge Leute da ist, und keiner wagt es, ihm das Rätsel zu lösen?« Der Jüngling jedoch, der die Raben verstand, fing an zu lachen, stand auf und hub an zu reden:

»Erhabener König, wenn Euer Versprechen wahr und beständig ist und Ihr das tun wollt, was ich Euch sage, und Ihr könnt es auch tun, so werdet Ihr von dieser Plage befreit.« Darauf erneuerte der König sein Versprechen und ließ sogar seine Tochter in den Palast rufen. Da sprach der Jüngling: »Dies sind drei Raben, zwei Männchen und ein Weibchen. Das Weibchen gehörte früher dem alten Raben. Als aber die Zeit der Hungersnot kam, jagte sie dieser fort, und der junge Rabe nahm sie bei sich auf und fütterte und pflegte sie in der Zeit der Teuerung. Jetzt aber, da wieder Überfluß herrscht, verlangt der alte Rabe von dem jungen sein Weibchen zurück. Der junge jedoch will sie ihm nicht geben, denn er sagt: >Du hast sie verjagt in der Zeit der Hungersnot, also hast du dein Recht auf sie verwirkt. Ich dagegen nahm sie auf in der Zeit der Teuerung, darum will ich sie behalten, denn wer die Mühe hat, soll auch den Gewinn haben.< Da meinte der alte Rabe: >Das ist aber noch kein triftiger Grund, die Ehe aufzulösen.<Der junge hinwieder behauptete: >Im Gegenteil ist dies freilich ein rechter Grund.<Deshalb haben die drei Vögel Euch zum Richter über ihre Streitfrage eingesetzt, und sobald Ihr das Urteil gefällt habt, werden sie für immer fortgehen.«

Auf dies hin gab der König seinen Rechtsspruch und urteilte, daß



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das Weibchen dem jungen Raben gehören müsse, weil er es in den Zeiten der Teuerung und Not aufgenommen habe. Kaum hatten die Vögel dies Urteil vernommen, so flog der junge Rabe samt dem Weibchen mit Freudengeschrei nach der einen Seite von dannen, und der alte Rabe schwang sich allein sogleich nach der andern Seite auf und davon.

Darauf gab der König dem Jüngling seine Tochter zur Frau und schenkte ihm die Hälfte seines Reiches. Und der junge Mann machte seinem Pflegevater kostbare Geschenke. Nicht lange danach starb der alte König, und so wurde der junge Herr sein Nachfolger auf dem Thron.

Es kam aber über das Land, wo sein Vater und seine Mutter wohnten, eine große Teuerung und Hungersnot, weshalb die Eltern von dort auswanderten und in das Reich zogen, in dem ihr Sohn wohnte. Und als der junge König eines Tages ausritt, erblickte er seine Eltern, wie sie, Almosen bettelnd, von Tür zu Tür gingen, denn sie waren gänzlich verarmt. Er erkannte sie sogleich und sandte zwei Boten aus, die sich merken sollten, wo die beiden Alten über Nacht blieben, und sie fanden sie in einer Herberge. Da schickte der König Diener hin und ließ die Eltern und den Wirt und seine ganze Familie zu sich aufs Schloß laden. Sie erschienen im Palast und standen furchtsam vor ihm, und als der König zur Tafel ging, befahl er, man möge ihm das Wasser zum Händewaschen reichen. Und sogleich brachte ihm der Vater das Wasser, und die Mutter hielt ihm das Handtuch hin, und beide wollten ihm bereitwillig dienen. Und der König erwies ihnen große Ehre, denn er hieß seinen Vater am Tisch Platz nehmen; darauf setzte er sich hin und neben ihm die Mutter, worüber sich alle wunderten. Dann sprach er ihnen zu und ermunterte sie, tüchtig zu essen. Die Mutter jedoch geriet innerlich ganz in Verwirrung, denn sie glaubte, ihren Sohn wiederzuerkennen; aber sie getraute sich nicht, etwas zu sagen, weil ihr Mann behauptete, er sei im Meer ertrunken.

Als das Essen zu Ende war, sprach der König zu seinem Vater: »Was meint Ihr, welche Strafe verdient einer, der seinen eigenen Sohn ins Meer geworfen hat, daß dieser ertrank?« — »Den Tod verdient so einer«, erwiderte der Vater. —»So hast du dir selber das Urteil gesprochen, denn was für einen Nachteil hast du davon gehabt, daß ich zu



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Ehren kam, oder welcher Schaden ist dir daraus erwachsen?« Und dann fügte er hinzu: »Siehe, ich bin's, dein Sohn, den du ins Meer geworfen hast!«

Und damit umarmte und küßte er seine Eltern und ließ ihnen schöne und kostbare Kleider bringen. Und alsdann sprach er: »Ich verzeihe dir deine Übeltat aus kindlicher Ehrfurcht und will, daß ihr beide Geheimschreiber und Berater meines Königreichs seid.«Und so geschah es auch.


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