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Märchen aus Italien Spanien und Portugal


Illustrationen


von Sabine Wilharm

Märchen europäischer Völker


ZUR EINFÜHRUNG

Um sich mit den italienischen Märchen zurechtzufinden, sind sehr andere Voraussetzungen notwendig, als dies die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm erfordern. Der mit deutscher Märchenwelt Vertraute tut gut, sich von der aus Altvätertagen geläufigen Treuherzigkeit der Grimmschen Märchen zu lösen und sich zunächst den so köstlich verspielten, kunstsinnig abgewogenen, mehr dichterisch versponnenen und ästhetischen Märchenträumen des Clemens Brentano zuzuwenden. Brentano selber war weniger Gelehrter und Forscher als die beiden Grimms. Das italienische Blut, das er in den Adern und im Herzen hatte, hat ihn bereits früh sich den Grimms entfremden lassen. Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Grimmschen Sammlung rümpfte der verspielte Satiriker Brentano in einem Brief, den er dem ihm nahe befreundeten Achim von Arnim schrieb, die Nase über das, wie er es zu nennen liebte, »sehr Lumpichte«der sorglichen und gewissenhaften Treue, mit welcher Jakob und Wilhelm Grimm die in den deutschen Landen unmittelbar vom Volk erlauschten Märchen nacherzählten upd aufschrieben. Brentanos strömend überquellende Phantasie stand dem italienischen Märchenerzähler Giambattista Basile sehr viel näher. Von dessen Märchen hätte er nur zu gern eine stattliche Anzahl zu eigenen Kunstmärchen umgeformt. Und eben aus diesem Grunde haben wir auch in unsere Auswahl neben den Märchen vom »Wilden Mann« und von »Petrosinella« und »Nennillo und Nennella«einige Stücke dieses Basile (1575-1632) aus Quellen des 13. bis 16. Jahrhunderts und solche von Giovanni Francesco Straparola (1494-1550) aufgenommen. Wir geben im abschließenden, neueren Teil bevorzugt dem Dichter Calvino das



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Wort, den die internationale Märchenkunde heute mit Vorliebe als den verspäteten italienischen Grimm zu rühmen weiß.

Basiles »Pentamerone«, wohl die erste umfassende europäische Märchensammlung, läßt sich von hoher Kunstdichtung nicht unterscheiden. Sie lehnt sich unmittelbar an Boccaccios höchst gepflegte Künste an. Boccaccios Novellistik läßt sich auch vom italienischen Märchen nicht völlig ablösen, wenn auch das reine Märchen dessen vordergründiger Erotik keinen Zutritt gewährt. Doch kennzeichnet es das italienische Märchen, daß seine bevorzugte Heimat, die Toscana, von jeher eine demokratische Tradition besessen hat und zu keiner Zeit einem König gehorchte. Darum sind dortzulande auch untertänige Ehrfurchten und ein demutsvoller Respekt vor höchsten Herrschaften und huldvollen Majestäten wenig beliebt. Auch wohltätige Feen machen auf den Märchenhelden kaum tiefwirkenden Eindruck. Als Soldatino, der sich von seiner Mutter, einer armen Frau aus dem Volke, trennt und der Königstochter Rätsel aufzugeben sich vornimmt, und zuletzt, nachdem in erregender Handlung der König selber zum Narren angeführt worden ist und den Soldatino fortjagen möchte, erstickt die gesamte Zuhörerschaft in frohem Gelächter: Es stehen keine Wachen mehr vor der Tür, alle Lichter sind gelöscht, und Soldatino liegt mit der Königstochter in zärtlicher Umarmung. Sie sagte einfach: Das ist mein Mann; und Soldatino spricht genauso selbstverständlich: Das ist meine Frau! Und sie lebten glücklich und zufrieden. . . Das Burleske mischt sich höchst geschmeidig mit dem Naiven und zugleich Maliziösen glücklich im italienischen Märchen wie auch sonst im aufgeweckt Lebendigen dieser Literatur und des Volkscharakters der Italiener überhaupt. Auch zur Karikatur wird dort eine hervorragende Neigung entfaltet. Beim Anblicke von Feen und Bekundungen von deren Wohltätigkeit kann man da Ausrufe hören wie: »Ach du mein Gott, da kommen drei Weiber an! Die werden nun anfangen zu schwätzen und kein Ende finden; am besten ist's, wenn ich mich schlafend stelle!« Feen des italienischen Märchens können leicht auch in Possen auftreten; und was heute gern mit dem Wort »Surrealismus«bezeichnet wird, feiert häufig im neueren italienischen Märchen geradezu Triumphe. In der »Sonnenprinzessin« tritt ein Mädchen ohne Kopf zur Tür herein und setzt ihn sich gleich danach wieder aufeinfach, -



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weil sie ihn vergessen hat, als sie mit Kämmen beschäftigt gewesen ist. Eine schneidet sich kurzerhand selber die Brüste ab, zieht aus der Wunde eine Spitze aus Gold hervor und setzt sich, als wäre gar nichts dabei, unversehens die Brust wieder an. Das ist etwas völlig anderes als die dem deutschen Volksmärchen vertraute Phantasie, die sich um Realität und kausale Zusammenhänge nur wenig kümmert, es ist ein unverkennbarer Einbruch des Absurden, des Grotesken und hintersinnig Verspielten. Doch hat sich im Volksbewußtsein besonders der zu Italien gehörenden Inseln von alters her ein Erinnern an griechische und altrömische Märchenstoffe erhalten, und es lassen sich verschüttete Überbleibsel homerischer Mythen und auch Anklänge an ovidische Metamorphosen nachweisen - so in der »Sirene des Meeres« und in den uralten Namen der felsigen Kyklopeninseln unterhalb des Ätnas. Etliche Märchen knüpfen an das Epos von Ariost »Der rasende Roland« und an Torquato Tassos »Befreites Jerusalem« an. Mancherlei übernatürliche und auch romantische Züge lassen sich auf die »Legenda aurea« und die »Goldene Legende« des Jacobus de Voragine um die Mitte des 13. Jahrhunderts zurückführen.

Seit je hat das Märchen gerade nach Italien fremdländisches Gut aus dem Orient getragen. Die Araber und die Normannen haben viele ihrer Erzählungen nach Sizilien gebracht, und über Kreuzzüge und Pilgerfahrten sind auch andere Märchen eingedrungen. Der 1923 geborene Calvino hat italienische Märchen nach der Volksüberlieferung der letzten hundert Jahre gesammelt und umgeschrieben und u.a. in seinen vergleichenden folkloristischen Forschungen auch an bemerkenswerte sowjetische Forschungen angeknüpft. Horst Rüdiger, einer der lebendigsten neueren deutschen Romanisten, hat Calvinos Buch über das italienische Märchen als ein höchst fruchtbares Lesewerk weit über das spezifisch italienische Märchen hinaus gelobt.

Die Märchen von der Iberischen Halbinsel - aus Spanien und Portugal-erinnern an volkstümliche Legenden, Romanzen und Epen aus dem Mittelalter. Man wird an Cervantes und dessen Don Quijote erinnert, natürlich auch an Volkslieder und Tänze. Gerade im Klima südlich der Pyrenäen hat sich frühzeitig schon ein erzählfreudiges



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Beieinander der Menschen entwickelt, das jedem, der einmal in einem spanischen Café oder im Patio eines dortigen Bauernhauses weilen durfte, zur bleibenden Erinnerung geworden ist. Und eben diese gesegnete Landschaft, wo sich arabische Überlieferungen mit christlichen mischten, war schon im zwölften Jahrhundert ein vortrefflicher Nährboden für Märchen. König Alfons der Weise veranlaßte die Übertragung des berühmten orientalischen Geschichtenbuches »Calila und Dimna«. Dazu kam das volkstümliche Werk »Von Weiberlist und Weibertücke«, kamen im 14. Jahrhundert der von Eichendorff übersetzte »Graf Lucanor«und vielerlei katalanische Geschichten und Fabeln dazu. —Die eigentliche Wiederentdeckung der Märchen brachte auch in Spanien und Portugal die Romantik. Später hat das 19. Jahrhundert auch Fernan Caballeros »Andalusische Volksmärchen und Volkslieder« in einer 1862 erschienenen deutschen Übertragung zu uns gebracht. Es folgen bald darauf der Mallorkine Antoni Maria Alcover mit einer zwölf Bände füllenden Sammlung Mallorkiner Märchen, und seit dem Jahre i 88o wurden spanische Märchen in repräsentativen Sammlungen in der Originalsprache und in französischen und englischen Übertragungen weit verbreitet.

Daß nach Kriegsende schließlich auch die Märchenwelt des überseeischen Spanien beachtliche Erweiterungen lieferte, überschreitet die Aufgabe unserer Sammlung, die sich bewußt auf das alte Europa beschränkt.

K. R.


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