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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Der Riese Faircheallach und Fionn MacCumhaill

Eines Tages waren Fionn und seine Recken auf Jagd und Hatz. Damit verstrich der ganze Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und als sie nach Hause zurückkehren wollten und Oisín zurückblickte, sah er einen Riesen namens Faircheallach auf sie zukommen. Die Schar bewegte sich schnell voran, aber wie sie auch eilten, sie konnten den Riesen nicht abschütteln. Er hielt immer mit ihnen Schritt. Waren sie oben auf einem Berge, war er unten im Tale, und waren sie im Tal, war er oben auf dem Berg. So blieb er hinter ihnen, bis sie an des Königs Haus kamen. Dort setzten sie sich zum Essen nieder, und es wurde ihnen gebührend aufgetischt, und Fionn bewirtete sie und gab jedem Speise und Fleisch, solange sie aßen.



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Und der Riese kam hinein und setzte sich hinten in eine Ecke. Fionn erblickte ihn und hieß ihn an der Tafel niedersitzen und mitessen, bis alle satt waren.

Am nächsten Morgen gingen sie wieder auf die Jagd und schlugen denselben Weg ein, und der Riese war wieder hinter ihnen wie am Tage vorher, und sie vermochten ihn abermals nicht abzuschütteln. Als sie am Abend nach Hause zurückkehrten, hielt er mit ihnen Schritt und folgte ihnen. So blieb er um sie ein Jahr und einen Tag lang.

»Fionn MacCumhaill«, sagte er, »ich möchte dich und die Fenier von Irland zum Essen einladen.«

»Ach«, sprach Fionn, »wo willst du wohl für uns alle Platz und Speise finden?«

»Oh«, sprach der Riese, »es ist nicht einer unter den siebenmal fünfhundert deiner Mannen, vor den ich nicht ein Messer, eine Gabel und einen Teller setzen werde.«

Fionn sagte darauf nichts weiter, als daß sie kommen würden. Sie machten sich auf den Weg, und der Riese lief vor ihnen her und zeigte ihnen den Weg. Sie folgten ihm überallhin nach, und er lief gerade so weit vor ihnen voraus, wie er an den Tagen des vergangenen Jahres hinter ihnen zurückgeblieben war; und sie mußten sich alle Mühe geben, mit ihm Schritt zu halten. Er blieb stets in ihrer Sichtweite, bis er endlich in eine Höhle hineinging, und sie folgten ihm und gingen hinter ihm her hinein. Als sie an die Tür kamen, stand dort eine junge Frau. Sie hatte ihren Rücken an den Türpfosten gelehnt und ihre Arme über der Brust gekreuzt. Die waren vom Ellenbogen an entblößt. Sie hatte ein Bein über das andere gelegt und hatte keine Schuhe an. Sie war barfüßig.. Schönes goldenes Haar wallte ihr über den Rücken bis zu den Hüften, und ihre Augen waren so blau wie der Himmel. Ihr Hals war so weiß, wie sie ihn nie zuvor bei einer Frau gesehen hatten. Ihre Waden waren schön gestaltet und wohl anzusehen und ihre Fußgelenke schlank und glatt und ihre Füße so hübsch und fein, wie sie es nie zuvor gesehen hatten. Es war keiner unter den Helden, der nicht auf der Stelle in Liebe und Zärtlichkeit zu ihr entbrannte.



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Sie gingen einer nach dem anderen dann an ihr vorbei hinein. Ging ein alter Mann hinein, so sagte er: »Wie schade, daß du nicht mein bist!«

»Als ich bei dir war«, sprach sie, »hast du mich nicht gehalten.« Ging ein junger Mann an ihr vorbei, so sprach er: »Schade, daß du nicht mein bist!«

»Ich bin bei dir«, sprach sie, »und halte du mich!«

So war stets ihre Rede, bis der letzte hineingegangen war. Drinnen war ein schöner Palast. Und sie sahen niemanden außer einem alten Mann, der auf einem Holzklotz in der Ecke saß, den Kopf auf gestützt, seine beiden Hände unter dem Kinn, und eine Hündin, die neben dem Feuer ausgestreckt dalag. Als Fionn und die Fenier von Irland eintraten, rührte sich keiner von beiden. Und keiner hob seinen Kopf. Da kam der Riese auch hinein und stellte Speise und Trank auf die Tische für Fionn und die Fenier. Und es war nicht einer unter den Feniern, vor den er nicht Messer, Gabel und Teller stellte. Als der Riese das getan hatte, ging er zur Tür hinaus und sprach mit der jungen Frau. Sobald er hinausgegangen war, erhob sich die Hündin, die neben dem Feuer ausgestreckt dagelegen hatte, und sprang auf den Tisch, der ihr am nächsten war, und lief den Tisch entlang an ihnen vorbei. Und es war kein Bissen Speise und kein Tropfen, den sie nicht von allen ihren Tischen verschlungen hätte, und als sie alles, was auf den Tischen war, verzehrt hatte, sprang sie wieder hinunter und streckte sich auf denselben Platz neben dem Feuer neben dem alten Mann wieder hin. Und wenn man auf sie blickte, hätte niemand vermutet, daß sie auch nur das Geringste gefressen hätte. Der Riese kam wieder herein und sah auf den Tischen keinen Bissen und keinen Tropfen mehr.

»Fionn MacCumhaill, habt ihr die Speise, die ich euch aufgetragen habe, schon verzehrt?«

Fionn gab ihm keine Antwort darauf, denn es war ihm unangenehm, darauf zu antworten, weil sie der Hündin die Speise überlassen hatten.

»Ich möchte wetten, daß der Spaniel sie euch aufgefressen hat.«

»Ja, in der Tat«, sagte Fionn.



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Wieder füllte er die Tische mit Speise und Trank und ging hinaus, um mit der jungen Frau zu sprechen. Alsbald sprang die Hündin wieder auf den Tisch, lief an ihnen vorbei, den Tisch die eine Seite hinunter, die andere Seite wieder herauf, und es blieb kein Bissen und kein Tropfen auf den Tischen, den sie nicht verschlungen hätte, und hinunter wieder ans Feuer zum alten Mann, und keiner hätte vermutet, daß sie auch nur ein Stückchen im Leib hätte. Der Riese kam zum zweiten Male herein, und auf den Tischen vor den Feniern war wieder nichts mehr. Er fragte Fionn abermals, ob sie die Speise verzehrt hätten oder ob die Hündin sie wieder gefressen hätte. Fionn sagte, nicht sie hätten sie verzehrt, sondern die Hündin hätte sie wieder gefressen. Da sprach der Riese zu dem alten Mann: »Wäre es nicht recht, daß du dieser deiner gefräßigen Hündin Einhalt gebietest?«

Der alte Mann hob den Kopf und blickte mit beiden Augen auf den Spaniel, so daß dieser auf der Stelle tot war.

Da wurden die Tische zum dritten Male gefüllt, und Fionn und seine Leute aßen sich satt, so wie sie früher nach Herzenslust gegessen hatten.

»So, Fionn MacCumhaill«, sprach Faircheallach, »hast du jetzt, wo du fortgehst, irgendeine Frage, die du, als du kamst, nicht gestellt hättest?«

Fionn sagte: »Ja«und fragte ihn: »Wer war jene junge Frau, die an der Tür stand, als wir hineingingen, und die dem alten Mann, der zu ihr sagte: >Schade, daß du nicht mein bist!< zur Antwort gab: >Als ich bei dir war, hast du mich nicht gehalten?<Sag mir doch, wer war das?«

»Das war die Jugend«, sprach der Riese, »und sie hat dir die Wahrheit gesagt; denn als sie bei dir war«, sagte er, »da hast du sie von dir gelassen, und jetzt bist du alt und verbraucht und müde. Und zu dem jungen Mann sagte sie: >Ich bin jetzt bei dir und halte du mich!< Das war die Jugend, und hat sie nicht die Wahrheit gesprochen?«

»Sag mir jetzt«, sprach Fionn, »wer war der weißhaarige alte Mann, der in der Ecke saß und der, als du ihm sagtest, er solle der Hündin



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Einhalt gebieten, sie mit beiden Augen anblickte, so daß sie auf der Stelle tot war?«

»Das war der Tod«, sprach der Riese.

»Und jetzt sag mir«, sprach Fionn, »was für eine Hündin das war, die zweimal Speise und Trank, die auf den Tischen waren, aufgefressen hat, und niemand hätte vermutet, daß sie auch nur einen Bissen verzehrt hätte?«

»Das war die Hungersnot«, sprach der Riese.


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