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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Der hinterlistige Adler

Es war einmal ein König in Irland, der hatte einen einzigen Sohn. Als die Knechte eines Morgens aufgestanden waren, entdeckten sie, daß die Scheune voller verschiedenartiger Vögel war. Sie berichteten dies dem König. Er befahl ihnen, die Vögel ungestört zu lassen. Er wollte selbst aufstehen und hingehen. Sie gehorchten.

Der Königssohn schlief noch, aber das Gespräch weckte ihn. Er hörte die Unterhaltung mit an, stand schneller auf als sein Vater und kleidete sich an. Er blickte durch das Fenster und sah alle Vögel beisammen. Er suchte seine Büchse hervor, gab einen Schuß ab und verwundete einen Adler am Fuß.

Als der Vater aufgestanden war, sah er den lahmen Adler. Er fragte ihn, was ihm zugestoßen sei und ob es möglich sei, ihn zu heilen. »Dein Sohn hat mich verwundet«, antwortete er, »und mich werden nur sieben fette Kühe in sieben Jahren heilen.«

»Das ist nichts Besonderes«, sprach der König, »du sollst sie haben, solange du es wünschest.«

Darauf befahl der Adler jedem, der am Hofe war, er solle für eine Weile hinausgehen, ausgenommen der Königssohn.

Sie taten es, und als alle draußen waren, befahl der Adler dem Königssohn, auf seinen Rücken zu steigen. Er tat es und war nicht imstande, wieder herunterzusteigen; denn indem brachte ihn der Adler nach dem Osten. Er war nämlich der Sohn einer alten Hexe.

Als er ans Ziel seiner Reise gelangt war, erzählte er seiner Mutter, daß sein Fuß verletzt wäre und daß er den Schurken bei sich hätte, der ihn verwundet hatte.

Inzwischen wartete der König mit seinen Hofleuten darauf, wieder hereingerufen zu werden. Als es ihnen zu lange dauerte, draußen in der Kälte zu stehen, gingen sie hinein. Aber -wohl oder übel -den Königssohn konnten sie nicht mehr finden.

Die Hexe befahl ihrer Dienerin, den Königssohn in sein Schlafgemach zu führen und ihm Bier zu trinken zu geben.

Die Dienerin führte ihn an sein Nachtlager. Es war aber nicht das Bett, das ihr die Alte angewiesen hatte, sondern sie machte ihm ihr



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eigenes Lager zurecht. Dabei erzählte sie ihm, die Alte würde ihm drei schwere Arbeiten auferlegen, die auszuführen Menschenkraft nicht ausreiche. Aber sie wolle ihm beistehen und helfen, er solle darum den Kopf nicht hängen lassen und verzweifeln.

Als er am nächsten Morgen aufgestanden war, befahl ihm die Alte, er sollte den See, der unterhalb des Hofes lag, trockenlegen und dann den Goldring beschaffen, den dort ihre Urgroßmutter vor sieben Jahren verloren hatte. Diese Arbeit sollte er vollbringen, noch ehe die Abendsonne ins Meer tauchte. Dann gab sie ihm ein Gefäß zum Ausschöpfen. Er ging fort und kam an den See, den er trockenlegen sollte. Aber seine Anstrengung war vergeblich. Mit jedem Maß, das er ausschöpfte, füllte sich der See wieder um sieben Maß. Nach einiger Zeit setzte er sich nieder, wo er war, und wartete, bis das Mädchen kam und ihm etwas zu essen brachte. Noch ehe er sein Mahl beendet hatte, hatte sie den See trockengelegt und den Ring gefunden.

»Hier«, sagte sie, »ist der Ring, und den behalte! Vielleicht wirst du ihn in einiger Zeit brauchen.«

Das Mädchen ging darauf fort und ließ ihn, wie er war. Am späten Abend kehrte er heim und erzählte der Alten, daß er den Ring bekommen habe. Sie indessen verlangte nicht nach dem Ringe, und das erfreute ihn noch mehr.

Als er schlafen ging, trug die Alte dem Mädchen auf, ihm einen Trunk Bier zu reichen, wie sie es die Nacht vorher getan hatte. Aber das kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie bereitete ihm ein Abendessen aus Leckerbissen, und er suchte sein Bett auf, nachdem er es verzehrt hatte.

Am nächsten Tage reichte ihm die Alte eine vierzinkige Forke und trug ihm auf, den Dung aus dem Stalle zu räumen, in dem seit sieben Jahren siebenhundert Pferde standen. Und dann sollte er ihr die Nadel suchen, die dort ihre Urgroßmutter verloren hatte.

Er machte sich auf den Weg und begann den Dung auszuräumen. Er war schnell und tüchtig. Aber die Arbeit war ohne Erfolg, bis das Mädchen mit dem Essen kam und den Stall selbst reinigte, währenddem er aß. Sie fand auch die Nadel, die sieben Jahre lang verloren



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gewesen war. Sie riet ihm, auch diese zu behalten und nicht der Alten zu geben. Darauf ging sie heim und ließ sich nichts anmerken. Am späten Abend kam der Sohn des Königs von Irland herein und teilte der Alten mit, daß er die Nadel hätte. Sie saß hingehockt am Boden beim Feuer und gab keinen Laut von sich. Dem Königssohn konnte nichts lieber sein.

Als es Schlafenszeit war für alle, rief die Alte nach dem Mädchen und befahl ihr streng, dem irischen Königssohn das Bier zu geben. Er solle dann sogleich schlafen gehen.

Das Mädchen hatte wieder ein feines Abendbrot für ihn bereitet. Aber es kam kein Schluck oder Tropfen Bier in seinen Mund. Sie genoß auch nur wenig. Sie gab ihm ihr eigenes Bett und schlief selbst auf einem schnell hergerichteten Lager.

Am Morgen des dritten Tages gab die Alte dem irischen Königssohn eine Axt, führte ihn an die Tür und zeigte ihm einen hohen, mächtigen Baum. Sie trug ihm auf, den Baum zu fällen. In seinen Wipfeln sei ein Nest und darin eine Ente, die ein einziges Ei ausbrüte. Dieses sollte er ihr bis zum Abend verschaffen.

Er machte sich auf, kam an den Baum, sah ihn prüfend von oben bis unten an, holte kräftig, geschickt und hoch mit der Axt aus und setzte sie bis zum Axtrücken tief in den Stamm des Baumes. Als er die Axt herauszog, schoß ein so starker Blutstrahl hervor, daß ein ganzer See von Blut um den Baum stand und der Königssohn entweichen mußte. Der See wuchs mehr und mehr in die Breite, bis das Mädchen herbeikam. Sie brachte ihm zu essen und fällte selbst den Baum, während er sein Mahl verzehrte. Da flog die Ente auf und davon, das Ei fiel in den Blutsee, und dem irischen Königssohn sank ebenfalls das Herz verzweifelt tief. Er meinte, das Werk sei nun verloren. Aber dem war nicht so. Das Mädchen verwandelte sich in eine Otter und holte im Handumdrehen das Ei aus der Tiefe des Sees. Dann sagte sie ihm, er sollte es an sich nehmen und zusammen mit Ring und Nadel behalten. Wenn sie ihm abgefordert würden, sollte er sie der Alten nicht aushändigen, und wenn es auf Tod und Leben ginge.

Das Mädchen ging darauf fort und ließ ihn, wo er war. Am Abend



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kam der irische Königssohn zur Alten und sagte, er hätte das Ei. Jedoch sie tat, als hörte sie nichts. Er sagte auch kein Wort weiter, sondern ließ sie allein, wie sie dasaß und sann und brütete. Er kümmerte sich nicht um sie und fragte nicht nach ihr. Sie fiel schließlich auf einen Haufen Knochen und ins Feuer. Wenig hätte gefehlt, daß sie und ihre Pläne zu Fett und Asche wurden, was für Pläne es immer gewesen sein mochten. Schön waren sie sicher nicht. Als es Schlafenszeit war, wurde dem Mädchen befohlen, dem irischen Königssohn seinen Trunk Bier zu geben und sofort schlafen zu gehen. Aber es ging keins von ihnen zu Bett, sondern sie blieben auf, kochten und buken, um für die bevorstehende Reise mit Nahrung versorgt zu sein. Denn in jener Nacht wollten sie entfliehen.

Dreimal fragte die Alte an, ob sie schon schlafen gegangen wären. Auf ihre erste Frage wurde ihr geantwortet: »Noch nicht!« — Auf ihre zweite Frage: Sie wären gerade dabei. — Bei der dritten Frage kam es nicht zur Antwort; denn das Mädchen und der Prinz waren schon geflohen in Gestalt zweier Habichte.

Sie reisten und reisten immerfort, bis das Mädchen zum Königssohn sagte, er sollte hinter sich blicken, ob sie verfolgt würden. Er tat es und entdeckte weder einen dunklen Fleck noch einen Punkt.

»Sieh noch einmal!«sagte sie nach einer beträchtlichen Weile. Er sah wieder zurück und sagte ihr, er sähe deutlich, aber noch in weiter Entfernung von ihnen, zwei Flecke.

»Das ist die Alte und ihr Sohn«, sprach das Mädchen. »Wenn sie sich nähern, wirf ihnen den Ring zu. Solange wie sie danach suchen, so weit werden wir einen Vorsprung vor ihnen haben.« Er tat, wie sie ihn geheißen hatte.

Nach einer geraumen Zeit sagte sie wieder zu dem Königssohn, er solle sich umsehen. Er tat es und sah nichts.

»Sieh noch einmal!« sagte sie, und er tat es.

»Ich sehe zwei Punkte, die sich uns sehr schnell nähern.«

»Das ist die Alte und ihr Sohn!«sprach das Mädchen. »Wirf ihnen jetzt die Nadel zu!«

Er gehorchte, und während die beiden andern sich bückten und suchten, bekamen sie wieder einen Vorsprung.



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»Sieh dich noch einmal um!« sagte das Mädchen zum Königssohn. Er tat es und sah nichts.

»Sieh noch einmal«, sagte sie nach kurzer Zeit.

»Ich sehe nur einen dunklen Punkt«, sprach er.

»Das ist die Alte allein«, sagte das Mädchen. »ihr Sohn ist jetzt müde. Nun schnell! Das Ei heraus! Und wenn du je einen guten Wurf tun willst, so ist es jetzt an der Zeit. Wenn du kannst, triff sie auf die Wunde, die sie an der Brust hat. Wenn du sie nicht triffst, sind wir zwei am Tode!«

Als sie sich genähert hatte, warf er das Ei auf sie zu und traf sie an der Brust mit dem dünnen Ende des Eies geradezu in die Wunde hinein und so, daß auch das dicke Ende darin verschwand.

Die Alte schrie vor Qual. Aus der Wunde floß Eiter und strömte auf die Erde. Sie selbst fiel hin und gab das Leben auf.

Hierauf reiste das Mädchen mit dem irischen Königssohn weiter nach Westen. Sie gelangten an den Palast des Königs von Irland. Das Mädchen befahl dem Prinzen hineinzugehen.

»Ja«, sagte er, »wenn du mit mir gehst.«

»Nicht jetzt«, sagte sie. »Aber gib mir das Versprechen, daß du dem schwarzen Hunde deines Vaters nicht erlaubst, dich zu lecken.« Er ging darauf mit großem Widerstreben hinein. Er hatte geglaubt, sie würde bei ihm bleiben und seine Frau werden.

Man kann sich denken, daß er nun zwanzigfach und mehr willkommen geheißen wurde. Einige Zeit nach seiner Heimkehr sprang der schwarze Hund an ihm hoch, während er am Feuer saß, und leckte ihm das Gesicht. Von da ab entschwand das Mädchen aus seinem Gedächtnis.

Sie aber setzte ihren Weg fort und wanderte immer weiter, bis der Abend kam und der Tauf fiel. Sie stieg auf einen Baum und hatte Lust, dort die Nacht über zu verbleiben.

Ein Fluß befand sich dicht am Baum und in einiger Entfernung davon eine Schmiedewerkstatt.

Der Schmied hatte Durst. Er sagte zu seiner Tochter, sie sollte ihm einen Schluck Wasser holen.

Sie nahm den Krug und ging an den Rand des Gewässers. Dort erblickte



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sie das über alle Maßen schöne Spiegelbild. Sie wähnte, es sei ihr eigenes Bild, und warf den Krug von sich. Sie sagte, eine so hübsche Frau, wie sie selber sei, dürfe nicht für einen häßlichen Schmied Wasser schöpfen.

Dieser schickte eine zweite Tochter hinaus, und die Geschichte lief ebenso ab.

Das dritte Mal schickte er sein Weib. Doch dies war noch siebenmal schlimmer als ihre Töchter.

Schließlich plagte den Schmied der Durst zu sehr. Er machte sich selbst auf den Weg. Als er an den Rand des Baches kam, erblickte er das Spiegelbild der Frau. Er sah zum Baume auf. Die Frau oben in den Wipfeln lachte leise auf.

»Du machst dich wohl über uns alle ein wenig lustig?« fragte der Schmied.

»Ja, gewiß«, sagte sie.

Sie stieg von oben herunter und ging zum Schmied. Eine Zeitlang blieb sie bei ihnen, und sie war etwas wert; denn sie war die beste und brauchbarste von den Frauen bei aller Arbeit, ob fein oder grob.

Eines Nachts nun machte sie sich auf zum Königshof. Keiner kannte sie. Auf der Tafel des Königs lag ein goldener Hahn und eine silberne Henne. Sie warf ihnen ein Körnchen Hafer zu. Der Hahn stürzte sich darauf und verschluckte es sofort.

»Du hast wenig Recht dazu«, sagte das Mädchen; »erinnerst du dich der Zeit, da ich dir das Leben rettete?«

Der Königssohn von Irland war anwesend und hörte zu. Indem kam ihm die Erinnerung an seine Abenteuerfahrt im Osten.

Er trat auf sie zu und blickte sie prüfend an. Dann ergriff und umarmte er sie, und beide heirateten.

Ich weiß nicht, wie es ihnen jetzt geht, und es ist mir auch ganz gleichgültig.


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