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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Der Berg der lichten Frauen

Vor langer Zeit, als in Irland Fionn mit der Fenierschar herrschte, ereignete sich etwas im Zusammenhange mit dem Hügel, welcher der Frauenhügel heißt. In diesen wurde ein Teil der jungen Frauen verzaubert, die hübschesten, die es zu jener Zeit in Irland gab. Dort drinnen im Berge war ihnen ein herrlicher Feenpalast eingerichtet, und sie selbst wurden hineingebracht und wohnten dort. Sie waren alle gleich, und alle waren Feen. Nur wenn sie sich zu zeigen wünschten, waren sie sichtbar. Seit jener Zeit lebten sie immer in dem Hügel. Sie wurden nicht alt und gebrechlich im Laufe der Zeit. Ab und zu ließen sie sich sehen, und wer je ein Auge auf sie warf, vergaß zeitlebens ihren Anblick nicht. Da sie nun manchmal dort erschienen, ward der Hügel »Der Berg der lichten Frauen« genannt. Vordem hieß er Sliabh-Feimhin 1 .

Einige von den lieblichen Jungfrauen pflegten auch zuweilen zu erscheinen, um Gutes zu tun. Doch nicht immer waren sie segensreich. Sie richteten auch manchmal Unheil an.

Wenn in der Gegend dort eine junge hübsche Maid aufwuchs, geschah es manchmal, daß sich eine der Feenfrauen dieser zeigte, um sie zu entführen. Wenn das Mädchen dann in den Feenpalast gelangt war, pflegten sie sie als Gefangene zu behalten und statt ihrer ein unnützes verkümmertes Wesen zu ihrer Familie zurückzuschicken, das eine Zeitlang elend und verkümmert dort lebte und schließlich starb.

Nun geschah es vor langer Zeit, daß dies auch an einem Orte nicht weit von dem Feenhügel passierte. Ein dort wohnender Edelmann hatte eine Tochter. Das Kind war zwölf Jahre alt geworden und war so schön, so lieblich und reizvoll, daß es jedem, der es ansah, schwerfiel, sein Auge von ihr zu wenden. Ein jeglicher nun, der ein Wort zum Lobe ihrer Schönheit sagte, pflegte sie anzuspucken, um sie dadurch den Feen zu verleiden und sie vor der Gefahr zu schützen, von ihnen verschleppt zu werden. Das Kind selbst war heftig



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erbost, wenn es bespuckt wurde. Und kein Wunder! War doch mancher von den Leuten nicht übermäßig sauber.

Eines Tages nun lobte sie ein altes Weib und vergaß, sie anzuspukken. An demselben Tage erblickte das Mädchen eine der lichten Frauen vom Berge und erkrankte. Nach Verlauf von einigen Tagen war es jedem klar, daß nicht sie selbst es war, die da im Bette lag, sondern daß man sie entführt hatte und an seiner Stelle ein unnützes Wesen ohne Wert lag. Nach einer gewissen Zeit starb dieser Wechselbalg. Jedermann war bekümmert und traurig. Aber der Kummer und die Trauer der andern war nichts im Vergleich zu dem Jammer des Vaters und der Mutter des Kindes. Sie waren überzeugt, daß ihre eigene Tochter, das schöne Mädchen, an dem ihr Herz hing, nun gestorben war. Oh, die weisen, klugen Leute dort, die wußten es wohl: Der Wechselbalg war gestorben, und das Mädchen war entführt worden!

Nun wohnte damals am südlichen Bergabhang eine Frau. Sie war Spinnerin, und rings vom Lande wurde ihr die Wolle gebracht. Diese hatte sie zu kämmen und zu reinigen, zu kratzen und zu spinnen. Hatte sie dann den Faden aufgewickelt zu einem hübschen, runden, festen Ballen, so trug sie ihn den Leuten, denen er gehörte, zum Gebrauche hin. Er wurde nun zum Weber gebracht, der ihn zum Tuchweben verwandte. Darauf machte der Schneider daraus einen Männerrock für den Hausherrn oder einen Mantel, oder die Hausfrau nähte sich selbst einen Kittel daraus. Jeder, der den neuen Rock am Herrn des Hauses oder den Mantel an der Frau erblickte, pflegte dann zu sagen: »Möge er gut halten und lange getragen werden!«

Zuweilen hatte die Spinnfrau mehr Wolle, als sie im Laufe des Tages kämmen, kratzen und spinnen konnte. Dann geschah es, daß die Leute sie fragten, warum sich die Arbeit so verzögerte. In diesem Falle verbrachte die Spinnfrau wohl einen Teil der Nacht bei der Arbeit und versuchte, sie bei einem Nachtlicht fertigzubekommen, um so das Versäumte einzuholen. Oft, wenn sie so viel zu tun hatte und sehr gedrängt war, blieb sie einen großen Teil der Nacht auf, um zu arbeiten.



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Einmal, als sie ebenfalls wieder während der Nacht arbeitete und alle Welt sonst schlief, hörte sie ein Geräusch, als ob sich Leute ihrer Türe näherten. Sie öffnete, und herein traten sieben Frauen. Alle zusammen trugen irgendeine Last in den Händen. Als die Spinnerin genau auf sie und auf ihre Last blickte, bemerkte sie, daß sie eine Frau schleppten, und diese war entweder tot oder besinnungslos. Die fremden Frauen trugen sie ins Zimmer und legten sie auf die Erde hin.

Die Spinnerin war von ihrem Platz aufgesprungen und hatte die Arbeit hingeworfen.

»Ist sie tot?«fragte sie.

»Nein«, antwortete eine von ihnen. »Sie hatte nur einen Schwächeanfall.

Die Spinnfrau ging eilig, um ein Heilmittel zu holen, das sie im Hause hatte. Die Ohnmächtige wurde aufgehoben und ans Feuer gelegt. Und als die Spinnerin das Heilmittel an ihr versuchte, dauerte es nicht lange, so kam sie wieder zu sich. Sie erholte sich so weit, daß sie sich auf stützte. Sie trank einen Schluck, den ihr die Spinnfrau reichte, und aß auch etwas von der gebotenen Nahrung. Doch kein Wort kam aus ihrem Munde. Die Spinnerin redete zwar mehrfach auf sie ein, während sie aß. Aber sie erhielt keine Antwort. Als sie vollständig zu sich gekommen war und wieder gut und ruhig atmete, sprach die Spinnerin zu ihr:

»Strecke dich ein Weilchen hier aus aufs Bett. Dann werden dir die Kräfte wiederkehren.«

Sie tat es.

Da sprach eine der sieben Frauen zu der Spinnerin:

»Frau mit dem Wollzeug!
Wenn du die Wolle bekommst,
Wir kämmen, kratzen.
Wenn wir dir helfen, ist's leichter.«

Bei diesen Worten ergriff sie einen Teil vom Wollhaufen und machte sich sich daran, Wolle zu kämmen und zu kratzen.



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Indem sie die Worte sagte: »Wenn wir dir helfen, ist's leichter«, blickte sie ein anderes Weib aus der Siebenschar an. Dieses sagte dann dieselben Worte her:

»Frau mit dem Wollzeug!
Wenn du die Wolle bekommst,
Wir kämmen, kratzen.
Wenn wir dir helfen, ist's leichter.«

Diese Frau blickte ebenfalls eine dritte an, und diese wiederholte dieselbe Rede:

»Frau mit dem Wollzeug!
Wenn du die Wolle bekommst,
Wir kämmen, kratzen.
Wenn wir dir helfen, ist's leichter.«

Sie blickte die vierte an, und diese sprach dasselbe. So setzten sie es fort, bis alle sieben in bestem Zuge waren, zwei von ihnen kämmten, zwei kratzten, eine spann, und zwei wickelten auf. So arbeiteten sie flugs fort.

Die Spinnfrau beobachtete sie und sah die schöne Arbeit, die sie zustande brachten. Sie war erfreut. Sie sah, wie der große Haufe Arbeit, den sie vor sich gehabt hatte, wacker dahinschwand, wie die hübschen Knäuel sich mehrten, und war hoch beglückt. Auch erkannte sie, daß die hier gelieferte Arbeit etwas Besseres war, als sie selbst zustande bringen konnte. In ihre Freude mischte sich Verwunderung: Das Kämmen ging besser - gerade wie wenn es die weichste Wolle wäre. Das Kratzen ging besser -gerade wie wenn es die glatteste Wolle wäre. Das Spinnen ging besser -gerade wie wenn die Fäden von einer Dicke wären, ohne eine Unebenheit, einen Knoten darin, Fäden, nicht dicker, nicht dünner, als es sich gehörte, ohne Verdünnung des Gespinstes, nicht zu fein, nicht zu grob, sondern hübsch glatt und eben, gleichmäßig stark.

Ungemein freute sie sich im Anblick der Arbeit, denn sie erkannte



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ihre Vortrefflichkeit und wußte, daß die Besitzer der Wolle an solchem Faden Gefallen finden würden, sobald sie ihn sahen. Als sie eine Weile also zugeschaut hatte, überwältigte sie die Müdigkeit, und sie fiel sanft in Schlaf.

Sie erwachte erst, als es heller Tag war. Sie besann sich und blickte umher. Kein Mensch war außer ihr im Hause. Die Siebenschar war fort. Sie sah nach dem Bett hin -da lag niemand. Sie suchte überall, ob der große Haufe Wolle noch da war. Doch kein bißchen mehr war davon übrig, sondern statt dessen fand sie einen prächtigen Riesenknäuel fertig vor. Daran erkannte sie, daß die sieben Frauen wirklich die Arbeit getan hatten und nach getaner Arbeit fortgegangen waren. Sie hatte währenddem geschlafen. Indem sie sich noch darüber wunderte und sich alles ins Gedächtnis zurückrief, mußte sie sich sagen, daß ihre Augen nie schönere Frauen gesehen hatten als jene sieben. Aber die hübscheste war doch die achte Frau gewesen, die auf ihr Bett gelegt worden war. Alle zusammen - nämlich die Siebenschar - waren gewiß über alle Maßen lieblich, bis sie sich die eine Frau auf dem Bett recht lebhaft vorstellte. Ja, die sieben wären wunderhübsch, wenn sie allein nur dagewesen wären. Jedoch neben der einen auf dem Bett waren sie häßlich. Wer mochte sie nur sein, jene, die dort gelegen hatte? Warum hatte sie die Schwäche überfallen? Warum hatte sie kein Wort geredet? Was mochte sie in die Lage gebracht haben? Sie schien gar nichts mit den andern zu tun zu haben. Vielleicht hatte eine von jenen sie irgendwo draußen in dem Zustande der Besinnungslosigkeit gefunden, und sie hatten sie hereingebracht, um sie aus ihrer Ohnmacht zu wecken.

So zerbrach sich die Spinnerin über das Geschehnis den Kopf. Aber es gelang ihr nicht, Anfang oder Ende dazu zu finden. Sie mußte es aufgeben.

Es geschah nach einiger Zeit, daß sie wiederum einen Haufen Wolle zu kämmen und zu kratzen, zu spinnen und auf zuwickeln hatte. Sie war in Sorge, die Spinnarbeit nicht rechtzeitig für die Leute, die sie damit beauftragt hatten, fertigzubekommen. Sie verbrachte den Tag vom frühen Morgen an bei der Arbeit. Doch als die Nacht hereinbrach, war eine Menge noch nicht bewältigt. Sie holte ein Licht und



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bereitete sich für die Nachtarbeit vor. Sie hatte das Licht angezündet und beugte sich über ihre Arbeit. Sie war noch nicht lange dabei, als die Tür aufging und eine Frau eintrat. Übers Haupt hatte sie die Kapuze ihres Mantels gezogen. Sie trat heran an die Spinnerin, tauchte beide Hände in die Wolle und sprach:

»Frau mit dem Wollzeug!
Wenn du die Wolle bekommst,
Wir kämmen, kratzen.
Wenn wir dir helfen, ist's leichter.«

Sie hatte nur das kleine Verschen gesagt, da trat die zweite Frau herein, tauchte beide Hände in die Wolle und sprach dann dieselbe Halbstrophe. Nicht lange, und sie hatte die ganze Siebenschar bei sich im Hause. Sie hatten die Hände in Wolle getaucht und waren wacker beim Werk. Die Spinnerin wußte wohl, wen sie vor sich hatte, und freute sich sehr. War sie doch sicher, nun würde es nicht lange dauern, bis die Arbeit geschafft war, und gute Arbeit!

Die Frauen blieben am Werk, bis die letzte gekratzte Wolle zum Faden gesponnen, der letzte Faden auf den Knäuel gewickelt und dieser zu dem ganzen Haufen Wollbälle geworfen war, die in der Ecke aufgestapelt lagen.

»Ich bin euch sehr dankbar, edle Frauen«, sagte die Spinnerin. »Ich wüßte nicht, wann ich all die Arbeit fertigbekommen hätte, wenn ich sie allein hätte leisten müssen. Ich bin euch sehr dankbar.«

»Es ist richtig, sich erkenntlich zu zeigen, gutes Weib«, sprach die Frau, die zuerst eingetreten war. »In jener vergangenen Nacht, als wir hier waren, erwiesest du uns einen Dienst. Wir hätten das nicht machen können, was du uns tatest. Für uns wiederum ist's leichter und weniger, dir zu Hilfe zu kommen. Wer kann wissen, ob wir nicht abermals deine Hilfe brauchen.«

»Und für mich ist's leichter und bedeutet's weniger, jene Hilfe zu leisten, wann immer sie not tut«, erwiderte die Spinnerin.

Sie erhoben sich alle zusammen, zogen die Kapuzen ihrer Mäntel über die Köpfe und gingen hinaus.



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Die Arbeit war so gut gemacht, daß schließlich ihre Vortrefflichkeit in der ganzen Gegend bekannt wurde. Dadurch mehrten sich die Aufträge, die die Spinnerin bekam. Die Wolle wurde ihr in großen, schweren Haufen zugeschleppt. Und als sie so viel zu tun hatte und nicht imstande war, alles zu schaffen, auch mit der Nachtarbeit nicht, kam die Siebenschar und tat das Werk für sie.

Schließlich rückte die Zeit heran, in der es sich um jenes Kind handelte, von dem vorhin die Rede war. Es war die Zeit, als es zum Kummer der Eltern todkrank darniederlag. Damals ging das Gerücht um unter den klugen Leuten, daß es überhaupt nicht das eigene Kind wäre, sondern daß dies entführt sei und im Bett an seiner Stelle ein Wechselbalg läge. Und dann kam die Zeit, als das Geschöpf starb. In jener selben Nacht kam die Siebenschar zur Spinnerin ins Zimmer. Sie hatten ein Mägdlein bei sich und trugen es alle zusammen herein, gerade wie damals.

»Jetzt brauchen wir deine Hilfe, freundliche Frau«, sagte die erste der sieben, die gewöhnlich das Wort nahm.

Die Spinnerin sprang auf sie zu und nahm das Mädchen in ihre Arme. Es schien ihr entweder tot zu sein, oder es lag in so tiefer Ohnmacht, daß es den Eindruck machte, es würde sich nicht mehr rühren. Kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, so hatte sie es erkannt: Es war das entführte Kind! Aber die Spinnerin ließ sich beileibe nicht anmerken, daß sie das Mädchen kannte. Sie schleppte es tief in ihre Stube und streckte es auf ihrem Bette aus. Dann bog sie sich nieder, wie um es aus seiner Ohnmacht zu erwecken, wie damals bei dem ersten Mädchen. Sie hatte etwas bei sich, das Schlafdorn heißt. Denjenigen, dem solche Nadel ins Haupt gesteckt ward, befiel ein totenähnlicher Schlummer, aus dem er nicht eher aufwachen konnte, bis ihm die Schlafnadel wieder herausgezogen wurde.

Die Spinnerin steckte den Schlafdorn in den Kopf des Mädchens, ohne daß die Siebenschar etwas merkte. Diese war inzwischen emsig dabei, zu kämmen, zu kratzen und zu spinnen, während sie damit beschäftigt schien, das Kind aus einer Ohnmacht zu wecken. Darüber verging die Nacht. Als schließlich der Tag kam, war das Mädchen noch nicht zu sich gekommen und auch kein Anzeichen vor-



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handen, daß es bald aufwachen würde. Die Siebenschar war in eifriges Geflüster vertieft. Als sie ihre heimliche Unterredung beendet hatten, sprach die erste Frau von ihnen, die nämliche, die stets das Wort ergriff:

»Frau des Hauses«, sprach sie, »wir müssen fort. Gib gut acht auf jenes Mädchen. Wir werden heute zu dir zurückkommen, sobald es Nacht wird. Bis dahin wird sie wohl aus ihrer Ohnmacht erwacht sein. Gib gut auf sie acht, und du wirst guten Lohn dafür erhalten.« »Ich werde es tun, edle Frauen«, sagte die Spinnerin. Dann gingen sie fort.

Der Tag kam. Sobald es hell geworden war, zog die Frau dem Mädchen den Schlafdorn aus dem Kopfe. Sofort kam es zu sich und zu klarer Besinnung. Sie stand auf und erkannte die Spinnfrau. Dann erzählte sie. Ein Trank war ihr eingegeben worden, durch den sie die Besinnung verloren hatte. Sie wußte dann nicht mehr, wo sie war, bis sie jetzt zu sich kam und sich auf dem Bette der Spinnerin fand. Diese reichte ihr etwas Speise und Trank. Sobald sie dann gegessen und getrunken hatte und sich stark genug fühlte, um zu laufen, zog ihr die Spinnfrau eigene Kleidungsstücke von sich an und zog ihr ihre Mantelkapuze übers Gesicht, damit keiner sie sehen konnte. Dann traten beide hinaus und gelangten zum Hause der Angehörigen des Mägdleins. Die Spinnerin berichtete dem Vater und der Mutter den ganzen Vorgang von Anfang bis zu Ende. Sie verstanden alles. Große Freude bemächtigte sich ihrer, und das war nicht zu verwundern. Sie waren der Spinnerin überaus dankbar und sagten ihr einmal übers andere, daß sie ihr vergelten wollten, was sie ihnen getan hatte.

Sie kehrte nach Hause zurück und erwog in ihren Gedanken, welchen Bescheid sie den edlen Frauen geben sollte, wenn sie kommen würden. Sie dachte nicht, daß die beste Antwort für sie war, das Mädchen sei von selbst aus der Ohnmacht zu sich gekommen und nach Hause gegangen.

Als die Nacht hereinbrach, blieb sie auf und wartete. Der Anfang der Nacht ging hin. Sie kamen nicht.

Es wurde Mitternacht. Sie waren noch nicht gekommen.



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Der Schlaf befiel sie, wie sie am Herdfeuer saß. Doch sie kamen nicht. Es war Tag geworden, ohne daß sie dagewesen waren.

Ein Tag verging, zwei vergingen. Eine Woche verstrich, ein Monat. Sie kamen nicht. Das Jahr ging hin. Da sagte sie sich, nun würden sie nicht mehr kommen.

Zwei Jahre waren seitdem verstrichen. Die Spinnfrau saß bei ihrer Arbeit und hatte sehr viel Wolle vor sich, zu kämmen, zu kratzen und zu spinnen. Die Nacht war hereingebrochen, und sie hatte eine Kerze angezündet für die Nacht. So war sie dabei, die Nacht bei der Arbeit zu verbringen.

Die Klinke wurde bewegt. Die Tür ging auf, und herein zu ihr trat jene erste Frau. Sie hatte ihre Mantelkapuze so tief über den Kopf gezogen, daß die Spinnerin nur ihre beiden Augen sehen konnte. Aber diese glühten sie voll und scharf an. Sie trat auf die Wolle zu, tauchte beide Hände darein und sprach:

»Frau mit dem Wollzeug!
Wenn du die Wolle bekommst,
Wir kämmen, kratzen.
Wenn wir dir helfen, ist's leichter.«

Kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, so trat die zweite Frau ein, die Kapuze übers Haupt gezogen und mit zwei Augen im Kopf, die rot unter der Kapuze glühten. Sie ging auf die Wolle zu, tauchte ihre Hände darein und sprach dieselben Worte. So traten sie nacheinander ein, bis es dreimal neun waren. Schnell machten sie sich ans Werk.

Entsetzen packte die Spinnerin. Doch sie ließ es sich nicht merken. Sie war dessen gewiß, daß jene etwas Böses vorhatten. Sie war auf ihrer Hut.

Schließlich sprach eine von ihnen, jene erste Frau, die immer das Wort ergriff:

»Erhebe dich, Frau des Hauses!«sagte sie, »mache uns Feuer an! Die Nacht ist kalt!«

Die Nacht war nicht kalt, und auf dem Herde brannte sogar ein gutes



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Feuer. Doch sie erhob sich und legte Torf aufs Feuer. Sie tat, als ob sie sehr erfreut wäre über die Arbeit, die sie so tüchtig betrieben. »Setze den großen Kessel dort aufs Feuer, Weib!«sagte die Sprecherin. »Wir haben Durst und Hunger.«Es war ein riesiger großer Kessel. Man hätte einen Menschen da hineinstecken können und lebendig kochen.

Als der Kessel auf dem Feuer stand, hub die Frau von neuem an: »Geh!«sprach sie. »Bring Wasser und gieße es in den Kessel! Das Feuer ist jetzt sehr heiß.«

Die Spinnerin beobachtete, daß alle zusammen flüsterten und heimlich lachten. Sie tat aber, als merke sie gar nichts. Sie nahm den Krug und ging hinaus zum Brunnen, brachte den Krug mit Wasser herein und goß es in den Kessel. Zwanzig Krüge konnten nicht den Kessel füllen. Sie tat, als ob sie sich sehr beeilte, wenn sie zum Brunnen lief und wiederkehrte, gerade als suchte sie den Kessel so schnell wie möglich zu füllen.

Als die Frauen ihre Eilfertigkeit sahen, flüsterten und lachten sie fortwährend miteinander. Man konnte gar nicht glauben, daß sie etwas Böses im Schilde führten. Nachdem die Spinnerin eine reichliche Anzahl Krüge mit Wasser vom Brunnen hereingeholt hatte, lief sie hinaus, um wieder einen zu holen. Beim Hinausgehen meinte sie: »Es wird mir nicht zuviel, mich immer mehr zu beeilen, edle Frauen. Ihr müßt ja sonst sterben vor Hunger und Durst, ehe ich den Kessel voll habe.«

Sie machte, daß sie hinauskam, und lief, bis sie so weit von der Tür entfernt war, daß man das Geräusch ihrer Füße nicht mehr vernehmen konnte. Dann hielt sie an, warf ihre Schuhe ab und kam zurück, ohne ein Geräusch zu machen.

Als sie nahe an der Tür war und dahinter stand, spitzte sie die Ohren, um zuhören, ob sie redeten. Sie hörte: »Bald ist er voll genug!« Das sagte die Frau, die immer das Wort führte.

»Was machen wir dann, Königin?«fragte eine von den andern. »Wir stecken sie hinein und brühen sie bei lebendigem Leibe. Wir wollen schon einen Schlafdorn in sie stecken, der lange Zeit nicht herausgeht!« So sprach die erste.



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Als die Spinnerin das vernommen hatte, schlich sie sich zurück an die Stelle, wo sie Krug und Schuhe gelassen hatte. Sie zog die Schuhe an und lief herum auf die andere Seite des Hauses. Da machte sie Mund und Lungen weit auf und stieß einen Schrei aus, hoch und scharf, einen Schrei, der eine Meile ringsum zu hören war.

»Nachbarn! Oh! Oh!«schrie sie. »Lauft! Lauft! Lauft! Der Berg der lichten Frauen steht in Flammen! Der Berg der lichten Frauen steht in Flammen! Der Berg der lichten Frauen steht in Flammen!«

Die dreimal neun im Hause vernahmen den Schrei und Ruf und Lärm. Sie warfen die Arbeit aus der Hand und machten sich auf und davon. Nacheinander liefen sie zur Tür hinaus und den Hügel hoch, so schnell sie ihre Füße trugen.

Die Spinnerin selbst hatte sich zur Erde geworfen, bis sie alle von der Tür entfernt waren. Dann lief sie in die Stube, schloß die Türe, drehte den Schlüssel um im Schloß, legte einen Bann auf den Schlüssel, damit die Türe geschlossen bliebe. Sie legte die Feuerzange auf den Kaminvorsatz und sagte Beschwörungen darüber, daß sie sich nicht vom Fleck rühren konnte. Sie hieb einen Axthieb in den Holzklotz und sagte einen Bann über das Beil, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Jedes Ding tat sie solcherweise an seinen Platz und sprach darüber einen schweren Bann aus, es sollte sich nicht von der Stelle rühren. So hatte sie sich mit Beschwörungsformeln gesichert.

Als sie das letzte Stück also festgemacht hatte, vernahm sie, daß die vornehmen Frauen an die Türe kamen. Eine von ihnen suchte die Türklinke zu öffnen - es gelang ihr nicht. An der Türe war ein Schloß.

»Offne die Tür, Frau mit dem Wollzeug!« sagte ein Weib von draußen.

»Nein«, gab die Spinnerin zur Antwort. »Denn sonst würde ich in den Kessel gesteckt.«

»Offne! Öffne! Schlüssel des Schlosses!« rief eine Frau von draußen.

»Ich kann nicht!« antwortete der Schlüssel. »Ich stecke im Schloß und bin unter festem Bann, daß die Türe geschlossen bleibt.«

»Öffne! Offne! Feuerzange mit dem langen Griff!«rief es draußen.



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»Ich kann nicht«, antwortete die Feuerzange. »Ich bin an Ort und Stelle beim Feuer, und mein Kopf ist am Kaminhaken. Harter Bann hindert mich, daß ich mich vom Fleck rühre.«

»Offne! Öffne! Axt!« rief ein Weib.

»Ich kann nicht«, sagte die Axt, »ich bin an meinem Platz, und mein Mund hat ins Holz gefaßt. Schwerer Bann hindert mich, daß ich mich von der Stelle rühre.«

»Offne! Öffne! Knäuel!« rief ein Weib.

»Ich kann nicht«, sprach das Knäuel. »Hier bin ich, wo ich hingehöre, wo du mich ließest. Schwerer Bann hintert mich, daß ich mich von der Stelle rühre, bis daß man ihn von mir nimmt. Du hast mich selbst an den Fleck hier gebunden, als du mich von dir warfest.« »Öffne! Öffne! Spinnrad!« sagte draußen ein Weib.

»Ich kann nicht«, gab das Spinnrad zur Antwort. »Auf mir liegt die Treibschnur. Ich kann mich nicht fortrühren ohne deren Erlaubnis.«

»Öffne! Öffne! Treibschnur!« rief ein Weib.

»Ich kann's nicht«, sagte die Schnur, »ich bin am Rad und kann es nicht tun, ohne die Spindel zu verwickeln.«

So blieben sie dabei, alle Dinge anzurufen, die drinnen waren. Jedes Stück forderten sie auf, zu öffnen, hatten aber kein Glück damit, denn es war alles durch Beschwörung fest an seinen Ort gebannt. Zuletzt fiel ihnen etwas ein, das nicht durch Zauber gebannt werden konnte, solange es sich im Hause befand: Denn dort war nicht sein Ort. Aber die Spinnerin war fürsorglich, sie wußte, daß sie etwas nicht beschwören konnte, das nicht drinnen seinen Platz hatte. Das war das Fußwasser. Da sie das nicht bannen konnte, hatte sie es zur Türe hinausgegossen, noch ehe sie diese schloß.

»Öffne! Öffne! Fußwasser!« rief ein Weib.

»Ich kann nicht«, gab das Fußwasser zur Antwort. »Ich bin ja hier unter deinen Füßen im Dunghaufen.«

Nach jener Antwort vom Fußwasser wußten sie, daß sie überwunden waren. Zornig gingen sie auf und davon und sind seitdem irgendwo im Berge geblieben. Nie hörte ich, daß sie je von dort oben wiedergekehrt seien.


Copyright: arpa, 2015.

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