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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Die Seejungfrau oder der große Dubhdach

In alten Zeiten, bevor der heilige Patric nach Irland kam, waren hier die Heiden. Sie hatten eine Menge Töchter, die ihre Väter überaus liebten. Das kam so. Als das Gerücht umlief, daß der wunderbare



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Patric über die heidnischen Kleinkönige herrschen würde, mochten diese nicht die Oberhoheit des Heiligen dulden. Sie versammelten sich und brachten ihre Töchter nach mis Eisgir Abhann 1 in Sligo. Da gerieten die Mädchen unter Zauberbann und trieben ins Meer hinaus. —Dies aber wurde vom Vater dem Sohne erzählt und von einem Jahrhundert dem anderen überliefert bis auf den heutigen Tag, daß jener Stamm unten im Meere lebte. Die Ursache aber, weswegen die heidnischen Töchter verbannt wurden, ist diese: Der kleine Schweinehirte Patric ward als ein Fremder angesehen, und die Heiden fürchteten, wenn er die Oberhand in Irland hätte, würde er das Land mit Fremden überschwemmen, und sie mochten nun nicht, daß ihre Töchter von den Eindringlingen geheiratet würden. Die alten Leute im Lande sind so sicher, daß diese Menschen im Meere leben, geradeso wie davon, daß sie Haare auf dem Kopfe haben.

Es war gut und war nicht schlecht. —Nun herrschte zu jener Zeit ein Oberkönig über die Heiden in der Landschaft Sligo. Er hieß Culfogach und besaß eine Tochter. Sie war auch unter denen, die ins Meer hinausgingen. Ihr Vater war tief betrübt beim Abschied. Als schon alle andern außer ihr fort waren und er sich beeilte, ihr die Zauberhülle überzuwerfen, zerriß ihr diese halb bei dem Sprung ins Meer. Weil nun die Kapuze zerrissen war, haftete an ihr nicht soviel Zauber wie an den andern Jungfrauen. Sie konnte deshalb nicht bis auf den Meeresgrund gehen, sondern verweilte immer auf den Wellen. Hin und wieder suchte sie den Strand auf und kämmte sich das Haar.

Es war gut und war nicht schlecht. — Nachdem die Heiden schon lange Zeit unter der Erde lagen, erzählten sich die Leute im Lande von dem schönen Mädchen im Meere. Wenn sie die Jungfrau oben auf einer Klippe zur Ebbezeit erblickten, dann meinten sie, sie wäre eine Königin im Vergleich zu allen andern Frauen.

Nun lebte zu jener Zeit auf mis Eisgir Abhann eine Familie, die zu



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den edelsten des Landes gehörte. Das Gerede der Leute über die Seejungfrau drang auch zu ihnen, und oft wanderten sie hinab an die Küste in der Hoffnung, einen Anblick von ihr erhaschen zu können. Aber es gelang ihnen nicht. So trieben sie es lange Zeit hindurch, bis zwei von ihnen starben und nur der Jüngste übrigblieb. Gott fügte es, daß er eines Tages draußen herumschweifte und bis zum Klippenrand wanderte. Da sah er weit aufs Meer hinaus, und ihm war, als erspähte er etwas, das sich oben auf den Wellen wiegte. Nach einem kleinen Weilchen schien es ihm, als wäre es die Gestalt eines Weibes. Sie näherte sich der Küste.

Bei Gott, er war nicht faul, sich hinter der Klippe zu verbergen und zugleich einen verstohlenen Seitenblick auf das Strandgut zu werfen, das zur Küste trieb. Nicht lange, und er sah sie auf die Klippe steigen, die von der Flut umspült war. Sie warf die Hülle ab. Danach zog sie einen Kamm aus ihrem Busen und begann sich zu kämmen. Niemals sah der große Dubhdach mit seinen Augen ein schöneres Weib als dies. Er stand auf aus seinem Versteck, kam auf den Zehenspitzen näher, ohne daß sie es merkte, und hielt hinter ihr an. Er griff nach der Hülle und lief mit ihr fort. Als sie hinter sich das Geräusch seiner Füße vernahm, hob sie sich vom Boden und wollte ins Meer hinaus. Doch da sie ihre Hülle nicht übergestreift hatte, konnte sie nicht zurück in die See. Denn ohne die Hülle besaß sie keine Zauberkraft.

Als sie ihre Lage bedacht hatte, begann sie Dubhdach mit ihrem Zeigefinger zuzuwinken und ihm anzudeuten, ihr die Hülle zurückzugeben. Doch er hätte sich davon nicht getrennt, und hätte er sein Leben dafür lassen müssen. Er lief aus Leibeskräften davon, weil er genau wußte, daß sie gezwungen war, ihm zu folgen. Und, bei Gott, als sie Dubhdach mit der Hülle forteilen sah, da erkannte sie, daß es keinen gab, der sie beklagte und ihr half. So schnell ihre Sohlen sie trugen, lief sie hinter ihm her und folgte ihm in sein Haus.

Als Dubhdach sie bei sich drinnen hatte, versteckte er die Hülle. Er scheute sich, sie zu vernichten, denn er dachte sich, daß in der Hülle Zauberkraft steckte und daß, wenn er sie zerstörte, ihm ein Unglück zustoßen würde. Dauernd flehte sie ihn um die Hülle an. Aber es



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half ihr nichts. Er gab ihr eine Dienerin und ließ sie aufs beste unterweisen. Ober kurz oder lang verstand sie es, so gut Garn zu spinnen wie nur je eine Hausfrau, und in der ganzen Umgegend gab es kein so angenehmes und wohigesittetes Weib wie sie.

Da meinte Dubhdach, sie wäre eine Frau, wie sie sich für ihn ziemte, und er heiratete sie alsobald. Vierzehn Jahre lang lebten sie glücklich und froh zusammen, und Gott schenkte ihnen drei Söhne. Der älteste war schon dreizehn Jahre alt, da ging Dubhdach eines Tages draußen ins Gärtchen, und seine Kinder liefen hinter ihm drein. Er ging an die Gartenmauer hinüber, zog drei oder vier Steine aus der Seitenwand, steckte seine Hand hinein und nahm die Hülle heraus, um zu sehen, öb sie verrottet war. Als er sie beschaut hatte, legte er sie wieder zurück, und da die Kinder zusammen spielten, glaubte er, sie hätten gar nicht Obacht gegeben auf das, was er getan hatte.

Aber, bei Gott, der älteste Sohn war viel schlauer, als der Vater ahnte. Er hatte beobachtet, wie der Vater aus der Mauer etwas Blankes hervorzog. Bei Gelegenheit erzählte er der Mutter, was er im Gärtchen gesehen hatte. Sie dachte sich sofort, daß es die Hülle war. Sie erheuchelte eine Krankheit, und Dubhdach liebte sie so herzlich, daß er sonst etwas für sie vom Himmel heruntergeholt hätte, um sie nur zu heilen, und bei Gott, sie schickte ihn auf eine lange Reise. Er mußte zu Fuß hingehen und von der Südseite des Neifinnberges eine Handvoll Ochsenzungenkraut für sie schneiden. Schnell machte er sich auf, das Kraut zu holen. Kaum war sie ihn los, ging sie in das Gärtchen, zog die Steine aus der Mauer und fand die Hülle. Sie war noch ebenso neu wie an dem Tage, als sie sie abgeworfen hatte. Lange hatte sie sich danach gesehnt.

Sie hielt sich nicht lange auf, sondern nahm ihre drei Söhne und eilte mit ihnen an die See hinaus. Doch da sie für ihre Kinder keine Kapuzen hatte, schlug sie jedes mit ihrer eigenen Kapuze und verwandelte sie in drei große Steinklippen, etwa zwanzig Meter vom Lande entfernt.

Nachdem Dubhdach das Kraut gefunden hatte, war er bald auf dem Heimwege. Als er ins Haus trat, war es öde. Nur die Dienerin war da. Er fragte sie nach seiner Frau und seinen Kindern. Sie erzählte



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ihm, was sie gesehen hatte und daß sie fortgeeilt waren unten zum Strande hin. So schnell er konnte, folgte er ihnen. Als er an den Rand der Klippe gelangte, sah er sie schon weit draußen auf dem Rücken der Wellen. Er rief ihr zu und bat sie, wieder heimzukehren.

»Leb wohl«, sagte sie. »Du hast mich nun für immer verloren. —Und siehst du dort draußen im Meer die drei Steinklippen stehen?«fragte sie.

»Ja«, erwiderte er.

»Das sind deine drei Söhne«, sprach sie. »Ich habe sie verzaubert. Und solange Irland in Gewalt und Oberhoheit von Fremdlingen aus andern Ländern sein wird, sollen jene drei Steinklippen deutlich sichtbar sein. Und wenn das Volk Irlands seine Herrschaft über sein eigenes Land haben wird, schwinden jene Klippen von Tag zu Tag dahin, bis sie das schärfste Auge eines Lebenden nicht mehr sieht.« Dubhdach mußte heimkehren. Sein Herz war voller Kummer und Trauer. Immer sehnte er sich nach seinem Weibe und nach seinen Kindern. Er lebte nicht mehr lange danach, sondern starb; und als er verschied, da hörte man sieben Meilen rundum allnächtlich am Gestade das Klagen von hundert Menschen, und das währte noch bis zu einem Vierteljahr nach seinem Tode.

Diese Geschichte ist noch heutigen Tages im Munde der Leute lebendig, von Dubhdach und dem Volk des Meeres, mit dem er verbunden war, und von jenen Klippen, von denen ich euch erzählte. Zwei von ihnen sind seit vierzehn Jahren verschwunden, und jetzt, hörte ich, ist auch die dritte fortgespült. Ich wollte, unser Irland wäre frei von heute an und immerdar, und wir wären wieder blühend und glücklich wie einst mit

Zwingburgen ohne Dach,
Und Festungen ohne Turm,
Obwohl die Kraft der Dubhdachs
Gebrochen worden war.


Copyright: arpa, 2015.

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