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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Die drei Raben

Drei Burschen waren einmal zusammen, die hatten kein Gold und kein Silber, kein Eigen und keine Bleibe. Sie lebten wie die Hunde und waren so gesund wie der Lachs. Sie machten sich zu dreien auf nach dem Osten der Welt und wurden tüchtige Männer im Heere eines gewissen Königs. Der eine von ihnen war ein friedliebender,



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heiterer und sparsamer Mensch. Aber was das andere Paar betrifft, so gingen sie durch ein Bohrloch für einen Schluck Branntwein oder schlügen dem Leibhaftigen die Nase ab, wenn er sich mit ihnen in Streit einließe. Sie blieben bei dem König, bis sieben Jahre um waren.

»Morgen werde ich heimkehren«, sagte der friedliche Mann zu den beiden andern.

»Wir wollen mit dir gehen«, sagten die zwei.

»Was wollt ihr daheim ohne einen Pfennig Geld?«

»Oh, vielleicht sind wir nicht so arm, wie es dir scheint«, meinte einer von den beiden.

Am nächsten Tage machten sich alle drei auf die Heimreise. Sie zogen von Land zu Land und kamen an einen großen, einsamen Wald. Den hatten sie zu durchqueren. Als sie mitten darin waren, fiel das Paar über den friedlichen Mann her, band ihn mit einem dünnen Hanf seil an einen Baum und stach ihm die Augen aus. Das Geld, das er besaß, nahmen sie ihm weg. Dann machten sie ihn los, gingen ihren Weg weiter und ließen ihn halb tot zurück.

So brachte er drei Tage zu. Da ließen sich drei Raben auf dem Baum nieder, an dem er saß. Er war noch bei Besinnung. Sie fingen an, miteinander zu reden, und er konnte ihr Gespräch und überhaupt das jedes Vogels verstehen.

»Wäre der nicht froh und glücklich, der da wüßte, was ich weiß?« begann einer der Raben zu den beiden andern.

»Was ist es denn?«fragten sie.

»Nun, was ich weiß, ist das«, hub er an: »Wenn der Mann, dem sie die Augen ausstachen, diese wiederfindet - und sie sind am Fuße des Baumes neben ihm! —und wenn er dann seine Hände naß macht und die Augen einsetzt, so sind sie wieder gesund wie zuvor.«

»Wäre der nicht froh und glücklich, der da wüßte, was ich weiß?« hub der zweite Rabe an.

»Was ist es denn?«fragten die andern.

»Alle Ärzte der Welt sind nicht imstande, die Tochter des Königs dieses Landes gesund zu machen. Aber ein Kraut, das gerade an der Stelle steht, wo die Augen liegen, würde sie in einer halben Minute



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heilen. Aber er muß es abrupfen, aufbrühen und ihr das Wasser, worin es brühte, zu trinken geben. Dann wird sie so gesund und munter sein wie einst.«

»Wäre der nicht froh und glücklich, der das wüßte, was ich weiß?« sprach der dritte Rabe zu den andern. »Nämlich«, begann er, »der König dieses Landes muß die Hauptstadt seines Reiches verlassen, weil sie großer Mangel an Wasser zugrunde richtet. Aber wenn ein großes Loch geschlagen wird in den pechschwarzen Felsen am Ende der Stadt, dann sprudelt so viel Wasser daraus hervor, daß es für sieben Städte langt.«

Darauf flogen die drei Raben fort. Der Mann fing an herumzusuchen. Er fand seine Augen, befeuchtete die Hände und setzte sich die Augen wieder ein. Auf der Stelle konnte er sehen, und so schön wie zuvor, vielleicht sogar noch ein bißchen besser.

Er fand auch das Kraut, steckte es zu sich in die Tasche und machte sich auf den Weg, bis er an den Königshof des Landes kam. Am Tore des Palastes klopfte er und bat um Einlaß.

»Was willst du?« fragte der Torwächter.

»Die Königstochter sehen und heilen«, antwortete er.

»Komm nur herein«, sprach der Türhüter, »wenn du so gern deinen Kopf verlieren willst.«

»Mir wurden schon die Augen ausgestochen, und so wundere ich mich nicht, wenn mir jetzt auch noch der Kopf abgehauen wird!«

»Nun, dann herein mit dir!« sprach der Türhüter.

Innerhalb des Einganges gab es Hunderte von Schädeln.

»Was für ein Unglück brachte hier all diese Schädel zusammen?« fragte er, »oder was in aller Welt wollten die hier?«

»Da liegen die Köpfe der Ärzte«, erklärte der andere, »dafür, daß sie der Königstochter nicht Heilung brachten. Es wird nicht lange dauern, dann liegt dein Kopf mitten unter diesen, wenn du Mißerfolg hast. Und ich glaube, du taugst gerade soviel wie die da!« Jedoch dies nahm dem Arzt nicht den Mut. Er trat vor den König und sagte, er wolle seine Tochter sehen und heilen.

»Du wirst wenig bei ihr vermögen«, sprach der König, »und besonders in Anbetracht des Aufwandes so vieler Ärzte. Doch tu nach



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deinem Belieben. Aber wenn du nicht Erfolg hast, wird man dir den Kopf vom Leibe schlagen wie jedem vor dir.«

»Einverstanden!« sagte der Doktor. Man öffnete ihm die Tür zum Gemache der Königstochter. Sie lag im Bett und war schon nahe am Tode. Er befahl, man sollte ihn im Raum allein mit ihr lassen, und man tat es. Er holte das Kraut hervor, brühte es und machte davon einen Aufguß. Das gab er der Kranken zu trinken. Kaum hatte sie ausgetrunken, so war sie wieder vollständig gesund. Sie ging zu ihrem Vater, und, glaubt mir's, ihre Freude war nicht größer als seine. Er rief sofort den Arzt zu sich und sprach:

»Ich würde dir jetzt gern meine Tochter zur Frau geben. Aber ihr geht in dieser Stadt aus Mangel an Wasser zugrunde.«

Am Tage darauf machte die Königstochter mit dem Arzt eine Spazierfahrt in des Königs Wagen. Sie fuhren bis an das Ostende der Stadt. Dort sah der Doktor den pechschwarzen, riesig hohen Felsen.

»Ich bin sicher«, sagte er zur Königstochter, »daß es mitten im Felsen Wasser genug für die Stadt gibt, wenn er angebohrt wird oder wenn man ein großes Loch hineinschlägt; dann kann das Wasser heraus.«

Die Königstochter ließ sogleich zwanzig Mann kommen. Die begannen tüchtig in den Felsen hineinzuhauen. So stark und kräftig schlugen sie, daß er zu guter Letzt barst. Und da sprudelte Wasser heraus und strömte und breitete sich nach allen Seiten, so daß es bis an die Häuser der Stadt floß. Da gab der König dem Arzt seine Tochter zur Frau, denn er hatte sie verdient.

Es war ein Jahr nach der Hochzeit, als er eines Tages allein spazierenging. Da begegneten ihm - nun, wer war es wohl? —jene beiden Schurken, die ihm die Augen ausgestochen hatteh! Er erkannte sie, aber sie ihn nicht. Aber er erzählte ihnen, wer er sei. Da staunten sie, daß er die Königstochter zur Frau bekommen hatte, und noch mehr wunderten sie sich, als er ihnen sagte, daß er ausgezeichnet sehen könnte. Er erzählte ihnen seine Abenteuer von Anfang bis zu Ende. Jetzt zitterten sie vor Angst am ganzen Körper; denn sie dachten, er würde sie festnehmen und hängen lassen wegen ihrer



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Greueltat an ihm. Aber er sagte ihnen, sie sollten deswegen ohne Furcht sein, da ja alles für ihn zum Guten und nicht zum Schaden abgelaufen war.

»Vielleicht geht's uns ebensogut wie ihm, wenn wir hingehen und uns selbst an den Baum binden. Am Ende erzählen uns dieselben Raben oder andere - uns wäre das ja gleich -mit Gottes Hilfe ebenfalls, wo wir Königstöchter zum Heiraten finden.«

Sie machten sich nun auf und kamen dorthin, wo sie dem andern Manne die Augen ausgestochen hatten. Sie banden sich an denselben Baum, und es dauerte nicht lange, so ließen sich drei Raben auf diesem nämlichen Baume nieder.

»Ein Jahr ist es her, als wir drei auch hier waren«, sprach ein Rabe zu den beiden andern. »Damals hörte uns ein Mann zu und nahm mit, was wir gesagt hatten. Er ist nun vollkommen glücklich. Nun sind zwei andere gekommen mit der Hoffnung, daß sie auch etwas von unserem Gespräche haben.«

»So ist's. Wollen wir drei die beiden sofort bestrafen! Kratzen wir ihnen die Augen aus!« Und damit flatterten sie von oben herunter und stachen auf die Augen der zwei Schurken los, bis sie sie herausgehackt hatten. Dann machten sie sich auf und davon, und die Elenden kamen im Walde durch Hunger und Not um.


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