Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Seaghan mit den beiden Schafen

In alten Zeiten gab es in Irland kleine Zaubermännlein und Wichtelmännchen. Aber die verwünschten Fremden haben sie vertrieben, und mit ihnen verschwand das Glück des Landes. Es gibt seit der Zeit der Dänen viel Gold und Silber in Irland unter dem Erdboden versteckt. Doch weiß keiner mehr wo. Nur die Wichtelmännchen wußten Bescheid darüber und haben viele Menschen reich gemacht.

In jener alten Zeit lebte ein junger Mann namens Seäghan O'Suilliobhäin in Turloch-Mor, nahe bei Caislean a Bharra in der Grafschaft Mayo. Seine Großmutter erzog ihn, da ihm Vater und Mutter gestorben waren, als er ein Jahr zählte. Im Alter von zehn Jahren war er schon ein geschickter Bursche und seiner Großmutter nützlich. Sie hatte ihn sehr lieb. Er war täglich auf der Weide mit den Kühen und Schafen. Sie versprach ihm eines Tages, sie wollte ihm nach ihrem Tode zwei Schafe hinterlassen, wenn er ein tüchtiger Junge würde. Seäghan lief gleich durchs Dorf und erzählte jedem, er würde einmal zwei Schafe besitzen, sobald seine Großmutter tot sei. Seit der Zeit nannten ihn die Leute »Seäghan mit den beiden Schafen«. Auf den Namen hörte er wie auf seinen eigentlichen.

Es war alles ganz gut und nicht übel. Als Seäghan fünfzehn Jahre alt war, starb die Großmutter und hinterließ ihm zwei Schafe. Eins davon war ein Hammel. Sie waren erst sechs Monate alt. Da gab es eine Meile im Umkreise keine fette, grasreiche Weide, auf die Seághan nicht seine beiden Schafe geführt hätte. Gab es eine hohe Mauer zwischen ihm und der Wiese, dann nahm er seine Schafe unter die Arme und hob sie hinüber. Die Leute beobachteten sein Tun und Treiben nicht weiter, sie hielten ihn für närrisch. Aber er war ein Narr mit eisernem Willen.

Eines Tages nun trieb Seäghan einen faulen Esel vor sich her. Als ihm der nicht schnell genug trabte, begann er mit einem tüchtigen Knüppel auf ihn loszuschlagen. Zufällig kam ein Priester des Weges. Er begann: »Es ist eine große Sünde, Seäghan, daß du den armen Esel so boshaft prügelst. Der Esel ist ein gesegnetes Tier. Siehst du



Bd-11-253_Maerchen aus Irrland Flip arpa

nicht das Zeichen des Kreuzes auf seinem Rücken? Und ein Esel war es, auf dem dein Heiland nach Jerusalem ritt!«

»Meiner Seel!«sprach Seägham, »wäre er auf diesem faulen Schurken geritten, dann wär's damit zum Teufel gewesen, daß er etwas von Jerusalem sah!«

»Gott helfe dir, du dummer Junge!« sagte der Priester. »Unser Heiland kann alles, und wenn wir ihn bitten, hilft er uns.«

»Ich glaube kein Wort von dem, was du da sagst«, versetzte Seäghan. »Die Leute sagen, du seist ein frommer Mann. Aber ich wette hier meine beiden Schafe darauf gegen zwanzig »Dreizehner<1 , daß, wenn du auf diesem faulen Lümmel reitest, du heute abend vor Sonnenuntergang nicht bis an den Kreuzweg gelangst, ohne ihn zu prügeln. Und bis zum Kreuzweg ist's nur eine kleine Weile!«

Der Priester war ein heiterer Mann und sagte: »Ich will mit dir auf die Wette eingehen, Seäghan.« So machte er sich daran, bestieg den Esel und lenkte ihn auf den Kreuzweg zu. Er streichelte ihm den Hals und schmeichelte ihm, um ihn in flinkere Gangart zu bringen — doch der Esel setzte kaum einen Fuß vor den andern. Eine Schnecke hätte es mit ihm aufgenommen!

Nun kamen die Leute aus den Häusern heraus auf beiden Seiten des Weges, und sie belustigten sich über den Priester sowohl wie über Seäghan. Der trottete dem Priester voraus und klatschte, so laut er konnte, in die Hände.

Am Wegrande stand ein Distelstrauch, und der Esel begann zu fressen und sich nicht von der Stelle zu rühren. Das dauerte, bis er genug hatte. Aber dann, statt weiterzutraben -plumps, lag er da! Und wenig hätte gefehlt, daß er dem Priester unter sich die Füße zerquetschte.

»Wenn du dich nicht beeilst«, meinte Seäghan, »habe ich die Wette gewonnen. Nun bist du schon zwei Stunden unterwegs und hast noch nicht den halben Weg geschafft!«

»Der Dumme hat Glück«, meinte der Priester. »Da hast du deine Wette. Du hast noch mehr Witz im Kopf, als ich glaubte. Aber nun



Bd-11-254_Maerchen aus Irrland Flip arpa

trolle dich, du und dein Esel, und komm mir nicht mehr unter die Augen!«

Seäghan setzte sich flugs auf den Esel, bearbeitete ihn tüchtig mit dem Knüppel und kam bald von der Stelle. Er war sehr vergnügt und guter Dinge, daß er dem Priester so mitgespielt hatte. An demselben Abend brachte er seine beiden Schafe heim wie sonst, und zwar unter das Dach des Hausgiebels. Dann ging er selbst schlafen. In der Nacht, während er schlief, kam der Wolf, tötete den Hammel und ließ ihn liegen.

Als Seäghan am Morgen hinaustrat, fand er den toten Hammel. Er jammerte mehr um ihn, als er um seine Großmutter gejammert hatte. Nachdem er sich ausgeweint hatte, ging er an das Schaf und sprach: »Ach, du armes Geschöpf! Bist du nicht betrübt, daß dein Kamerad tot ist und daß außer dir keins mehr übrig ist von deiner Familie?«

Kaum aber hatte er also zu dem Schafe gesprochen, was meint ihr, tat dieses? Es setzte sich auf den Hintern, blickte ihn an und sprach mit menschlicher Stimme: »Habe Geduld! Der Hammel wird wieder lebendig werden, so du meinen Rat befolgst. Erzähl es keiner lebenden Seele, daß er tot ist! Geh in die Stadt und kaufe ein Schafsfell mitsamt der Wolle darauf! Heute nacht wird der Wolf mir nachstellen. Aber sei du hier bei mir, wirf dir das Schafsfell über und halte dein scharfes Messer in der rechten Hand. Sobald er versucht, mich zu packen, stoße ihm das Messer ins Herz, daß er tot hinfällt. Danach schneide ihm das Herz aus und reibe damit die Zunge deines Hammels. Alsobald wird er wieder lebendig und munter sein wie einst. Und dann noch eins: Im Wolfsbauch ist eine Goldbörse, die wird niemals leer. Aber wisse, wenn du dein Geheimnis zu irgendeinem Menschen ausplauderst, bist du verloren und ich und der Hammel auch!«

»O du mein Herzensliebling!« rief Seäghan, »ich werde alles tun, was du mir sagst. Aber warum hat es so lange gedauert, ehe du zu mir den Mund auftatest! Ich war doch so verlassen, seit meine Großmutter starb! —Gott segne ihre Seele!« Er konnte nichts weiter hinzufügen, denn das Schaf hub nochmals an: »Still! Es ist ja deine



Bd-11-255_Maerchen aus Irrland Flip arpa

Großmutter, die zu dir redet! Und dein Großvater ist's, der da hingestreckt unter dem Dachgiebel liegt. Du wunderst dich darüber, uns in Gestalt von Schafen zu sehen. Doch du wirst nicht weiter erstaunt sein, wenn du die ganze Geschichte erfährst: Als deine Mutter im Sterben lag, verpflichtete sie uns, für dich Sorge zu tragen, ob wir tot oder lebendig seien, bis zu deinem einundzwanzigsten Jahre. Das hatten wir ihr versprochen. Als wir nun vor den ewigen Richter hintraten, wurden wir in dieser Gestalt wieder zurückgeschickt, damit wir unser Versprechen erfüllten.«

»Ich danke dir«, sprach Seäghan. »Ich will alles tun, was du sagst. Und was das Geheimnis anbetrifft, sollst du sehen, daß ich es hüten kann, wenn ich unter den Leuten als Narr gelte.«

Seäghan ging in die Stadt, kaufte das Fell und kam heim. Er gab dem Schafe reichlich Heu, und als die Dunkelheit hereinbrach, warf er sich das Fell über und streckte sich am Hausgiebel hin.

»Du kommst um vor Kälte, ehe der Wolf naht«, warnte das Schaf. »Setze dich drinnen ans Feuer, bis du mich blöken hörst: Mäh! Mäh!«

Er ging ins Haus, zündete sich ein Feuer an und setzte sich davor nieder. Dann dachte er nach über alles, was er erlebt hatte. Er wollte gerade einschlafen, als er das »Mäh! Mäh!«des Schafes vernahm. Er stürzte hinaus. »Beeile dich!« sagte das Schaf. »Der Wolf kommt schon!«

Seäghan warf sich das Fell über und legte sich vor der Giebelwand hin. Kurze Zeit darauf nahte der Wolf. Als er glaubte, das Schaf packen zu können, stieß Seäghan zu und trieb ihm das Messer ins Herz. Der Wolf stürzte hin und war tot. Darauf schnitt ihm Seäghan den Bauch auf, nahm das Herz heraus und rieb damit die Zunge des Hammels ein. Da erhob sich dieser heil und munter wie zuvor.

Während sich der Hammel und das Schaf umarmten, suchte Seäghan weiter, bis er die Goldbörse fand. Sie war viel kostbarer als die ganze Grafschaft Mayo: Sie sollte ja niemals leer werden!

Zwischen Seäghan und den zwei Schafen fand nun eine lange Unterredung statt. Das Schaf tat ihm kund, es werde alljährlich zwei Lämmer werfen, und diese würden die besten sein auf dem ganzen



Bd-11-256_Maerchen aus Irrland Flip arpa



Bd-11-257_Maerchen aus Irrland Flip arpa

Markt. »Und wenn sich dann irgend jemand bei dir erkundigt, wer ihr Vater ist, gib zur Antwort, du weißt es nicht! —Nun geh ins Bett, und morgen früh magst du den Nachbarn erzählen, daß du den Wolf getötet hast, der deinen beiden Schafen auflauerte. Er hat immer viel Schaden angerichtet unter den Schafen dieser Gegend. Jedermann wird dich preisen, und besonders der Priester! Der Wolf entriß ihm nämlich viele Lämmer. Nun sage ich nichts weiter zu dir, bis du meinen Rat wieder brauchst.«

»Ich habe ihm auch noch ein paar Worte zu sagen«, hub jetzt der Hammel an. »Der Wolf war Paidin, Eamons Sohn. Du erinnerst dich gewiß, daß er vor sieben Jahren gehängt wurde, weil er Feilim MacGriomh ermordet und ihm fünf Schafe gestohlen hatte. Als er vor den ewigen Richter hintrat, wurde er auf sieben Jahre in Wolfsgestalt in die Welt zurückgeschickt. Jetzt aber liegt er angebunden im Loch Dearg in Gestalt einer Riesenschlange und wird dort bleiben, bis das Ende der Welt kommt.«

»Ich erinnere mich seiner sehr wohl«, sagte Seäghan. »Es fehlte nicht viel, und er hätte mir einmal die Ohren abgeschnitten, als ich auf seinem Lande Nester suchte.«

»Geh nun schlafen, ich habe dir nichts weiter mitzuteilen«, schloß der Hammel.

Früh am Morgen brachte Seäghan seine Schafe auf eine grasreiche Weide. Dann suchte er den Priester auf und erzählte ihm, daß er in der letzten Nacht einen Wolf getötet habe. Der Priester wollte ihm das nicht glauben, sondern sagte: »Scher dich nach Hause, du Lump! Ich wurde erst vor kurzem gründlich verspottet um deinet- und um deines Esels willen.«

»Bei meiner Seele! Ich sage dir die blanke Wahrheit!« beteuerte Seäghan. »Meine beiden Schafe waren bei der Giebelseite untergebracht, als der Wolf kam und ihnen nachspürte. Da stieß ich ihm mein Messer ins Herz und ließ ihm nicht die Eingeweide im Leibe, sondern warf sie auf die Erde dort beim Hausgiebel.«

»Ich werde in ein bis zwei Stunden den Weg dort entlangkommen«, sagte der Priester, »und wenn du mir etwas vorgeschwindelt hast, zerbreche ich dir alle Knochen im Leibe!«



Bd-11-258_Maerchen aus Irrland Flip arpa

Seäghan ging durchs Dorf und erzählte allen Leuten seine Geschichte. Einige glaubten ihm, andere zweifelten. Ein paar begleiteten ihn nach Hause. Da sahen sie den toten Wolf. Nun dauerte es nicht lange, und die Zungen setzten sich in Bewegung. Seäghan mit den beiden Schafen wurde hoch gepriesen.

Als der Priester kam, sagte er: »Ich verzeihe dir die Eselsgeschichte. Hier hast du ein blankes Goldstück!«

»Ich brauche kein Gold und Silber von dir. Gib es den Armen im Dorfe! Meine Großmutter hat mir Gold und Silber hinterlassen.«

»Gib mir deine Hand! Auf mein Wort, du bist ein wackerer Bursche!« So sprach der Priester und schüttelte ihm die Hand. Dann wandte er sich an die Leute, die dabeistanden: »Ihr müßt Seäghan sehr achten. Er tat allen im Bezirk eine große Wohltat, indem er das Tier tötete. Nun grabt ein Loch und scharrt es ein!«

Am ersten Monatstage im Frühling hatte Seäghans Schaf zwei Lämmer, und nie sah jemand in Irland ein Lamm, das halb so prächtig gediehen wäre wie sie. Die Wolle an ihnen war schon einen halben Fuß lang und weich wie die feinste Seide. Als sie sechs Monate alt waren, brachte Seäghan sie auf den Markt, und jeder, der sie sah, erkundigte sich nach ihrer Abstammung. Seäghan sagte, das Mutterschaf wäre bei ihm zu Hause. Nun kam jeder Farmer oder Schafzüchter bis zu vierzig Meilen im Umkreise zu ihm gelaufen, um das Schaf zu besichtigen. Sie waren bereit, ihm jeden Preis dafür zu zahlen. Aber Seäghan verkaufte es nicht.

Jedes folgende Jahr hatte das Schaf nun zwei Lämmer. Doch es waren stets nur weibliche Tiere, und die Farmer waren dieserhalb recht betrübt.

Seäghan ging es fünf Jahre lang gut. Alljährlich bekam er einen großen Preis für die Lämmer und kaufte sich jedes Jahr ein Stück Land. Als er zwanzig Jahre alt war, besaß er schon ein schönes Gut, und alle jungen Mädchen zwanzig Meilen in der Runde waren in ihn verliebt. Aber dann ging mit ihm eine große Veränderung vor. Am Abend vor seinem einundzwanzigsten Geburtstage sagte das Schaf zu ihm: »Morgen wirst du einundzwanzig Jahre alt, und dann habe



Bd-11-259_Maerchen aus Irrland Flip arpa

ich mit deinem Großvater nicht mehr für dich zu sorgen. Wir haben unsere Pflicht getan und werden nun zur ewigen Ruhe eingehen. Morgen früh findest du uns tot an der Giebelseite. Mach dann ein tiefes Loch und vergrab uns dort!«

Seäghan war tief betrübt und sagte: »Ich möchte mit euch gehen. Mir bricht das Herz vor Kummer und Einsamkeit.«

»Du kannst uns nicht begleiten«, sprach das Schaf. »Deine Lebenszeit ist noch nicht um. Lange Jahre hast du noch vor dir.«

An dem Abend führte Seághan die beiden Schafe wieder heim, und an der Giebelseite brachte er sie unter. Aber er konnte nicht ruhig schlafen. Früh am Morgen ging er hinaus und fand beide Schafe tot. Er grub ein tiefes Loch und verbarg sie dort.

>Nun<, sagte er zu sich, >da bin ich heute einundzwanzig Jahre alt. Ich will bei der Gelegenheit Branntwein trinken und mir damit meinen Kummer vertreiben.<

Er ging in die Stadt, kaufte sich ein Krüglein Schnaps und kehrte nach Hause zurück. Er begann zu trinken, und nicht lange, so war er blind vor Trunkenheit. Ein Nachbar kam zu ihm ins Haus. Seághan begann mit ihm zu schwatzen und ließ dabei das Geheimnis über die beiden Schafe entschlüpfen. Die Geschichte lief von Mund zu Mund, bis jeder in der Gegend sie kannte.

Am Morgen darauf war die Goldbörse verschwunden. Seághan hörte nicht auf zu trinken, bis er jeden Pfennig, den er besaß, durchgebracht hatte. Alsdann ging er von Haus zu Haus. Er war halb närrisch und bettelte um etwas Essen.

War er nun gescheit oder dumm?


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt