Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Balor

In uralten Tagen, die längst versanken in die Nacht der Zeiten, lebten drei Brüder: Gabhaidh, MacSamhthainn und MacCinnfhaolaidh.

Der erste von ihnen war ein Schmied. Er hatte eine Schmiede in Druim na Teine. Dieser Platz liegt im Kirchspiel Rath-Finan und hat seinen Namen von der Schmiede, denn druim na teine bedeutet »Feueresse«1. MacCinnfhaolaidh beherrschte ein Gebiet, das etwa den heutigen Kirchspielen Rath-Fionnäin und Tulachan Bigli gleichkam. Er besaß eine Kuh, die Glas Gaibhneann hieß. Sie gab ungeheuer viel Milch. Deshalb begehrten alle Nachbarn dieses Tier und machten viele Versuche, sich seiner zu bemächtigen, so daß MacCinnfhaolaidh die Kuh ständig bewachen mußte.

Gegenüber von Druim na Teine liegt die Tory-Insel; tory aber heißt bei den Einwohnern ein himmelanstrebender Felsen. Dort lebte zu derselben Zeit ein berühmter Krieger mit Namen Balor.

Balor hatte nur ein einziges Auge mitten in der Stirn und ebenso eines mitten am Hinterkopf. Dieses Auge am Hinterkopf hätte durch seine bösen, schielenden Blicke und durch seine Giftfarben und -strahlen wie ein Basilisk alle Menschen getötet, wenn Balor es nicht geschlossen gehalten hätte. Er öffnete es nur, wenn er seine Feinde mit Blicken versteinern wollte. Deshalb nennen die Iren bis auf diesen Tag ein Auge, das den bösen Blick hat, ein Súil Bhaloir, »Balor-Auge«. Es war aber Balor von einem Druiden geweissagt worden, daß er trotz all seiner gewaltigen Macht getötet werden würde, und zwar von seinem eigenen Sohn oder Enkel.

Balor hatte nur eine Tochter, Eithne mit Namen. Damit nicht durch sie Verderben über ihn käme, schloß er sie in einen uneinnehmbaren Turm ein, den seine Vorfahren auf der Spitze von Tor-Mor gebaut hatten. Dieser fast unersteigbare Felsen hob sein Haupt hoch in den blauen Himmel, während sein Fuß ewig von Wogengebrüll umschäumt war.



Bd-11-238_Maerchen aus Irrland Flip arpa

So standen dort Felsen und Turm an der Ostküste der Insel und trotzten dem Sturm. Balor gab seiner Tochter zwölf alte Frauen zur Gesellschaft. Er befahl ihnen aufs strengste, niemals einen Mann in die Nähe von Eithne gelangen zu lassen, ja ihr überhaupt zu verheimlichen, daß es Menschen gäbe, die nicht weiblichen Geschlechts seien.

Dort im Turm blieb Eithne lange Zeit und blühte zu einer Jungfrau von großer Schönheit heran. Die Matronen erwähnten ihr gegenüber nie das Wort »Mann«, aber Eithne begann zu fragen, wie sie selbst denn in die Welt gekommen sei und was das für Wesen seien, die sie oft in Fellbooten am Turm vorbeifahren sähe, und was das für Träume seien, die ihr andersgestaltete Menschen und unbekannte Freuden mit ihnen vorspiegelten. Aber die Matronen blieben ihrer Aufgabe treu und enthüllten das Geheimnis nicht.

Unterdessen fühlte sich Balor vollkommen sicher. Er verachtete die Weissagungen des Druiden und zog auch ferner auf Krieg und Raub aus. Er vollbrachte viele berühmte Taten, kaperte manches Schiff, überwältigte und fesselte manche Schar von Seeräubern. Er machte auch zahlreiche Einfälle in das gegenüberliegende Land und schleppte die Menschen und ihre Habe nach seiner Insel. Aber solange er die kostbare Kuh Glas Gaibhneann nicht besaß, blieb sein Ehrgeiz unbefriedigt; er wandte daher all seine Macht und List an, um auch sie noch zu gewinnen.

Eines Tages begab sich MacCinnfhaolaidh zur Schmiede seiner Brüder, um sich einige Schwerter schmieden zulassen. Die unschätzbare Kuh führte er an einem Zügel mit sich. Bei Nacht wurde das Tier mit diesem Halfter angebunden, bei Tage aber hatte MacCinnfhaolaidh den Strick ständig in der Hand. Als er zur Schmiede gekommen war, übergab er die Kuh seinem Bruder MacSamhthainn. Er trat in die Schmiede, um zu sehen, ob die Schwerter gut gestählt würden.

Als MacCinnfhaolaidh in der Schmiede war, nahm Balor die Gestalt eines kleinen rothaarigen Jungen an und erzählte dem MacSamhthainn, er hätte in der Schmiede Gavida und MacCinnfhaolaidh flüstern hören, daß sie den ganzen Stahl von MacSamhthainn dazu gebrauchen wollten, um für MacCinnfhaolaidh Schwerter zu machen;



Bd-11-239_Maerchen aus Irrland Flip arpa



Bd-11-240_Maerchen aus Irrland Flip arpa

die Schwerter für MacSamhthainn aber sollten nur aus Eisen gemacht werden.

MacSamhthainn fluchte und sprach: »Sie sollen erfahren, daß ich nicht leicht betölpelt werden kann! Hier, halte diese Kuh, mein kleiner Freund«, und schon stürzte er zu der Schmiede.

Kaum hatte Balor die Zügel in der Hand, da entführte er die Kuh mit der Geschwindigkeit des Blitzes. Der Ort, wo er sie am Schwanze ans Land zog, heißt noch heute Port-na-Glaise, »Hafen der grünen Kuh«.

Da hörte MacCinnfhaolaidh das Jammergeschrei seines Bruders, lief aus der Schmiede und sah Balor und die Kuh in der Mitte des Tory-Sundes.

Jetzt begriff auch MacSamhthainn die List Balors und mußte vom Bruder ein paar wuchtige Schläge an den Schädel erdulden.

Ganz verstört wanderte MacCinnfhaolaidh stundenlang umher, bevor er überhaupt nur nachdenken konnte, was wohl das beste sei, um die Kuh wiederzugewinnen. Als er schließlich seinen Zorn ausgetobt hatte, ging er zur einsamen Wohnung eines eisgrauen Druiden und fragte ihn um Rat.

Der Druide sagte ihm, daß die Kuh nicht wiedergewonnen werden könne, solange Balor lebe; denn um die Kuh zu bewachen, würde er sein Basiliskenauge nie mehr schließen und daher jeden versteinern, der es wagen sollte, dem Tiere nahe zu kommen.

MacCinnfhaolaidh hatte jedoch einen Hausgeist, die Biróg vom Berge. Diese unternahm es, den Untergang Balors zu betreiben. Sie kleidete MacCinnfhaolaidh in alte Frauenkleider, trug ihn auf den Flügeln des Sturmes nach der luftigen Höhe von Tor-Mor und klopfte an die Türe des Turmes.

Sie bat um Schutz und Obdach für eine edle Dame, die sie aus den Händen grausamer Räuber befreit hätte.

Die Matronen ließen beide in den Turm.

Sobald Balors Tochter die fremde vornehme Dame sah, erkannte sie in ihr eine der Gestalten, die sie so oft im Traume geliebkost hatte —und sie verliebte sich sofort in den edlen Gast. Dann schläferte die Biróg die zwölf Matronen durch Zauberkraft ein.



Bd-11-241_Maerchen aus Irrland Flip arpa

Nachdem MacCinnfhaolaidh bei der Tochter Balors geschlafen hatte, trug ihn sein Hausgeist unsichtbar wieder nach Druim na Teine.

Als die Matronen erwachten, redeten sie der Eithne ein, daß die Erscheinung der beiden Fremden nur ein Traum gewesen sei; sie schärften ihr aber ein, dem Vater niemals davon zu erzählen.

So blieb alles verborgen, bis Balors Tochter drei Kinder in einer Geburt gebar.

Balor bemächtigte sich sofort der Kinder, ließ sie in ein Tuch packen, das von einer Nadel zusammengehalten wurde, und befahl, sie in einem Strudel zu ertränken. Als aber das Boot aus dem kleinen Hafen herausruderte, fiel die Nadel aus dem Tuch, und einer der Knaben glitt ins Wasser. Daher heißt noch heute der Hafen Port-na-Deilg, »Hafen der Nadel«.

Die beiden andern Kinder wurden in den Strudel geworfen.

Den Knaben aber, der zuerst aus dem Tuche geglitten war, rettete die Birög und brachte ihn zu MacCinnfhaolaidh. Dieser übergab das Kind seinem Bruder Gabhaidh.

Gabhaidh erzog den Knaben und lehrte ihn das Schmiedehandwerk; Balor aber glaubte, das Schicksal besiegt zu haben.

Balor erfuhr auch von seinem Druiden, wer es gewagt hatte, das Rad des Schicksals in Bewegung zu setzen.

Er landete mit vielen wilden Gefährten an MacCinnfhaolaidhs Küste. Sie ergriffen ihn und legten sein Haupt auf einen großen weißen Stein. Einer hielt ihn am langen Haar, andere an Händen und Füßen, Balor aber schlug ihm das Haupt ab mit einem einzigen Streiche seines wuchtigen Schwertes.

Das Blut floß in Strömen über den Stein und drang bis in sein Inneres. Dieser Stein mit den roten Adern erzählt noch heute von der Bluttat.

Aber trotz aller Anstrengungen konnte Balor seinem Geschicke nicht entgehen.

Balor fuhr nun oft nach der gegenüberliegenden Küste, da er sich das Land unterworfen hatte und Gabhaidh Kriegswaffen für ihn schmieden mußte. Im Laufe der Jahre wuchs der Sohn MacCinnfhaolaidhs



Bd-11-242_Maerchen aus Irrland Flip arpa

zum Jüngling heran, ohne daß Balor etwas von seiner Abstammung erfuhr. Er wurde ein ausgezeichneter Schmied, und Balor gewann ihn lieb.

Aber der Sohn MacCinnfhaolaidhs kannte das Geheimnis seiner Geburt und wußte von dem Anschlag Balors auf ihn und seine Brüder und der Tötung des Vaters.

Oftmals ging er hinaus zu dem blutbespritzten Steine. Eines Tages kam Balor in die Schmiede, als der junge Schmied ganz allein dort war. Und es ereignete sich, daß Balor sich der Tötung des Mac-Cinnfhaolaidh rühmte.

Da nahm der junge Schmied eine glühende Eisenstange aus der Feueresse und stieß sie dem Balor mitten durch das Basiliskenauge mit solcher Gewalt, daß sie zum andern Auge herausfuhr.

So rächte der Sohn von MacCinnfhaolaidh seinen Vater, indem er seinen Großvater erschlug.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt