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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Die Kiste

In früheren Zeiten lebte einmal ein König, der wünschte seinen Sohn vor dem Hinscheiden vermählt zu sehen. Der Sohn meinte, dann wäre es am besten, wenn er sich bald eine Frau suchte. Und so gab der Vater ihm fünfzig Pfund für die Werbung. Er war nun einen ganzen Tag unterwegs, und als die Nacht kam, kehrte er in ein Gasthaus ein, in dem er bleiben konnte. Er ging in das Gastzimmer, in dem ein helles Feuer flackerte. Als er seine Mahlzeit eingenommen hatte, kam der Wirt auch herein, um mit ihm zu plaudern. Dem erzählte er von der Reise, auf der er sich befand. Der Wirt meinte, er hätte nicht nötig, noch weiter zu gehen. Seinem Schlafzimmer gegenüber läge ein kleines Haus. Der Besitzer dieses Hauses habe drei schöne Töchter. Wenn er am Morgen sich an sein Fenster stelle, werde er eine nach der anderen kommen und sich ankleiden sehen. Eine sei wie die andere, und er könne sie nicht voneinander unterscheiden,



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doch habe die Älteste ein Muttermal. Viele seien gegangen, sich um sie zu bewerben; doch habe keiner sie haben können, da jeder Bewerber sagen mußte, ob die von ihm Geliebte jünger oder älter sei. Und wenn er es herausfände, würde sie ihn hundert Pfund kosten. »Ich habe nur ein halbes Hundert«, sprach der Königssohn. »Ich werde dir das andere halbe Hundert geben«, sagte der Hauswirt, »wenn du mir's nach einem Jahr und einem Tag zurückzahlen willst. Und wenn du es nicht tust, sollst du einen Streifen Haut vom Kopf bis zur Fußsohle einbüßen.«

Am Morgen stand er auf und trat ans Fenster. Er sah, wie die Mädchen kamen, um sich anzukleiden. Nach dem Frühmahl ging er hinüber zum Haus ihres Vaters. Er wurde in ein Zimmer geführt, und der Herr des Hauses trat ein, um ihn zu begrüßen. Er sprach von seiner Reise und erwähnte: »Man sagt mir, daß Ihr drei schöne Töchter habt.« —»Die habe ich, doch fürchte ich, daß Ihr nicht derjenige sein werdet, der sie gewinnt.« — »Auf jeden Fall will ich den Versuch machen«, sprach er. Die drei wurden ihm nun vorgeführt, und man fragte ihn, ob die, welche ihm am besten gefiele, die Jüngere oder Ältere sei. Er beschloß, die mit dem Muttermal zu nehmen, weil er wußte, daß sie die Älteste war. Sie selbst war sehr froh, daß er sich für sie entschied. Nun fragte er ihren Vater, welchen Preis er für sie verlange, und der Mann verlangte hundert Pfund. Er kaufte sie, brachte sie in sein eigenes Haus und heiratete sie. Kurz nach der Hochzeit verschied sein Vater.

Einen oder zwei Tage nach dem Tode des alten Königs war der junge Fürst auf der Jagd. Da sah er ein großes Schiff landen. Er ging an den Strand hinab, um den Kapitän zu fragen, was er an Bord habe. Der Kapitän sagte, es sei eine Ladung Seidenstoffe. »Dann mußt du mir für meine Frau ein Gewand geben von der schönsten Seide, die du mit dir führst«, sagte er. — »Du mußt wahrlich eine außerordentlich gute Frau haben«, rief der Kapitän aus, »wenn du für sie ein Kleid aus meiner besten Seide haben willst!« — »Das habe ich auch«, sprach der König, »eine Frau, von deren Art es nicht viele gibt.« — »Würdest du eine Wette eingehen«, sagte der Kapitän, »daß ich bei allen ihren guten Eigenschaften keinen Zulaß in euer Zimmer bekomme?«



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— »Ich gehe jede Wette ein, daß es dir nicht gelingt.« — »Welche Wette willst du abschließen?«fragte der Kapitän. — »Ich will mein Erbe verpfänden«, sprach der König. Darauf der Kapitän: »Ich will dir alle Seidenballen auf meinem Schiffe darauf verpfänden, daß es mir gelingt.« Der Kapitän kam also an Land, und der König ging an Bord.

Der Kapitän ging zu einer Hühnerfrau und fragte sie, ob sie nicht ausfindig machen könnte, wie man heute nacht in des Königs Gemach gelangte. Die Hühnerfrau dachte eine Weile nach und sagte dann: Sie glaube nicht, daß es irgendeinen Weg gebe, der erfolgreich sei. Der Kapitän erhob sich und wollte gehen. Da rief sie: »Halt, wartet einmal, mir ist etwas eingefallen. Ihre Kammerfrau und ich sind miteinander befreundet. Ich werde ihr erzählen, daß ich Nachricht von meiner Schwester erhalten habe, daß ich sie kaum mehr lebend antreffen würde. Ich werde der Königin sagen, daß ich zu meiner Schwester reisen muß, daß ich eine große wertvolle Kiste habe und ihr größten Dank schuldig wäre, wenn ich für die Zeit meiner Abwesenheit diese Kiste in ihrem eigenen Schlafgemach unterstellen dürfte.«

Sie ging zur Königin, fragte sie und bekam die Erlaubnis. Nun wurde der Kapitän in die Kiste gesteckt, und des Königs Diener mußten sie ins Schlafgemach bringen. Die Königin selber war im Zimmer, müde und gelangweilt, weil der König noch nicht zurückkam. Schließlich ging sie schlafen. Als sie ins Bett stieg, legte sie einen goldenen Ring von ihrem Finger und eine goldene Kette von ihrem Hals auf ein Bord nahe am Bett. Als nun der Mann in der Kiste annahm, daß sie eingeschlafen sei, schlich er heraus, nahm Kette und Ring an sich und kroch in sein Versteck zurück. Bei Tagesanbruch kam die Hühnerfrau und bat um ihre Kiste. Die Diener wurden herbeigeholt, und die Lade wurde herausgetragen. Als alle das Haus verlassen hatten, kletterte der Kapitän sogleich hervor und ging zu seinem Schiff zurück. Er schwenkte Kette und Ring vor dem König. Nun glaubte der König, der Kapitän sei bei seiner Frau gewesen, sonst könnte er nicht im Besitz des Ringes und der Kette sein. Er bat den Kapitän, ihn ans andere Ufer des Sees überzusetzen, und der



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Kapitän willigte ein. Als er ihn hinübergefahren hatte, kehrte er selbst zurück, um in des Königs Haus zu wohnen.

Des Königs Frau aber wußte nicht, was sie beginnen sollte, da der König nicht heimgekehrt war. Sie legte Männerkleider an und ging an den Strand. Dort fand sie ein Boot und fragte die Schiffer: »Wollt ihr mich nicht ans andere Ufer fahren?«Das taten sie gern. Nun ging sie immer weiter, bis sie an das Haus eines vornehmen Herrn kam. Sie pochte an die Tür und fragte die Magd, die ihr öffnete, ob ihr Herr vielleicht einen Stallknecht gebrauchen könne. Die Magd sagte: »Das weiß ich nicht, ich werde aber fragen gehen.«Als sie zu ihrem Herrn kam und ihn fragte, ob er einen Stallknecht nötig habe, sagte er ja und ließ ihn hereinkommen. Dann nahm er sie in seine Dienste, und sie war immer im Stall beschäftigt. Nun kam jede Nacht eine wilde Tierherde und hielt sich in einer leeren Scheune des Herrn auf. Mit ihr zog ein verwilderter Mann, dessen Gesicht von einem struppigen Bart verdeckt war. Sie bat öfter ihren Herrn, daß er ihr einen Burschen mitgeben möchte, um den Fremdling zu fangen. Der Herr wollte nicht einwilligen. »Ich habe nichts damit zu tun, und der Mann hat mir nichts getan«, sprach er. So ging sie eines Nachts allein und nahm heimlich den Schlüssel der Scheunentür mit sich. Sie lag still in einer Mulde, bis der wilde Mann mit den Tieren in der Scheune war. Nun holte sie die Diener herbei, und sie griffen den Mann. Sie nahmen ihn mit ins Haus und schnitten ihm den Bart ab. Als der Bart fiel, erkannte sie den König, ließ es sich aber nicht merken. Und er erkannte sie nicht. Am Morgen wollte er aufbrechen. Doch sie bat ihren Herrn: »Behaltet ihn, die Arbeit wird mir zu schwer, und ich brauche Hilfe!« So willigte der Herr ein, ihn zu behalten. Sie nahm ihn mit in den Stall, den sie nun gemeinsam reinigten. Bald darauf fragte sie ihren Herrn um Urlaub nach Hause zu ihren Angehörigen und Freunden. Der ward ihr bewilligt, und sie durfte ihren Gefährten und die beiden besten Pferde aus dem Stalle mitnehmen.

Als sie unterwegs waren, fragte sie ihn so nebenbei: »Warum bist du eigentlich mit den wilden Tieren umhergezogen, und was triebst du vor dieser Zeit?« Er blieb ihr die Antwort schuldig. Sie reisten



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weiter, bis sie an das Gasthaus kamen, in dem er sich die fünfzig Pfund geliehen hatte. Als sie auf das Haus zuritt, weigerte er sich einzutreten. Sie fragte ihn, ob er etwas Unrechtes getan habe, daß er nicht eintreten wolle. Er sprach: »Ich habe von diesem Manne fünfzig Pfund bekommen.«Die Frage, ob er sie zurückgezahlt, verneinte er und erzählte ihr, daß er einen Streifen Haut vom Kopf bis zur Sohle verlieren sollte, wenn die Schuld nicht in einem Jahr und einem Tag beglichen sei. Sie sprach: »Das wäre wohl verdient, aber ich werde dennoch heut nacht in dem Gasthaus bleiben.« Sie hieß ihn die Pferde in den Stall bringen. Dann traten sie ein. Er stand mit gesenktem Kopf unter der Stalltür. Der Hausherr kam heraus und sah ihn. »Habe ich dich hier, mein Bürschchen«, sagte er, »kommst du, um deine Schulden zu bezahlen?« —»Nein«, sagte er. Dann ging er hinein, und man wollte anfangen, ihm den Streifen Haut abzuschneiden. Sie hörte den Lärm und fragte, was denn mit ihrem Burschen geschehe. Sie sprachen: »Es wird ihm ein Streifen Haut vom Scheitel bis zur Sohle abgezogen.« —»Wenn das geschieht«, sagte sie, »darf er aber nicht einen Tropfen Blut dabei verlieren. Bringt dies Leinentuch herein und laßt ihn darauf stehen, und wenn nur ein Tropfen Blut von ihm darauf sich zeigt, werdet ihr mit einem weiteren Hautstreifen dafür büßen.«

Da blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihn gehen zu lassen. Sie konnten es nicht ändern. Am frühen Morgen nahm sie ihn mit herüber in das Haus ihres Vaters. Wenn er am Abend vorher dagegen war, in das Gasthaus zu gehen, so war er noch mehr dagegen, ihr Vaterhaus zu betreten. »Hast du denn hier auch Unrecht getan, daß du dich so sträubst hineinzugehen?« —»Aus diesem Hause habe ich vor langer Zeit meine Frau heimgeführt.« — »Was ist denn aus ihr geworden?« —»Ich weiß es nicht.« — »Dann mußt du auch geduldig ertragen, was dir geschieht.«

Als der Vater ihn sah, sprach er: »Habe ich dich endlich hier! Wo ist deine Frau?« —»Das kann ich dir nicht sagen.« — »Was hast du ihr getan?«fragte der Vater weiter. Auch das konnte er nicht sagen. Da blieb nur noch übrig, ihn an einem Baum aufzuhängen. Der Tag des Hängens sollte ein großer Tag werden, und sehr viele Edelleute



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sollten kommen, es anzusehen. Sie fragte ihren Vater, was denn mit ihrem Burschen geschehen sollte. Der Vater sagte: »Man wird ihn hängen. Er erwarb sich eine Frau aus meinem Hause und kann nicht sagen, was mit ihr geschehen ist.« Sie ging hinaus und sah die Edelleute zur Stadt hereinkommen. Den Besitzer des schönsten Pferdes fragte sie, was es wert sei. »Hundert Pfund«, sagte er. »Und wenn es fünfhundert wären, so wird es mein«, sprach sie. Sie befahl dann ihrem Burschen, dem Tier einen Schuß zu geben. Dann fragte sie ihren Vater, ob der Bursche denn damals für seine Frau bezahlt habe. Das bejahte er. »Wenn er bezahlt hat«, sprach sie, »hast du nichts mehr von ihm zu fordern, er kann mit ihr tun, was er will. Ich habe das schönste Pferd gekauft, das heut in die Stadt kam, und habe es von meinem Burschen erschießen lassen. Wer wagt mir zu sagen, das wäre unrecht?« Da konnte man nichts tun als ihn freilassen, weil er sie gekauft hatte. Dann ging sie in ihres Vaters Haus und bat eine ihrer Schwestern um ein Kleid. »Was willst du mit dem Kleid beginnen?« fragte die. »Laß nur das Fragen; wenn ich es verderbe, werde ich es bezahlen.« Als sie das Kleid anlegte, erkannten ihr Vater und ihre Schwestern sie. Sie erzählten ihm nun sogleich, daß er der Reisebegleiter seiner Frau wäre, doch wollte er es nicht glauben. Da legte sie abermals die Männerkleider an. Dann zogen sie weiter, er und sie. Sie gingen, bis sie in die Nähe seiner alten Heimat kamen. »Nun«, sagte sie, »wollen wir hier zur Nacht bleiben. Setze dich oben auf die Treppe und schreibe alles auf, was ich mit dem Herrn des Hauses sprechen werde.«Als sie das Haus betraten und sich niedersetzten, fing sie mit dem Herrn des Hauses ein Gespräch an. »Ich glaubte«, sprach sie zu dem Kapitän, »daß hier ein König wohnte. Auf welche Weise bist du denn hierhergekommen?« — »Vor mir wohnte hier ein König. Ich denke, da du ein Fremder bist, kann ich dir erzählen, wie ich hierherkam.« — »Das kannst du«, sagte sie, »ich werde keine Geschichte daraus machen, die Sache geht mich ja nichts an.« Nun erzählte er ihr bis ins kleinste, wie die Hühnerfrau ihn in die Kiste gesteckt hatte und alles übrige bis zum Fortgehen des Königs am nächsten Morgen.

In der Frühe des folgenden Tages ging der Herr des Hauses zur Gerichtssitzung.



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Er sagte: »Wenn du es nicht eilig hast, könntest du mitkommen und der Sitzung beiwohnen.« Sie erwiderte: »Ich gehe mit, hätte aber gern meinen Burschen bei mir.« Sie fuhr mit dem Kapitän in der Kutsche, ihr Bursche ritt hinterher. Als die Gerichtssitzung zu Ende war, sprach sie, sie würde gern ein paar Worte sagen, wenn man es ihr gestattete. Man war neugierig, was sie zu sagen hätte. Sie wandte sich an ihren Burschen und sagte: »Steh auf und bringe ihnen, was du gestern abend geschrieben hast.« Als sie das Papier gelesen hatten, fragte sie: »Was müßte mit solch einem Mann geschehen?« —»Aufhängen, wenn er hier wäre«, riefen sie alle. »Da habt ihr ihn«, sprach sie, »tut mit ihm, was ihr wollt.« Dann kehrten sie und der König in ihr eigenes Haus zurück und lebten wie in früherer Zeit.


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