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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Die Hexe von Fife

Im Königreich Fife lebte in alten Tagen ein bejahrter Mann und seine Frau. Der Alte war ein friedfertiger, stiller Bursche, die Frau aber wankelmütig und zerstreut; einige Nachbarn pflegten sie schief anzusehen und flüsterten einander zu, sie sei eine Hexe. Ihr Mann fürchtete das auch, denn sie hatte die seltsame Angewohnheit, in der Dämmerung zu verschwinden und die ganze Nacht auszubleiben; und wenn sie morgens heimkehrte, sah sie ganz blaß und erschöpft aus, als sei sie weit gereist oder habe harte Arbeit hinter sich.



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So prüfte und beobachtete er sie sorgsam, um zu ergründen, wohin sie ging oder was sie tat. Aber niemals gelang ihm das; denn stets schlüpfte sie aus der Tür, wenn er gerade nicht achtgab, und bevor er ihr folgen konnte, war sie verschwunden. Als er schließlich die Ungewißheit nicht länger ertragen wollte, fragte er sie eines Tages geradeheraus, ob sie eine Hexe sei oder nicht. Und das Blut gerann ihm in den Adern, als sie ohne Zögern erwiderte: Ja, das wäre sie, und wenn er verspräche, es niemand weiterzusagen, würde sie ihm nach dem nächsten Mitternachtsausflug alles erzählen. Der gute Mann versprach's. Es schien ihm wichtig, viel über die Zauberkünste seiner Frau zu erfahren.

Er brauchte nicht lange zu warten, bis er davon hörte. In der folgenden Woche war Neumond, und jedermann weiß, das ist die schönste Zeit für die Hexen zum Tummeln. In der ersten Neumondnacht verschwand sein Weib und kehrte nicht vor dem frühen Morgen bei Tagesanbruch heim.

Als er sie nach ihrem Verbleiben fragte, fing sie sehr fröhlich an zu erzählen: Sie und vier Gefährten hatten sich in der Heide bei der alten Kirche getroffen, grüne Lorbeerzweige und Schierlingsstengel bestiegen, die sich augenblicklich in Pferde verwandelten. Hurtig wie der Wind waren sie übers Land geritten und hätten Füchse, Wiesel und Eulen gejagt. Schließlich hätten sie den Forth durchschwommen und den Gipfel des Beil Lomond erreicht. Da seien sie von den Pferden abgesprungen, und aus Hörnern, die von keiner sterblichen Hand geformt, hätten sie Bier getrunken, das in keiner irdischen Brauerei gebraut. Und danach sei ein winzig kleines Männlein unter einem großen bemoosten Stein hervorgekommen mit einem zierlichen Dudelsack unter dem Arm, und den habe es so schön geblasen, daß bei diesen Klängen die Forellen aus dem See dort unten hochgeschnellt und die Hermeline aus ihren Löchern hervorgehuscht wären. Und die Raben und Reiher kamen im Finstern und setzten sich auf die Bäume, um zu lauschen. Und alle Hexen tanzten, bis sie so müde waren, daß sie kaum auf ihren Rossen sitzen konnten, als sie wieder aufstiegen und vor dem Hahnenschrei den Heimritt antraten.



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Der gute Mann lauschte schweigend der langen Geschichte, schüttelte dabei den Kopf, und als sie zu Ende war, sagte er nur: »Und was habt ihr nun von all dem Getanze? Ihr hättet es euch zu Hause ein ganz Teil gemütlicher machen können!«

Beim nächsten Neumond ging die Alte wieder zur Nacht davon. Als sie am Morgen zurückkam, fing sie wieder an zu erzählen: Diesmal hätten sie Herzmuschelschalen als Boote benutzt und wären über die stürmische See weit bis nach Norwegen gesegelt. Dort hätten sie unsichtbare Sturmpferde bestiegen und wären über Berge und Schluchten und Gletscher geritten und geritten bis ins Gebiet der Lappen, das noch unter einer Schneedecke lag. Hier aber feierten alle Elfen, Feen und Meerfrauen des Nordens ein Fest mit Zauberern, Heinzelmännchen, Kobolden und sogar den Wilden Jägern, die nie ein sterblich Auge erblickt. Und die Hexen von Fife feierten und tanzten und schlemmten und sangen mit ihnen, und was noch wichtiger war, lernten von den anderen gewisse Zauberworte, die durch die Lüfte tragen, alle Riegel und Schranken sprengen und zu jedem Ort Zutritt verschaffen, an den sie sich wünschten. Trunken von all der neuen Weisheit waren sie dann heimgekehrt.

»Wie seid ihr denn auf solch ein Land verfallen?« brummelte der Alte verächtlich vor sich hin. »Es wäre euch in euern Betten ein gut Teil wärmer gewesen!«

Als aber die Frau von einem neuen Abenteuer einkehrte, wurde er schon aufmerksamer auf ihr Treiben. Sie und ihre Feundinnen wären in einer Bauernkate zusammengetroffen, so erzählte sie, und da sei ihnen zu Ohren gekommen, es hätte der Lordbischof von Carlisle einige seltene Weine in seinem Keller liegen. Da haben sie ihre Füße auf den großen Haken gesetzt, an dem der Wasserkessel hing, und die Zauberformel von Lappland gesprochen. Und ehe sie sich's versahen, flogen sie den Kamingang wie Rauchschwaden hinauf und segelten wie Federwölkchen durch die Lüfte. In kürzerer Zeit, als man es berichten kann, landeten sie beim Bischofspalast von Carlisle. Riegel und Schranken wichen vor ihnen, und sie stiegen hinab in seinen Keller, kosteten seinen Wein und waren beim Hahnenschrei in Fife zurück als nüchterne alte Weiber.



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Als der alte Mann das hörte, erhob er sich bedächtig von seinem Stuhl; denn er liebte guten Wein über alles, aber selten fand er Gelegenheit. »Meiner Treu, du bist aber ein Weib, auf das man stolz sein muß!«rief er. »Sag mir Worte, Frau, und dann will ich mich persönlich aufmachen und seiner Lordschaft Wein persönlich zu schmecken suchen.«

Aber die gute Frau schüttelte den Kopf: »Nein, nein, das darf ich nicht! Täte ich's und du sagtest es weiter, würde bald die ganze Welt auf dem Kopfe stehn. Jedermann würde seine Arbeit im Stich lassen, über die Welt dahinfliegen und nach den Leckereien der anderen gierig sein. Nein, sei du nur zufrieden, Alter. Du kommst schon durchs Leben mit dem, was du weißt!«

Obgleich der Mann versuchte, sie mit den zärtlichsten Worten zu überreden, wollte sie ihm ihr Geheimnis nicht preisgeben. Aber der Alte war schlau, und der Gedanke an den Wein des Bischofs ließ ihn nicht ruhen. So ging er Nacht für Nacht und versteckte sich in der Kate der alten Frau in der Hoffnung, sein Weib und die Gefährten würden sich dort wieder treffen. Eine lange Zeit hindurch war das alles vergeblich. Schließlich wurde seine Mühe belohnt; denn eines Abends versammelten sich dort alle fünf alten Weiber und erzählten sich mit gedämpfter Stimme und erschütterndem Lachen, was ihnen in Lappland begegnet war. Dann liefen sie zur Feuerstelle, kletterten eine nach der andern auf einen Stuhl und setzten ihren Fuß auf den rußigen Haken. Darauf flüsterten sie die Zauberformel, und hei wie der Blitz waren sie den Rauchfang hinauf und verschwunden, bevor der Alte nur Atem schöpfen konnte.

»Das kann ich auch«, sagte er sich, kroch aus seinem Versteck hervor und lief zur Feuerstelle. Er setzte seinen Fuß auf den Haken, wiederholte die Worte, und hinauf ging's in den Schornstein und durch die Lüfte hinter seiner Frau und ihrer Gesellschaft her, als wäre er ein geborener Zauberer.

Da Hexen nicht über die Schulter zu sehen pflegen, bemerkten sie ihn erst, als sie den Bischofspalast erreichten und in den Keller hinabschlüpften. Sie waren nicht allzu erfreut, ihn zwischen sich zu finden; immerhin, das half nun nichts, und sie ließen sich nieder, um



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sich's wohl gehn zu lassen. Sie zapften dies Faß an, sie zapften jenes an, tranken von jedem ein wenig, aber nicht zuviel; denn sie waren vernünftige alte Weiber und wußten, daß sie klare Köpfe behalten mußten, wollten sie heim vorm Hähnekrähn.

Der Alte aber war nicht so weise. Er schlürfte und schlürfte, bis ihm zuletzt ganz schläfrig wurde. Er legte sich auf den Boden und fiel in einen tiefen Schlaf. Als das seine Frau sah, meinte sie, eine gute Lehre für seine Neugier könnte ihm nichts schaden. Als es Zeit zum Aufbruch war, machten sie und ihre vier Freundinnen sich fort, ohne ihn zu wecken.

Einige Stunden schlief er friedlich. Als zwei Bediente des Bischofs hinunterkamen, um Wein für ihres Herrn Tafel zu holen, fielen sie fast über ihn in der Dunkelheit. Höchst erstaunt, ihn hier vorzufinden, da die Kellertür fest verschlossen war, zerrten sie ihn herauf ans Tageslicht, schüttelten und knufften ihn und fragten ihn aus, wie er eigentlich dahin gekommen. Der arme alte Mann war so verwirrt über das rauhe Erwachen, und sein Kopf schien sich so schnell zu drehen, daß er nichts weiter herausbrachte als dies: Er käme von Fife und wäre mit dem mitternächtlichen Wind gereist.

Sobald sie das hörten, schrien die Diener, das wäre ein Zauberer, zogen ihn vor den Bischof, und da Bischöfe in jenen Tagen einen heiligen Schrecken vor Zauberern und Hexen hatten, wollte er ihn lebendig verbrennen lassen. Als das Urteil verkündet wurde, das könnt ihr glauben, wünschte sich der arme Mann von Herzen, er wäre zu Hause in seinem Bett geblieben und hätte nie nach des Bischofs Wein gedürstet.

Aber nun war es zu spät, sich das zu wünschen; denn die Knechte zogen ihn heraus auf den Hof, legten ihm eine Kette um den Leib und befestigten sie an einem großen eisernen Pfahl. Dann schichteten sie Reisigbündel um seine Füße und zündeten sie an.

Als das erste kleine Flammenzünglein emporleckte, glaubte der arme Alte, seine letzte Stunde sei herangekommen. Doch hatte er bei dem Gedanken völlig vergessen, daß seine Frau eine Hexe war. Gerade als die Flammenspitzen schon seine Kleider sengten, erhob sich plötzlich ein Sausen und Geflatter in der Luft, und ein großer



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grauer Vogel erschien mit ausgebreiteten Schwingen am Himmel, stieß plötzlich herab und ruhte einen Augenblick auf des alten Mannes Schulter. Und im Schnabel trug der graue Vogel eine kleine rote Nachtmütze, die er zu aller Erstaunen dem Gefangenen auf den Kopf stülpte. Dann ließ er ein grimmiges Krächzen hören und flog wieder davon. Aber für des alten Mannes Ohren war dies Geschrei die süßeste Musik, die er je gehört. Denn ihm war es nicht das Krächzen eines irdischen Vogels, sondern die Stimme seiner Frau, die ihm Zauberworte zuraunte. Als er die hörte, jubelte er vor Freuden; denn er wußte, nun winkte die Freiheit. Er rief sie laut, seine Ketten fielen ab, und er stieg in die Lüfte hoch und höher, während ihm die Blicke der Zuschauer mit ehrfürchtigem Schweigen folgten.

Er flog geradewegs nach dem Königreich Fife, ohne ihnen auch nur Lebewohl zusagen. Und als er sich wieder geborgen zu Hause fand, versuchte er nie wieder, die Geheimnisse seiner Frau aufzuspüren, und ließ sie in Zukunft allein bei ihren Künsten.


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