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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Der Robbenfänger und der Wassermann

Es war einmal ein Mann, der lebte nicht weit von Joan o'Groats Haus, was im äußersten Norden Schottlands liegt, wie jedermann weiß. Er wohnte in einer kleinen Hütte am Seeufer und verdiente sich seinen Unterhalt mit dem Fang von Robben und dem Verkauf ihrer Felle, die sehr wertvoll sind.

Die Tiere kamen in großen Scharen aus dem Meer und legten sich auf die Felsen bei seinem Hause, um sich in der Sonne zu wärmen. So war es nicht schwer, sie rückwärts zu beschleichen und zu jagen. Einige dieser Robben waren größer als die anderen, und die Leute auf dem Lande munkelten, das seien überhaupt keine Robben, sondern Wassermänner und Meerfrauen, die aus ihrem Heimatlande tief unter der See herstammten. Sie nähmen diese seltsame Verkleidung an, damit sie durch die Flut hindurchkommen und die Luft unsrer Erde atmen könnten.

Aber der Robbenfänger lachte nur über sie und meinte, diese Robben wären vor allem zum Jagen reif; denn ihre Felle waren so groß, daß er einen besonderen Preis dafür bekam.

Nun geschah es eines Tages, daß er wieder seinem Handwerk nachging und mit seinem Jagdmesser nach einem Seehund stieß. War der Stoß nun nicht sicher genug geführt oder war sonst etwas im Spiele, jedenfalls glitt das Tier mit einem lauten Schmerzensgeheul von dem Felsen in die See und verschwand unter dem Wasser, das Messer im Leibe.

Der Robbenfänger war recht verdrießlich über seine Ungeschicklichkeit und über den Verlust seines Messers. So ging er niedergeschlagen heim zum Essen. Auf dem Wege traf er einen Reiter, der so hochgewachsen war und so seltsam dreinschaute und ein so riesiges Pferd ritt, daß er stehenblieb und ihn erstaunt musterte, neugierig,



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wer das sei und aus welchem Lande er komme. Der Fremde hielt ebenfalls an und fragte ihn nach seinem Beruf. Als er hörte, er sei Robbenfänger, bestellte er sofort eine große Anzahl von Seehundsfeilen. Der Robbenfänger war hoch erfreut; denn eine solche Bestellung bedeutete eine große Summe Geldes für ihn. Aber er machte ein langes Gesicht, als der Reiter hinzusetzte, die Felle müßten unbedingt noch am selben Abend geliefert werden.

»Das kann ich nicht«, sagte er mit enttäuschter Stimme, »denn die Robben werden erst morgen früh zu den Felsen zurückkehren.« —

»Dann werde ich dich mitnehmen an einen Platz, wo du jede Anzahl von Seehunden finden wirst, die du haben willst«, antwortete der Fremdling, »sitz nur auf meinem Pferde hinten auf und komm mit!«

Der Robbenfänger stimmte zu und schwang sich hinter den Reiter, der die Zügel schießen ließ, und los stürmte das Pferd mit solcher Windeseile, daß er alle Mühe hatte, sich aufrecht zu halten. Fort und fort rasten sie und flogen dahin, bis sie zuletzt an den Rand eines mächtigen Abgrunds kamen, der steil abfiel ins Meer.

»Steig ab!« sagte er kurz. Der Robbenfänger tat, wie ihm geheißen war, und als er wieder auf festem Boden stand, lugte er vorsichtig über den Klippenrand, ob wohl Robben auf den Steinen darunter zu sehen wären. Zu seinem Verwundern sah er überhaupt keine Felsen, nur die weite blaue See, die bis an den Fuß der Klippe heranspülte.

»Wo sind die Robben, von denen Ihr spracht?«fragte er besorgt und verwünschte es im stillen, sich in ein so voreiliges Abenteuer eingelassen zu haben. »Du wirst sie sogleich erblicken«, antwortete der Fremde, der das Pferd beim Zaume hielt. Der Robbenfänger war nun vollends in Ängsten; denn er merkte wohl, daß ihm Schlimmes drohte, und wußte, wie vergeblich es sei, an einem so einsamen Orte um Hilfe zu rufen.

Es schien, als ob sich seine Befürchtungen nur als allzu wahr herausstellen sollten; denn im nächsten Augenblick legte sich des Fremden Hand auf seine Schulter, und er fühlte, wie er über die Klippe gerissen wurde und mit lautem Aufkiatschen ins Meer stürzte. Er



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glaubte, sein letztes Stündlein sei gekommen, und er begriff nicht, wie man solch ein Unrecht an einem Unschuldigen verüben konnte.

Doch zu seinem Erstaunen merkte er, daß mit ihm eine Veränderung vorgegangen war: denn anstatt vom Wasser erstickt zu werden, konnte er ganz leicht atmen, und er und sein Gefährte, der immer noch dicht an seiner Seite war, schienen so schnell ins Meer hinabzusinken, wie sie durch die Luft geflogen waren.

Tiefer und tiefer sanken sie, niemand weiß wie tief, bis sie endlich an ein großes gewölbtes Tor kamen, das schien aus rosenroten Korallen gemacht und war besetzt mit Herzmuscheln. Es öffnete sich von selbst, und als sie eintraten, befanden sie sich in einem großen Saal, dessen Wände aus Perlmutter gebildet und dessen Boden aus glattem, festem Seesand bestand.

Der Saal war dicht gedrängt von Gästen, aber es waren keine Menschen, sondern Robben, und als sich der Robbenjäger an seinen Begleiter wandte und ihn fragte, was das alles bedeutete, erstarrte er fast vor Angst bei der Entdeckung, daß der ebenfalls die Gestalt eines Seehundes angenommen hatte. Noch größer wurde sein Entsetzen, als er sich selbst zufällig in einem großen Spiegel an der Wand besah: Auch er war nicht mehr den Menschen ähnlich, sondern in einen hübschen, braunfelligen Seehund verwandelt.

>Ach, wehe mir!<sagte er zu sich selbst. >Wiewohl ich nichts verbrochen habe, hat der listige Fremde einen unheilvollen Zauber auf mich gelegt, und nun bleibe ich in dieser schauderhaften Gestalt bis an mein Lebensende.<

Anfangs sprach keins der mächtigen Geschöpfe mit ihm. Aus diesem oder jenem Grunde schienen sie alle sehr traurig zu sein und bewegten sich leise durch den Saal, sprachen gedämpft und betrübt miteinander oder lagen schwermütig auf dem Sandboden und wischten sich große Tränen aus ihren Augen mit ihren weichen felligen Flossen. Doch auf einmal bemerkten sie ihn und flüsterten miteinander. Plötzlich entfernte sich sein Führer und verschwand durch eine Tür am Ende des Saales. Als er wiederkam, hielt er ein mächtiges Messer in seiner Hand. »Hast du das schon einmal gesehen?«fragte er und



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hielt es dem unglückseligen Robbenfänger vor die Augen, der zu seinem Schrecken sein eigenes Jagdmesser erkannte, mit dem er den Seehund am Morgen getroffen hatte und welches das verwundete Tier mit sich genommen.

Bei diesem Anblick fiel er auf sein Angesicht und bat um Gnade; denn er schloß daraus, daß die Bewohner des Gewölbes erzürnt waren über das Unrecht an ihrem Gesellen und auf irgendeine Zauberweise ihn gefangen und in ihre unterirdische Wohnung herabgeschafft hatten, um ihre Rache an ihm auszuüben und ihn zu töten. Statt dessen aber scharten sie sich um ihn und neben ihre weichen Nasen an seinem Fell, um ihm ihr Wohlwollen zu zeigen, und flehten ihn an, sich nicht zu beunruhigen; denn kein Schade würde ihm geschehen, und sie würden ihn ihr ganzes Leben lang lieben, wenn er nur täte, was sie von ihm verlangten.

»Sagt mir, was es ist«, erwiderte der Robbenfänger, »ich will es gern tun, wenn es in meiner Macht liegt.« —»Folge mir«, antwortete sein Führer, und er führte ihn an die Tür, durch die er verschwunden war, als er das Messer holte. Der Robbenfänger folgte ihm. Und dort, in einem kleinen Raum, erblickte er einen großen braunen Seehund auf einem Lager von blaßrotem Seetang mit einer klaffenden Wunde in der Seite.

»Das ist mein Vater«, sagte sein Führer, »den du heute morgen verwundet hast. Du hast ihn für einen der gemeinen Seehunde gehalten, die im Meere leben; es war aber ein Wassermann mit Sprache und Verstand wie ihr Sterblichen auch. Ich habe dich hierhergebracht, damit du ihm die Wunden verbindest; denn keine andre Hand außer der deinigen kann ihn gesund machen.«

»Ich habe kein Geschick in der Heilkunst«, sagte der Robbenfänger, erstaunt über die Nachsicht dieser seltsamen Geschöpfe, denen er solch Unrecht getan, »aber ich will die Wunde nach bestem Können verbinden, und es tut mir vom Herzen leid, daß meine Hand sie schlug.«

Er ging zu dem Bett hinüber, beugte sich über den verwundeten Wassermann und wusch und besorgte den Kranken, so gut er konnte. Die Berührung mit seinen Händen schien Wunder zu wir-



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ken; denn kaum war er fertig, als sich die Wunde schon zu schließen und zu heilen schien. Nur die Narbe blieb übrig, und der alte Seehund sprang auf, so munter wie je. Da erhob sich große Freude im ganzen Robbenpalast. Sie lachten, und sie schwatzten, und sie küßten sich nach ihrer seltsamen Art: Sie scharten sich um ihren Gesellen und neben ihre Nasen gegen seine, als wollten sie ihm zeigen, wie entzückt sie wären über die schnelle Heilung.

Aber die ganze Zeit über stand der Robbenfänger allein in einer Ecke, und sein Geist war erfüllt von finsteren Gedanken; denn obwohl er nun einsah, sie hätten keine Absicht, ihn zu töten, behagte ihm doch nicht die Aussicht, den Rest seines Lebens als Seehund klaftertief unter dem Meere zu verweilen.

Doch zu seiner großen Freude nahte sich ihm wieder der Führer und sagte: »Nun steht es dir frei, zu deinem Weib und deinen Kindern heimzukehren. Ich will dich zu ihnen bringen, aber nur unter einer Bedingung.«

»Und welche wäre das?«fragte der Robbenjäger begierig, außer sich vor Freude über die Aussicht, unversehrt der oberen Welt und seiner Familie zurückgeschenkt zu werden.

»Daß du einen feierlichen Eid schwören willst, nie wieder einen Seehund zu verwunden.«

»Das will ich gern tun«, erwiderte er. Wenn auch das Gelübde den Verzicht auf seinen Lebensberuf bedeutete, so wußte er doch, er würde nur dann seine richtige Gestalt wiedergewinnen und könnte schließlich später etwas anderes tun.

So legte er den geforderten Eid mit aller Feierlichkeit ab, hielt seine Flosse hoch beim Schwur, und all die anderen Robben stellten sich um ihn als Zeugen. Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Säle, als die Worte gesprochen waren; denn er war der tüchtigste Robbenfänger im Norden.

Dann sagte er der seltsamen Gesellschaft Lebewohl. In Begleitung seines Führers zog er nochmals durch das äußere Korallentor und hoch und hoch und hoch durch das schattenhafte grüne Wasser, bis es anfing, immer lichter zu werden, und sie zuletzt auftauchten im Sonnenschein der Erde. Mit einem Sprung erreichten sie dann die



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Höhe der Klippe, wo das große schwarze Roß auf sie wartete und ruhig das grüne Gras abknabberte.

Als sie das Wasser verließen, fiel ihre seltsame Verkleidung von ihnen ab, und sie waren grad sowie zuvor: ein einfacher Robbenfänger und ein hochgewachsener gutgekleideter Mann im Reitanzug.

»Steig hinter mir auf«, sagte der letztere, als er sich in den Sattel schwang. Der Robbenfänger tat, wie ihm geheißen, hielt sich fest am Rock seines Gefährten; denn er erinnerte sich wohl, wie er beinah heruntergefallen wäre bei seiner ersten Reise. Dann geschah alles wie vorher: Der Zügel wurde freigegeben, und das Pferd sauste davon, und es dauerte nicht lange, da stand der Robbenfänger wieder wohlbehalten vor seiner eigenen Gartentür.

Er streckte seine Hand aus, um Lebewohl zu sagen, aber da zog der Fremde einen großen Beute! Goldes heraus und reichte ihn hin: »Du hast deine Pflicht bei dem Handel erfüllt -wir müssen es ebenso machen«, sagte er. »Man soll nie sagen dürfen, wir hätten eines ehrlichen Mannes Arbeit beansprucht, ohne uns erkenntlich zu zeigen; und das hier wird dir die Sorgen nehmen bis an deines Lebens Ende.«

Damit verschwand er. Als der erstaunte Robbenfänger den Beutel in seine Hütte brachte und das Gold auf den Tisch schüttete, stellte er fest, daß der Fremde wahr gesprochen hatte und er zeit seines Lebens ein reicher Mann sein würde.


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