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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Der Page und der Silberkelch

Es war einmal ein kleiner Page, der diente auf einem stattlichen Schloß. Er war ein gutmütiger Bursche und erfüllte seine Pflichten so willig und gut, daß ihn jedermann gern hatte, von dem hohen Grafen, dem er täglich mit gebeugtem Knie aufwartete, bis zum dicken alten Kellermeister, dessen Aufträge er ausführte.

Das Schloß stand auf einer Klippe hoch über der See, und obwohl die Mauern auf dieser Seite sehr stark waren, befand sich in ihnen eine kleine Hintertür. Sie ging auf eine schmale Treppenflucht hinaus, die an der Vorderseite der Klippe zum Ufer hinabführte, so daß jeder, der es mochte, an schönen Sommermorgen dort hinuntergehen und im schimmernden Meere baden konnte.

Auf der andern Seite des Schlosses waren Gärten und Spielgründe, die an einen langen Streifen heidebedeckten Odlandes grenzten, und in der Ferne ragte eine Hügelkette empor. Der kleine Page liebte es sehr, die Heide aufzusuchen, wenn seine Arbeit getan war; denn dann konnte er so viel herumtollen, wie er wollte: Hummeln jagen und Schmetterlinge fangen und nach Vogelnestern ausgucken, wenn gerade Brutzeit war.

Und der alte Kellermeister war sehr damit einverstanden; denn er wußte, wie gesund es für einen solchen Burschen war, sich viel im Freien herumzutreiben. Aber bevor der Junge hinausging, pflegte ihm der alte Mann immer eine Mahnung mitzugeben: »Paß gut auf, mein Kerlchen, und halte dich fern von dem Elfenhügel; denn dem



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kleinen Volk ist nicht zu trauen.« Dieser Elfenhügel, von dem er sprach, war eine kleine grüne Anhöhe, die nicht zwanzig Ellen vom Gartentor entfernt auf der Heide lag, und die Leute sagten, sie sei die Wohnstätte von Feen, die jeden voreiligen Sterblichen, der sich ihnen näherte, bestraften. Deswegen gingen die Landleute lieber eine halbe Meile daran vorbei, selbst am hellen Tage, als daß sie Gefahr liefen, zu nah an den Feenhügel zu geraten und sich den Zorn der kleinen Geister zuzuziehen. Und nachts hätten sie die Heide überhaupt nicht durchquert; denn jeder weiß, daß die Feen in der Dunkelheit umherschweifen und die Tür zu ihrer Behausung offensteht; und der unglückliche Sterbliche, der nicht aufpaßt, kann dann hineingeraten.

Nun war der kleine Page ein kecker Bursche, und anstatt vor den Feen Angst zu haben, war er sehr begierig, sie zu sehen und ihr Versteck aufzusuchen und auszuspüren, wie es dort zuging. So schlich er sich eines Nachts, als alle im Schloß im Schlafe lagen, durch die kleine Pforte und stahl sich die Steintreppen hinunter und am Meeresufer entlang, bis schließlich herauf zum öden Heideland, und dann ging er stracks auf die Erhebung los. Zu seinem Entzücken fand er die Spitze des Feenhügels aufgekippt. Aus der klaffenden öffnung strömten Lichtstrahlen hervor.

Sein Herz schlug heftig vor Erregung, aber er nahm sich den Mut, beugte sich nieder und schlüpfte ins Innere des Hügels. Dort fand er einen weiten Raum, der von zahllosen winzigen Kerzen erleuchtet war, und um einen blanken Tisch saßen Scharen von Feen und Elfen und Gnomen, in Grün und Gelb und Rot, in Blau und Lila und Scharlach gekleidet, kurz, in allen Farben, die man sich nur denken kann.

Er stand in einer dunklen Ecke und belauschte das geschäftige Treiben mit Staunen. Er wunderte sich, wie seltsam es doch sei, daß eine solche Anzahl winziger Wesen ihr eigenes, den Menschen ganz unbekanntes Leben führte, als plötzlich jemand - er konnte nicht sagen, wer - einen Befehl erteilte.

»Hole den Kelch!« rief der Eigentümer der unbekannten Stimme, und sogleich flitzten zwei kleine Feenpagen, ganz in scharlachroter



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Livree, vom Tische zu einem kleinen Schrank im Felsen und kehrten taumelnd unter der Last eines überaus wertvollen Silberkelches zurück, der von schön getriebener Arbeit und innen mit Gold gefaßt war. Er setzte ihn mitten auf den Tisch, und unter Händeklatschen und Freudengeschrei begannen alle Feen daraus zu trinken. Der Page konnte von seinem Platz aus sehen, daß niemand Wein hineingoß und der Kelch doch ständig voll war. Sogar der Wein, der darin funkelte, blieb nicht immer derselbe, sondern jeder Elf, wenn er nach dem Fuße griff, wünschte sich den Wein, den er am liebsten mochte, und schau, im Augenblick war der Kelch voll davon. >Es wäre eine feine Sache, hätte ich den Kelch bei mir zu Haus<, dachte der Page. >Niemand wird glauben, ich sei hier gewesen, wenn ich nicht etwas vorzuweisen habe.< So nahm er sich Zeit und paßte auf.

Plötzlich bemerkten ihn die Feen. Anstatt ärgerlich über seine Kühnheit und sein Eindringen zu sein, wie er wohl erwartete, schienen sie sehr erfreut, ihn zu sehen, und luden ihn ein, am Tische Platz zu nehmen. Aber allmählich wurden sie grob und unverschämt und spotteten über ihn, daß er damit zufrieden sei, bloßen Sterblichen zu dienen. Sie erzählten ihm, sie sähen alles, was auf dem Schlosse vorginge, und machten sich lustig über den alten Kellermeister, den der Page von ganzem Herzen liebte. Außerdem lachten sie über sein Essen und sagten, es wäre für Tiere gerade gut genug. Und wenn irgendeine neue Leckerei aufgetragen wurde von den scharlachroten Pagen, schoben sie die Schüssel zu ihm hinüber und meinten: »Koste einmal; denn solche Sachen bekommst du im Schloß doch nicht zu schmecken!«

Zuletzt konnte er ihre spöttischen Bemerkungen nicht länger mit anhören; außerdem wußte er, wenn er sich den Kelch sichern wollte, durfte er keine Zeit mehr verlieren. So sprang er plötzlich auf und faßte den Fuß fest mit der Hand: »Ich trinke euch mit Wasser zu!« rief er, und sofort verwandelte sich der rubinrote Wein in klares kaites Wasser. Er hob den Kelch an die Lippen, aber er trank nicht davon. Mit einem plötzlichen Schwung schüttete er das Wasser über die Kerzen, und im Nu war der Raum in Dunkelheit gehüllt. Er



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drückte den kostbaren Becher fest in die Arme, eilte zur Öffnung des Hügels, durch die er klar die Sterne schimmern sah. Es war auch höchste Zeit; denn mit einem Krach schlug der Spalt hinter ihm zu. Und bald hastete er über die nasse, taubedeckte Heide, die ganze Schar der Feen auf den Fersen. Sie waren außer sich vor Arger, und nach dem schrillen Wutgeheul, das sie ausstießen, konnte sich der Page wohl denken, daß er keine Gnade von ihren Händen zu erwarten hatte, wenn sie ihn griffen.

Und ihm sank der Mut; denn war er auch flink zu Fuß, so war ihm das Elfenvolk doch weit überlegen und gewann ständig an Raum. Alles schien verloren, als eine geheimnisvolle Stimme aus der Dunkelheit ertönte:

»Willst du an der Schloßtür stehn,
Mußt über die schwarzen Steine am Ufer gehn!«


***
Es war die Stimme eines armen Sterblichen, der von den Feen gefangengenommen war und der nicht wollte, daß ein gleiches Schicksal den abenteuerlustigen Pagen befiel; aber das wußte der kleine Bursche natürlich nicht. Er hatte einmal gehört, wenn jemand über den feuchten Sand ginge, über den die Wellen gerollt, so konnten ihn die Feen nicht mehr berühren, und der geheimnisvolle Vers erinnerte ihn daran.

So wandte er sich um und stürmte keuchend ans Ufer hinunter. Seine Füße sanken tief ein in den trockenen Sand, sein Atem ging stoßweise, und er bangte, er werde den Kampf aufgeben müssen. Aber er riß seine Kräfte zusammen, und gerade als die vorderste der Feen Hand an ihn legen wollte, sprang er über die Wassermarke auf den festen feuchten Sand, von dem sich die Wogen eben zurückgezogen hatten, und da wußte er, daß er gesichert war.

Das kleine Volk konnte keinen Schritt weiter vordringen, sondern stand auf dem trockenen Sand und kreischte vor Wut und Enttäuschung, während der siegesstolze Page unbehelligt am Ufer entlangrannte, den köstlichen Kelch in den Armen, behende die Treppen im Felsen aufstieg und durch die Hintertür verschwand. Und noch



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viele Jahre, lange nachdem der Page groß und ein tüchtiger Kellermeister geworden war, blieb der wunderbare Kelch in dem Schlosse als Zeugnis seines Abenteuers.


Copyright: arpa, 2015.

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