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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Junker Roland

Herr Roland und der Brüder zween,
Froh warfen sie den Ball.
Und ihre Schwester, Maid Ellen,
Gesellte sich hinzu.
Herr Roland stieß ihn mit dem Fuß,
Er fing ihn mit dem Knie;
Auf einmal stürmt er wild heran,
Läßt ihn kirchüber fliegen.
Maid Ellen rannte um das Haus,
Der Ball, der war verlorn;
So harrten sie lange und länger noch:
Sie kam nicht mehr zurück.
Sie suchten gen Ost, sie suchten gen West,
Sie suchten sie auf und ab,
Und wehe schlugen die Herzen der Brüder,
Sie war nicht mehr zu sehn.



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So ging ihr ältester Bruder schließlich zu dem Zauberer Merlin, erzählte ihm alles, was geschehen, und fragte ihn, ob er wüßte, wo Maid Ellen geblieben sei. »Die schöne Maid Ellen«, sagte der Zauberer Merlin, »muß von den Elfen entführt worden sein; denn sie rannte linksherum um die Kirche, gegen den Sonnenlauf. Sie ist nun im Dunklen Turme des Elfenkönigs; nur der kühnste Ritter der Christenheit könnte sie zurückholen.«

»Wenn es überhaupt möglich ist, sie zurückzuholen«, sagte ihr Bruder, »so will ich es tun, und sollte ich bei dem Versuch zugrunde gehn.«

»Möglich ist's«, sagte der Zauberer Merlin, »aber wehe dem Vatersoder Muttersohn, der es versucht, ohne sich vorher zu erkundigen, was er zu tun hat.«

Der älteste Bruder der Maid Ellen konnte durch keine Gefahren davon abgebracht werden, sie zurückzuholen. So bat er den Zauberer Merlin, ihm zu sagen, was er tun und was er lassen sollte, wenn er nun auf die Suche ginge. Nachdem er alles erfahren und seine Lehren wiederholt hatte, machte er sich auf ins Elfenland.



***
So harrten sie lange und länger noch, In Angst und ohne Glück, — Und wehe schlugen die Herzen der Brüder - Er kam nicht mehr zurück.


***
Da wurde der zweite Bruder des Wartens immer überdrüssiger, und er ging zu dem Zauberer Merlin und fragte ihn dasselbe wie sein Bruder. So zog er denn auch hinaus, Maid Ellen zu suchen.
So harrten sie lange und länger noch,
In Angst und ohne Glück,
— Weh schlug der Mutter, des Bruders Herz -
Er kam nicht mehr zurück.


***
Als sie nun eine gute Weile gewartet und gewartet hatten, wollte Junker Roland, der jüngste unter Maid Ellens Brüdern, sich auf den



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Weg machen. Er ging zu seiner Mutter, der guten Königin, und bat sie, ihn ziehen zu lassen. Aber sie wollte zuerst nicht; denn er war das letzte und liebste ihrer Kinder, und wenn er verlorenging, war für sie alles dahin. Doch er bettelte und flehte, bis ihn schließlich die gute Königin ziehen ließ und ihm seines Vaters wackres Schwert mitgab, das nie versagte. Da er es nun um seine Hüften schnallte, tat sie ihm den Zauber kund, der den Sieg verlieh. So sagte Junker Roland seiner Mutter, der guten Königin, Lebewohl und ging zu der Höhle des Zauberers Merlin. »Noch einmal und nur noch einmal«, sagte er zu dem Zauberer, »laß hören, wie Vaters- oder Muttersohn Maid Ellen und die Brüder zween befreien können.«

»Also, mein Sohn«, sagte der Zauberer Merlin, »es sind nur zwei Dinge. So einfach sie erscheinen mögen, so schwer sind sie auszurichten. Eins ist zu tun, und eins ist zu lassen. Das aber wäre zu tun: Sobald du ins Feenland gekommen bist, zieh dein Schwert und schlag jedem den Kopf herunter, der mit dir spricht, bis du Maid Ellen triffst. Das aber wäre zu lassen: Beiß keinen Bissen und trink keinen Tropfen, wie hungrig oder durstig du auch seist. Trinkst du einen Tropfen oder beißt du einen Bissen, solange du in Feenland bist, nie siehst du Mittelgart, die Erde, wieder.«

So sagte Junker Roland die beiden Sätze immer wieder vor sich her, bis er sie auswendig wußte; dann dankte er dem Zauberer Merlin und zog seines Weges. Und er wanderte weiter und weiter und immer weiter, bis er dem Pferdehirten des Elfenkönigs begegnete, der die Tiere fütterte. Diese erkannte er an ihren feurigen Augen und wußte nun, daß er endlich im Feenlande war. »Kannst du mir sagen«, meinte Junker Roland zu dem Pferdehirten, »wo der Dunkle Turm des Elfenkönigs ist?« — »Ich kann's dir nicht sagen«, meinte der Pferdehirt, »aber geh nur ein wenig weiter, so wirst du zu dem Kuhhirten kommen, und der wird es dir vielleicht sagen können.«

Ohne ein weiteres Wort nahm Junker Roland sein gutes Schwert, das nie versagte, und schlug dem Pferdehirten den Kopf herunter. Junker Roland zog dann weiter, bis er zu dem Kuhhirten kam, und stellte ihm die gleiche Frage. »Ich kann's dir nicht sagen«, meinte er, »aber geh ein wenig weiter, so wirst du zu der Hühnerfrau kommen,



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und sie wird es sicher wissen.«Wieder zog Junker Roland sein gutes Schwert, das nie versagte, und schlug dem Kuhhirten den Kopf herunter. Dann ging er etwas weiter, bis er zu einer alten Frau in grauem Rock gelangte, und fragte sie, ob sie wüßte, wo der Dunkle Turm des Elfenkönigs sei. »Geh ein wenig weiter«, sagte die Hühnerfrau, »bis du zu einem runden grünen Hügel kommst, der ist ringsherum mit Stufen besetzt, von unten bis oben; geh dreimal um ihn herum, gegen die Sonne, und sage jedesmal:

>Tür, geh auf! Tür, geh auf,
Und laß mich nun hinein.<


***
Und beim drittenmal wird sich die Tür öffnen, und du kannst hineingehen.« Junker Roland wollte gerade aufbrechen, da fiel ihm ein, was er zu tun hatte. Raus flog sein gutes Schwert, das nie versagte, und runter war der Kopf der Hühnerfrau.

Dann ging er weiter und weiter und immer weiter, bis er an den runden grünen Hügel kam, der ringsherum mit Stufen besetzt war, von oben bis unten, und er lief dreimal um ihn herum, gegen die Sonne, und sagte dabei jedesmal:

»Tür, geh auf! Tür geh auf,
Und laß mich nun hinein.«


***
Und beim drittenmal sprang die Tür wirklich auf. Er trat ein, und sie schnappte zu: Junker Roland sah sich im Dunkeln.

Es war nicht vollständig finster, mehr eine Art Dämmerung. Da waren weder Fenster noch Kerzen, und er konnte nicht herausfinden, woher das Zwielicht kam, es sei denn durch Dach und Wände. Das waren einfache Gewölbebogen aus durchsichtigem Gestein, mit Glimmer und Felsspalt und andern glänzenden Erzen überzogen. Waren es auch Felsen, so wehte die Luft doch warm, wie sie es im Elfenreich immer tut. So wanderte er durch diesen Gang, bis er schließlich an zwei wuchtige und hohe Flügeltüren kam, die halb offenstanden. Und als er sie aufmachte, erblickte er vor sich etwas ganz



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Wunderbares und Herrliches: einen weiten und geräumigen Saal, so weit, daß er so lang und so breit wie der Hügel selbst zu sein schien. Das Dach wurde von schönen Pfeilern getragen, die ragten so hoch und luftig, daß die Pfeiler eines Domes nichts dagegen waren: ganz aus Gold und Silber, mit Schnitzwerk verziert und zwischendurch Blumenkränze. Und woraus, glaubst du wohl, waren sie gewunden? Nun, aus Diamanten und Smaragden und manch edlem Juwel. Und selbst die Schlußsteine der Bogen hatten Behänge von Diamanten und Rubinen und Perlen und anderen Köstlichkeiten zur Zierde. Und alle Bögen trafen sich in der Mitte des Daches, und gerade da hing an einer goldenen Kette eine mächtige Lampe, und die war geschaffen aus einer einzigen großen, durchsichtigen Perle. Und in ihrer Mitte gewahrte man einen gewaltigen Karfunkelstein, der sich fortwährend herumdrehte und erleuchtete mit seinen Strahlen den ganzen Raum, der so aussah, als ob ihn die untergehende Sonne beschien.

Der Saal selbst war gerade so großartig ausgestattet, und an seinem Ende stand ein prächtiges Ruhelager aus Sammet, Seide und Gold, und da saß die Maid Ellen und kämmte sich ihr goldnes Haar mit einem Silberkamm. Als sie Roland sah, stand sie auf und sagte:

»Gott gnade dir, du armer Tor,
Was hast du hier zu tun?
Vernimm es denn, mein jüngster Bruder,
Was bliebst du nicht daheim?
Hättst du auch hunderttausend Leben,
Du rettetest nicht eins!
Doch setz dich nieder; weh, ach weh,
Daß je du bist geboren.
Denn tritt der Elfenkönig ein,
So ist dein Glück verloren.«


***
Dann setzten sie sich zusammen nieder, und Junker Roland berichtete ihr alles, was er getan hatte, und sie berichtete ihm, wie ihre beiden Brüder den Dunklen Turm erreicht hätten und dort nun wie tot



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begraben lägen; denn der Elfenkönig hatte sie verzaubert. Und als sie noch ein wenig mehr geredet hatten, fing Junker Roland an, nach den langen Wanderfahrten Hunger zu spüren, und er sagte seiner Schwester, der Maid Ellen, wie hungrig er sei, und bat um etwas zu essen und hatte dabei ganz und gar die Warnung des Zauberers Merlin vergessen.

Maid Ellen sah Junker Roland traurig an und schüttelte den Kopf; aber sie stand unter dem Zauber und durfte ihn nicht warnen. So erhob sie sich, ging hinaus und brachte bald eine goldene Schüssel voll Brot und Milch zurück. Junker Roland wollte sie gerade an seine Lippen führen, da schaute er seine Schwester an, und es fiel ihm wieder ein, warum er hierhergekommen war. So schleuderte er die Schale zu Boden und sagte: »Keinen Schluck will ich schlürfen, keinen Bissen will ich beißen, bis Maid Ellen befreit ist.« Gerade in diesem Augenblick hörten sie jemand tobend herankommen und eine laute Stimme rufen:

»Puh, päh, pah, pfui,
Ich rieche, rieche Christenblut!
Ob tot, ob lebend, ja mein Schwert
Trifft sein Gehirn und Schädel gut.«


***
Und dann wurden die Flügeltüren des Saales aufgestoßen, und der König des Elfenreiches stürmte herein.

»Schlag zu, du Kobold, wenn du's wagst«, schrie Junker Roland und stürzte sich auf ihn mit seinem guten Schwert, das nie versagte. Sie kämpften und kämpften und kämpften, bis Herr Roland den König von Elfenland auf die Knie zwang und ihn zum Nachgeben brachte. »Ich will dir Gnade schenken«, sagte Junker Roland, »aber zuvor löse meine Schwester von deinem Zauber und rufe meine Brüder ins Leben zurück und laß uns alle frei davonziehn, dann sollst du geschont werden.« —»Ich will es tun«, sagte der Elfenkönig. Er stand auf und ging an einen Schrank, dem er ein Glasgefäß mit blutrotem Safte entnahm. Damit bestrich er den beiden Brüdern die Ohren, Augenlider, Nasenlöcher, Lippen und Fingerspitzen, und sofort



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kehrten sie ins Leben zurück und meinten, ihre Seelen wären weit fort gewesen, jetzt aber zurückgekehrt. Der Elfenkönig sagte dann einige Worte zur Maid Ellen, und sie war entzaubert, und alle vier schritten sie durch den weiten Saal und durch den langen Gang und wandten dem Dunklen Turm den Rücken, um nie wieder zurückzukehren. So erreichten sie ihre Heimat und die gute Königin, ihre Mutter. Aber die Maid Ellen rannte nie wieder linksherum um die Kirche, gegen den Lauf der Sonne.


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