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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


John Gethin und die Kerze

Einst lebte in Ystradgynlais ein Zauberer, der hatte eine eiserne Hand. Durch seine Zauberkünste entdeckte er, daß in Mynydd y Drum ein großer Schatz versteckt lag und er ihn bergen könnte, wenn er nur einen mutigen Burschen fände, der eine Nacht mit ihm auf dem Berge nahe dem Felsen zubrachte, unter dem das Gold und Silber lag.

Lange konnte er keinen Gefährten finden. Vergebens ging er alle seine Freunde und Bekannten an: Sie hatten Angst und wollten mit einem so gefährlichen Abenteuer nichts zu schaffen haben. Schließlich jedoch sagte John Gethin, der gern den Draufgänger spielte und vor nichts in Himmel, Erde oder Wasser bange war, er wolle den



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Mann mit der eisernen Hand begleiten, wenn ihm die Hälfte des Schatzes zufiele.

In einer dunklen Nacht zogen die beiden nach dem Berg und blieben auf einem Rasenfieck nahe bei dem Felsen stehen, unter dem nach des Zauberers Aussage der Schatz verborgen lag. »Nun werde ich«, sprach der Zauberer, »den Geist anrufen, der den Schatz bewacht, daß er sich uns zeige.« Er legte ein schwarzes Gewand an, das mit Zauberrunen bedeckt war, gürtete sich mit zusammengebundenen Schlangenhäuten und setzte sich eine Kappe aus Schafspelz aufs Haupt, die mit einem Kranz von Taubenfedern gekrönt war. In der Hand hielt er eine Peitsche, deren Griff aus Knochen und deren Riemen aus Aalhaut gemacht war. Damit zog er zwei Kreise auf dem Rasen, die sich wie das Bild einer 8 berührten. Schließlich nahm er ein großes schwarzes Buch, zündete eine Kerze an und trat in einen der Kreise. »Stelle dich in die Mitte des anderen Kreises«, sagte er zu Gethin, »und tritt nicht aus dem Ring, was auch kommen mag.« Gethin tat, wie ihm gesagt.

Nun öffnete der Zauberer sein Buch und las: »Ich beschwöre dich und rufe dich an bei dem Schweigen der Nacht und bei den heiligen Zauberformeln und bei der Zahl der höllischen Geisterscharen, daß du dich ohne Zögern hier einfindest und bei der Kraft der Worte dieses Buches mir Rede und Antwort stehst.« Das wiederholte er dreimal.

Zuerst erschien ein riesiger Bulle, der entsetzlich brüllte; doch der mutige Gethin rührte sich nicht vom Platz, und der Bulle verschwand. Dann kam ein ungeheurer Ziegenbock mit voller Wucht auf Gethin zugesprungen; doch da er sich nicht rührte, zerging auch er in der Luft. Als nächster eilte ein mächtiger borstiger Eber auf ihn los, und ein wuchtiger Löwe mit feurigem Hauch duckte sich und drohte, ihn zu zerreißen; doch Gethin stand regungslos, und sobald diese schrecklichen Erscheinungen den Kreis berührten, den der Zauberer gezogen, zerflossen sie in nichts. Dann kam ein großes fliegendes Feuerrad lodernd und prasselnd geradeswegs auf den armen Gethin zu. Einen Augenblick verlor er den Mut und wich aus dem Ring. Kaum war das geschehen, als das Feuerrad die Gestalt des



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Höllenfürsten annahm und Gethin wegzuschleppen begann. Doch packte ihn der Mann mit der Eisenhand und versuchte, ihn zurückzuziehen. Der arme Gethin wurde in diesem Ringen zwischen den beiden fast mittendurch gerissen.

Der Feind der Menschheit war nahe daran, bei diesem Tauziehen Oberhand zu behalten, als der Zauberer rief: »Bei der Macht des Ostens: Athanaton, des Westens: Orgon, des Südens: Boralin, des Nordens: Glauron, befehle ich dir, diesen Mann leben zu lassen, solange diese Kerze dauert.« Der Böse ließ ab von Gethin und verschwand. Darauf blies der Zauberer sofort die Kerze aus und gab sie Gethin. »Wärst du nicht aus dem Kreise getreten«, sprach er, »dann würde alles gut sein. Da du aber meinem Befehl ungehorsam warst, ist dies die äußerste Frist, die ich dir lassen kann. Lege diese Kerze an einen kühlen Platz. Solange sie da ist, wird dein Leben in Sicherheit bleiben.«

Gethin ging heim und bewahrte das Kerzenstück sehr sorgsam an der kühisten Stelle, die er finden konnte. Doch wie die Zeit fortschritt, fand er, daß es dahinschwand, obgleich es niemals entzündet wurde. Gethin war nicht mehr derselbe nach jener furchtbaren Nacht auf dem Berge, und als er wahrnahm, daß die Kerze kleiner wurde, legte er sich nieder. So wie die Kerze dahinschwand, geschah auch ihm, und nach einigen Jahren fanden beide zu gleicher Zeit ihr Ende. Der Zauberer war in seinen letzten Stunden bei ihm, und die Träger des Sarges, der Gethins sterbliche Reste bergen sollte, fanden ihn seltsam leicht. Es ging die Geschichte, daß Gethins Körper aus dem Sarge verschwunden sei, bevor er zugenagelt wurde; der Zauberer habe, um den Schein zu wahren, statt dessen einen Klumpen Lehm hineingetan. Niemand aber war kühn genug, den Sarg zu öffnen und die Wahrheit zu erkunden.


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