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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Das Feenkind

Es lebte eine tüchtige Hausfrau auf einem der Hügel zwischen Zennor und St. Ives. Eines Nachts kam ein vornehmer Mann in ihre Hütte und versicherte ihr, er hätte ihre Sauberkeit und Sorgfalt bemerkt und wolle ihr ein Kind anvertrauen, das mit viel Liebe aufgezogen werden sollte. Sie würde auch recht für ihre Mühe belohnt werden, und dabei zeigte er ihr eine reichliche Menge Goldmünzen. Nun, sie war einverstanden und ging mit dem Manne fort, um das Kind zu holen.



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Als sie an die Seite des Hügels von Zennor kamen, sagte er zu der Frau, er müsse ihr jetzt die Augen verbinden. Sie war eine gute, ehrliche Seele und hatte von solchen Dingen schon gehört. Sie meinte, es wäre irgendeines reichen Mannes Kind, und seiner Mutter Wohnung sollte verborgen bleiben, und daher hielt sie sich für klug, wenn sie ruhig einwilligte. Sie wanderten noch eine beträchtliche Strecke weiter.

Endlich machten sie halt, das Taschentuch wurde ihr von den Augen genommen, und sie befand sich in einem prächtigen Saale. Eine Tafel war mit den ausgesuchtesten und teuersten Speisen besetzt, mit Wild, Früchten und Weinen, und man forderte sie auf, zuzugreifen; sie tat es, wenn auch etwas linkisch und zitternd. Sie war überrascht, daß ein so reiches Festmahl nur für eine so kleine Gesellschaft, für sie und den Fremden, bereitet war. Da sie nun einige Leckerbissen gekostet hatte, wie sie solche nie vorher oder nachher genossen, erklang eine silberne Glocke: Eine Schar von Dienern trat herein und brachte eine mit Seide bezogene Wiege an, in der das schönste Kindchen schlummerte, das menschliche Augen je geschaut.

Man sagte, dies sei das Kind, das ihr anvertraut sei. Sie sollte in keiner Hinsicht Mangel leiden, müßte aber einige Gesetze befolgen. Sie sollte dem Kind nicht das Vaterunser beibringen. Sie dürfe es nicht nach Sonnenuntergang waschen, sondern hätte es alle Morgen in dem Wasser zu baden, das sie in einer weißen Kanne in ihrem Zimmer finden würde. Aber niemand anders dürfe das tun außer ihr, und sie selbst müsse sich hüten, ihre Augen mit dem gleichen Wasser zu netzen. Sonst aber könne sie das Kind wie ihr eigenes behandeln. Der Frau wurden nun wieder die Augen verbunden, man gab ihr das Kleine in den Arm, und unter Führung des geheimnisvollen Vaters brach sie auf. Draußen auf der Landstraße wurde die Binde ihr wieder vom Gesicht genommen, und sie gewahrte, sie hatte ein Kindchen in den Armen, das nicht besonders freundlich aussah, scharfe, durchdringende Augen hatte und nur ganz einfach angezogen war. Doch was abgemacht, gilt. So entschloß sie sich, das Beste herauszuholen, zeigte das Kind ihrem Manne und erzählte ihm so viel von der Geschichte, wie sie es für gut hielt. Nie hatten sie Mangel zu leiden:



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Mit Fleisch und Wein waren sie immer versorgt, wenn sie es wünschten. Fertige Kleider lagen auf dem Bett des Kindes, sobald sie nötig waren. Und das zauberkräftige Wasser war immer in der Kanne. Der kleine Junge wurde lebhaft und stark. Er war auffällig wild, aber gut zu lenken und hatte augenscheinlich eine wirkliche Achtung vor seiner »großen Mutter«, wie er die Frau nannte. Zuweilen fürchtete sie, das Kind wäre von Sinnen. Es rannte dann und sprang und schrie, als ob es mit ganzen Horden von Jungen spielte, obwohl keine Seele neben ihm war. Die Frau hatte den Vater seitdem nie wieder gesehen. Aber regelmäßig wurden sie auf geheimnisvolle Weise mit Geld versorgt.

Als nun die gute Frau eines Morgens das Kind wieder wusch, hatte sie Lust zu versuchen, ob das Wasser auch ihre Schönheit beleben könnte; denn sie hatte beobachtet, wie hell und strahlend der Quell das Antlitz des Kindes machte. Sie lenkte die Aufmerksamkeit des Jungen auf einige Vögel hin, die auf den Zweigen vor dem Fenster sangen, und planschte sich etwas von dem Wasser ins Gesicht; das meiste ging ihr dabei ins Auge. Sie schloß es unwillkürlich, und da sie es aufmachte, sah sie eine Menge kleiner Wesen um sich versammelt und mit dem Jungen spielen. Sie sprach kein Wort, so groß ihre Furcht auch war. Und sie sah nun dauernd die Welt des kleinen Volkes, welche die Welt der gewöhnlichen Menschen umgibt. Nun wußte sie, wer die Spielgesellen des Knaben waren, und oft verlangte sie danach, mit den zierlich-schönen Geschöpfen der unsichtbaren Weite, die seine wirklichen Gefährten waren, zu sprechen; aber sie war verschwiegen und hielt den Mund.

Seltsame Diebstähle waren von Zeit zu Zeit auf dem Markt von St. Ives vorgekommen, und obwohl man aufs schärfste aufpaßte, verschwanden Gegenstände, ohne daß man einen Dieb antraf. Eines Tages war unsre brave Hausfrau an dem Orte, und zu ihrer Überraschung erblickte sie den Vater ihres Pfleglings. Ohne Umstände stürzte sie auf ihn los in einem Augenblick, als er gerade einige erlesene Früchte sich aneignete und in die Tasche steckte, und redete ihn an. »So, du siehst mich also?« —»Gewiß, und ich erkenne dich auch wieder«, versetzte die Frau. »Schließe das Auge«, sagte er und legte



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seinen Finger auf ihr linkes Auge. »Kannst du mich jetzt noch sehen?« —»Ich sag' dir's ja, und ich kenne dich wohl«, sagte die Frau wieder.

»Wasser für Elf, nicht Wasser für dich,
Verloren dein Auge, dein Kind und dein Ich«,


***
sagte der Vornehme. Von Stund an war sie auf dem rechten Auge blind. Als sie heimkam, war der Knabe verschwunden. Das kam sie hart an; sie sah ihn nie wieder, und das einst so glückliche Paar wurde arm und elend.

Copyright: arpa, 2015.

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