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Kapitel 

Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Die klugen Leute von Gotham


1. Wenn man Schafe kaufen geht

Es waren einmal zwei Männer, von denen einer auf den Markt nach Nottingham ging, um Schafe zu kaufen, während der andere gerade vom Markt kam, und sie trafen sich auf der Brücke von Nottingham.

»Wohin gehst du?«fragte der eine, der von Nottingham kam.

»Ach«, sagte der, der nach Nottingham ging, »ich will Schafe kaufen.«

»Schafe kaufen?«fragte der andere. »Auf welchem Wege willst du sie denn heimtreiben?«

»Ach«, sagte der, »ich werde sie hier über die Brücke treiben.«

»Bei Robin Hood«, rief der, der von Nottingham kam, »das sollst du nicht.«

»Bei der Heiligen Jungfrau«, sagte der, der hinging, »das will ich aber.

»Das wirst du nicht tun«, drauf der andere wieder.

»Das werde ich aber«, der von vorher.

Dann stießen beide ihre Stöcke so weit vor sich in den Boden, als ob eine Herde von hundert Schafen zwischen ihnen wäre.

»Laß das«, sagte der eine. »Laß endlich meine Schafe über die Brücke hinüber.«

»Das erlaube ich nicht«, rief der andere. »Hier sollen sie nicht gehen.« «

»Aber ich will sie hier herüber haben«, wieder der eine.

Nun wieder der andere: »Wenn du das versuchst, werde ich dir eine aufs Maul geben.«

»Wirst du?«fragte höhnisch der eine.

Nun, als sie so immer mehr in Streit gerieten, kam ein anderer Gothamer vom Markt, dessen Pferd einen Sack voll Mehl auf dem Rücken trug. Als er sah und hörte, wie hitzig diese zwei Nachbarsleute wegen Schafen aneinandergerieten, die gar nicht vorhanden waren, rief er: »Ach, ihr Narren! Werdet ihr niemals gescheit werden? Helft mir mal und hebt mir den Sack auf die Schulter!«



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Das taten sie, und er ging ans Brückengeländer, machte den Sack auf und schüttete alles Mehl in den Fluß.

»Nun, Nachbarn«, sagte er, »wieviel Mehl ist wohl in meinem Sack?«

»Ach«, riefen sie, »da ist doch gar nichts mehr drin.«

»Meiner Treu«, bekräftigte er, »ebensowenig wie in euren beiden Köpfen, die ihr euch aufregt und über etwas zerstreitet, was ihr überhaupt nicht habt.«

Wer wohl mag der Klügste von den dreien gewesen sein? Urteilt selbst!


2. Wie man darangeht, einen Kuckuck einzusperren

Einmal kamen die Leute von Gotham auf den Gedanken, sie wollten sich einen Kuckuck halten, damit sie ihn das ganze Jahr hindurch hören könnten. Und sie errichteten mitten in der Stadt ein Heckenrund, fingen einen Kuckuck, setzten ihn hinein und sagten: »Jetzt singe hier schön das ganze Jahr lang, oder du bekommst weder Essen noch Trinken.«

Der Kuckuck, sobald er in die Hecke gesetzt wurde, flog auf und davon.

»Da haben wir's!«riefen sie. »Wir haben die Hecke nicht hoch genug gemacht!«


3. Wie man Käse befördert

Es war einmal ein Mann in Gotham, der nach Nottingham auf den Markt ging, um Käse zu verkaufen. Und als er den Hügel zur Brücke von Nottingham hinunterging, fiel ein Käse aus seinem Ranzen und rollte den Hügel hinunter.

»Hallo, Gevatter«, sagte der Mann, »kannst du allein zum Markt rollen? Dann will ich dir die anderen nachschicken.« Und er nahm sein Ränzel ab, zog die Käse heraus und rollte sie, einen nach dem anderen, die Hügel hinunter. Die einen blieben hier in einem Gebüsch hängen, die anderen in irgendeinem anderen.

»Ihr habt alle am Marktplatz auf mich zu warten«, rief der Mann hinterher, und als er dann auf den Marktplatz kam, um seinen Käse



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wieder einzusammeln, da war der Markt schon beendet. Nun ging er überallhin, um Freunde, Nachbarn und Unbekannte zu fragen, ob sie seinen Käse gesehen hätten, als sie zum Markt kamen.

»Wer sollte ihn denn bringen?«fragte einer der Marktleute.

»Nun, natürlich er sich selbst«, sagte der Mann. »Er kennt den Weg gut genug.«

Doch der Käse war nirgends zu finden. Er sagte: »Da haben wir's! Als ich ihn so schnell herunterrollen sah, fürchtete ich schon, er würde über den Marktplatz hinausrollen. Nun glaube ich fest, daß er beinahe schon in York sein muß.« Woraufhin er sofort ein Pferd mietete, um nach York zu reiten und dort seinen Käse zu suchen, wo er aber nicht war. Und bis heute kann ihm kein Mensch sagen, wo er hingekommen ist.


4. Der ertränkte Aal



***
Als Karfreitag kam, steckten die Leute von Gotham die Köpfe zusammen und überlegten, was sie mit ihren grünen Heringen und geräucherten Heringen, mit ihren Sprotten und anderen gesalzenen Fischen anfangen sollten. Man beriet miteinander und beschloß, daß alle diese Fische in ihren Teich (der mitten in der Stadt war) geworfen werden sollten, damit sie sich bis zum nächsten Jahr vermehrten, und jeder, der gesalzenen Fisch im Haus hatte, setzte ihn nun im Teich aus.

»Ich habe viele grüne Heringe«, sagte der eine.

»Ich habe viele Sprotten«, der andere.

»Ich habe viele geräucherte Heringe«, wieder ein anderer.

»Ich habe viel eingesalzenen Fisch. Laßt uns alle in den Teich oder den Weiher tun, und wir werden nächstes Jahr wie Fürsten leben können.«

Zu Beginn des nächsten Jahres zogen alle Leute an den Teich, um ihre Fische herauszuholen. Da war aber nichts darin als ein dicker fetter Aal.

»Ach«, riefen sie aus, »dieses Scheusal von einem Aal hat alle unsere Fische aufgefressen.«

»Was wollen wir mit ihm machen?«



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»Ihn töten«, sagte einer.

»In Stücke schneiden«, sagte ein anderer.

»Nein, etwas ganz anderes«, hieß es nun, »wir wollen ihn ertränken.«

»So sei es«, riefen alle. Und sie gingen zu einem anderen Teich und warfen den Aal hinein.

»Hier lieg nun und sieh zu, wie du dir hilfst, denn wir helfen dir jedenf all nicht!«Und sie verließen den Aal, damit er, wie sie meinten, ertrinken möge.


5. Wie man Pacht bezahlt

Die Leute von Gotham hatten einmal vergessen, dem Gutsherrn die Pacht zu zahlen. Einer sagte zum andern: »Morgen ist Zahltag, wie sollen wir nur unser Geld rechtzeitig dem Gutsherrn zustellen?« Der eine sagte: »Heute habe ich einen Hasen gefangen. Er soll es hinbringen, denn er ist schnellfüßig.«

»Ja, so soll es sein«, sagten alle, »er soll einen Brief und eine Börse mit dem Geld darin bekommen, und wir werden ihm den richtigen Weg zeigen.« Als die Briefe geschrieben waren und man das Geld in die Börse getan hatte, hing man dem Hasen beides um den Hals: »Erst gehst du nach Lancaster, dann mußt du nach Loughborough und dann nach Newarke gehen, wo unser Gutsherr wohnt, mußt ihm unsere Empfehlung sagen und unsere Schuld bezahlen.«

Sobald der Hase von ihnen losgelassen wurde, rannte er, was er konnte, in einen Landweg hinein. Einige schrien ihm nach: »Du mußt erst nach Lancaster.«

»Laß den Hasen in Ruhe«, sagte ein anderer, »vielleicht weiß er besser als wir alle den besten Weg. Laßt ihn in Ruhe.«

Ein anderer fügte noch hinzu: »Er ist ein gewitzter Hase, laßt ihn in Ruhe; er vermeidet den Hauptweg, weil er Angst vor Hunden hat.«


6. Man muß nur richtig zählen

Es gingen einmal zwölf Leute aus Gotham zusammen auf den Fischfang, und einige arbeiteten im Wasser, die anderen am Ufer, und als sie zurückkehrten, sagte einer von ihnen: »Wir haben heute



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allerlei gewagt. Ich danke Gott, daß keiner von uns dabei ertrunken ist.«

»Ach ja«, sagte ein anderer, »laß uns sicherheitshalber nachzahlen. Also, zu zwölft fuhren wir aus.«Und jeder zählte einmal, und jeder zählte elf, denn der zwölfte Mann zählte sich nie mit.

»O Gott!« sagte einer zum anderen. »Einer von uns ist nun doch ertrunken!«Sie gingen zurück an den Bach, an dem sie gefischt hatten, und suchten auf und ab, um den Ertrunkenen zu finden, und jammerten sehr.

Ein Edelmann kam vorbeigeritten und fragte, was sie suchten und weshalb sie so aufgeregt wären. »Ach«, klagten sie, »heute haben wir in diesem Bach gefischt, und wir waren zwölf, und nun ist einer ertrunken.«

»Nun«, fragte der Edelmann, »was gebt ihr mir, wenn ich den zwölften Mann finde?«

»Herr«, sagten sie, »alles Geld, was wir haben.«

»Gebt mir das Geld«, sagte der Edelmann. Und er begann mit dem ersten und gab ihm einen Schlag auf die Schulter, so daß er schrie. Und sagte dazu: »Das ist einer.«Und jeder bekam seinen Schlag, so daß er stöhnen mußte. Doch als der Edelmann zu dem letzten kam, gab er ihm einen ganz sanften Schlag und sprach: »Hier ist der zwölfte Mann.« — »Gott segne Euch und Euer gutes Herz!« riefen sie alle, »Ihr habt unseren Nachbarn wiedergefunden.«


Copyright: arpa, 2015.

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