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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Der häßliche Wurm von Spindle-Ston-Heugh



***
Im Schloß von Bamborough lebte einst ein König, der eine schöne Frau und zwei liebe Kinder hatte, einen Sohn namens Chilkde-Wynd und eine Tochter namens Margaret. Chilkde-Wynd zog aus, um draußen in der Welt Heldentaten zu vollbringen, und bald nachdem er gegangen war, starb die Königin, seine Mutter. Der König betrauerte sie lange und schmerzlich, doch eines Tages, als er auf der Jagd war, begegnete er einer Dame von übergroßer Schönheit und begann sie gleich so innig zu lieben, daß er sie zu heiraten beschloß. Er sandte also Nachricht nach Hause, daß er eine neue Königin für Schloß Bamborough mitbringen werde.

Prinzessin Margaret war nicht glücklich bei dem Gedanken, daß eine andere den Platz ihrer Mutter einnehmen werde, doch sie murrte nicht und führte ihres Vaters Anweisungen aus, und am festgesetzten Tag kam sie zum Schloßtor herunter, alle Schlüssel in der Hand, um sie ihrer Stiefmutter zu übergeben. Bald näherte sich der festliche Zug, und die Königin trat auf Prinzessin Margaret zu, die sich tief verbeugte und ihr die Schlüssel des Schlosses reichte. Sie stand da mit geröteten Wangen und gesenktem Blick und sprach: »Willkommen, mein Vater, im Schloß und in allem, was dein ist; willkommen auch du, meine neue Mutter, in allem, was nun auch das deine ist!«, und wieder hielt sie ihr die Schlüssel hin. Einer der königlichen Ritter, die der Begleitung der neuen Königin zugeteilt waren, rief bewundernd aus: »Diese nordische Prinzessin ist gewiß die lieblichste ihres



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ganzen Geschlechts.« Da fuhr die neue Königin auf und schrie ihn an: »Durchlaucht haben wohl mich vergessen!« Und im gleichen Atemzug murmelte sie: »Ihre Schönheit, die werde ich gleich vernichten.«

Noch in derselben Nacht stahl sich die Königin, die eine böse Hexe war, hinunter in einen leeren Kerker und trieb dort ihren Zauber. Mit allerlei Beschwörungen gewann sie Zaubermacht über Prinzessin Margaret. Und das war ihr Spruch:

»Verzaubert sei und werde ein Wurm!
Entzaubert wirst du niemals mehr,
kommt nicht Chilkde-Wynd noch einmal her
und gäbe dir der Küsse drei -
dann wärst du von dem Zauber frei.
Drum, bis die Erde einst zerbricht,
bleibst du ein Wurm mit Wurmgesicht.«


***
Und so kam es, daß Prinzessin Margaret als strahlende Jungfrau zu Bett ging und als greulicher Wurm erwachte. Als ihre Mägde am Morgen hereintraten, um sie anzukleiden, fanden sie auf dem Bett einen zusammengerollten Drachen, der sich nun streckte und auf sie zukam. Da liefen sie schreiend fort, und der häßliche Wurm kroch und keuchte und keuchte und kroch, bis er den Heugh, der auch der Felsen von Spindle-Ston genannt wurde, erreicht hatte, um den er sich herum legte und sich, das schreckliche Maul in die Luft gestreckt, sonnte.

Nicht lange, und die im weiten Umkreis wohnenden Leute hatten allen Grund, den häßlichen Wurm von Spindle-Ston-Heugh zu kennen. Vor lauter Hunger stürzte das schreckliche Tier aus seiner Höhle und verschlang dann alles, was ihm in den Weg kam. Also gingen sie schließlich zu einem Zauberer und fragten ihn, was sie machen sollten. Der Zauberer befragte wieder seine geheimen Bücher und Vertrauten und berichtete dann: »Der häßliche Wurm ist in Wirklichkeit unsere Prinzessin Margaret, und nur schrecklicher Hunger zwingt sie zu ihrem Tun. Stellt sieben Kühe für sie beiseite



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und tragt an jedem Tag vor Sonnenuntergang jeden Tropfen Milch, den sie geben, an den Fuß des Heugh, und der häßliche Wurm wird keinen Schaden mehr anrichten. Doch wollt ihr, daß der Zauber von ihr genommen, und diejenige, die sie so böse verzauberte, schwer bestraft wird, dann schickt ihrem Bruder Chilkde-Wynd Nachricht übers Meer.«

Alles geschah, wie es der Zauberer gesagt hatte, der häßliche Wurm lebte von der Milch der sieben Kühe, und das Land hatte wieder seinen Frieden. Doch als Chilkde-Wynd die schlimme Nachricht erhielt, schwor er einen heiligen Eid, seine Schwester zu erlösen und sie an der grausamen Stiefmutter zu rächen. Und dreiunddreißig seiner Gefährten legten den gleichen Eid ab wie er. Dann gingen sie ans Werk und bauten ein großes Schiff, und den Kiel machten sie aus dem Holz der Eberesche. Nachdem alles fertig war, stachen sie in See, wie sie geschworen hatten, und fuhren geradewegs auf Bamborough zu.

Doch als sie sich der Küste näherten, spürte die Stiefmutter durch ihr Zauberwissen, daß sie von Unheil bedroht wurde. Deswegen rief sie ihre Zauberteufel zusammen und befahl: »Chilkde-Wynd kommt über das Meer; er darf niemals landen. Laßt Sturm ausbrechen, durchbohrt den Schiffsrumpf. Niemals darf er das Ufer erreichen.« Da sausten die Teufel davon, um Chilkde-Wynds Schiff zu vernichten; doch als sie hinkamen, erkannten sie, daß sie keine Gewalt darüber hatten, weil der Rumpf aus dem Holz der Eberesche war. Also kehrten sie zu der Königin-Hexe zurück, und diese wußte nun nicht mehr, was sie tun sollte. Sie befahl ihren Kriegern, Chilkde-Wynd zu besiegen, falls er in der Nähe landen würde, und sprach auch einen Zauber über den häßlichen Wurm, so daß er die Hafeneinfahrt bewachen mußte.

Als das Schiff sich näherte, stieß der Wurm ein furchtbares Fauchen aus, sprang ins Meer, fing das Schiff ab und vertrieb es von der Küste. Dreimal feuerte Chilkde-Wynd seine Gefährten an, mit aller Kraft zu rudern, aber jedesmal trieb ihn der häßliche Wurm vom Ufer fort. Nun befahl Chilkde-Wynd den Rückzug, und die Königin-Hexe glaubte, er habe seinen Versuch aufgegeben. Statt dessen



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aber wandte er sich in die nächstgelegene Bucht, landete sanft und sicher in Budle Creek und brach von dort mit gezogenem Schwert, gefolgt von seinen Mannen, auf, den wilden Drachen zu erlegen, der seine Landung verhindert hatte.

Doch in dem Augenblick, da Chilkde-Wynd das Ufer betrat, war die Macht der Königin-Hexe über den verzauberten Wurm gebrochen, der nun völlig verlassen, unbeschützt von Zauberern oder Kriegern, zu seinem Bau zurückkehrte. Er wußte, seine Stunde war gekommen. Als daher Chilkde-Wynd gegen ihn angestürmt kam, machte er keinerlei Versuch, ihm den Weg zu versperren oder ihn anzugreifen. Doch als Chilkde-Wynd sein Schwert hob, um den Wurm zu erschlagen, drang aus dessen Rachen die Stimme seiner eigenen Schwester Margaret, und die bat:

»Laß ruhen so Schwert wie Bogen dein,
gib mir der Küsse drei;
statt länger noch ein Wurm zu sein,
werde ich dann wieder frei.«


***
Chilkde-Wynd hielt inne, doch wußte er nicht recht, ob das alles nur Zauberei wäre. Deswegen bat der häßliche Wurm abermals:
»Laß ruhen so Schwert wie Bogen dein,
gib mir der Küsse drei,
noch eh' die Sonne untersinkt;
sonst werd' ich nie mehr frei.«


***
Da ging Chilkde-Wynd zu dem häßlichen Wurm und küßte ihn ein erstes Mal, aber nichts veränderte sich. Dann küßte Chilkde-Wynd ihn ein zweites Mal, doch wieder veränderte sich nichts. Doch er küßte das ekelhafte Ungeheuer zum drittenmal, und zischend und brüllend floh der häßliche Wurm, und vor Chilkde-Wynd stand seine Schwester Margaret. Er schlug seinen Mantel um sie und stieg mit ihr zum Schloß hinauf. Als sie die Burg erreicht hatten, eilte er ins Schlafgemach der Königin-Hexe, und als er sie sah, berührte er



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sie mit einem Zweig des Ebereschenbaumes. Kaum berührt, schrie und schrie sie, bis sie in eine riesige giftige Kröte mit vorstehenden Glotzaugen und gräßlichem Zischen verwandelt war. Sie quakte und zischte und hoppelte zuletzt die Stufen des Schlosses hinunter. Chilkde-Wynd wurde nun König, und alle konnten von jetzt an glücklich leben.

Doch bis zu diesem Tage ist eine ekelhafte Kröte nahe der Burg von Bamborough zu sehen, und diese grausig giftige Kröte ist niemand anderes als die böse Königin-Hexe.


Copyright: arpa, 2015.

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