Märchen aus England Schottland und Irland
Illustrationen
von Antje Schönau
Märchen europäischer Völker
Der rote Riese
Der Bursche ging mit der Kanne zum Brunnen, füllte sie voll Wasser und ging wieder zurück. Da die Kanne aber Löcher hatte, lief das meiste Wasser aus, ehe er im Hause war. Daher fiel sein Kuchen sehr klein aus. Trotzdem bat seine Mutter, ob er sich nicht mit der Hälfte und dazu ihrem Segen begnügen möchte; wenn er aber den ganzen Kuchen verlange, würde sie ihren Fluch dazutun. Da der junge Mann annahm, er müsse einen weiten Weg zurücklegen, und da er nicht wußte, wann und wo er wieder etwas zu essen bekommen könne, sagte er, er nähme lieber den ganzen Kuchen und müsse eben abwarten, was ihm der Fluch seiner Mutter eintrüge. Also gab sie ihm den ganzen Kuchen und ihren Fluch. Nun nahm er seinen Bruder beiseite und gab ihm ein Messer bis zu seiner Heimkehr zur Aufbewahrung mit der Bitte, es sich an jedem Morgen anzuschauen. Solange es blank blieb, wäre es ein Zeichen, daß es ihm gutgehe, doch wenn es fleckig und rostig würde, dann wäre ganz sicher ein Unheil über ihn gekommen.
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Danach ging der junge Mann in die Welt hinaus, um sein Glück zu versuchen. Er ging den ganzen Tag hindurch und ebenso den nächsten Tag, und am Nachmittag des dritten Tages traf er einen Schäfer, der bei seiner Herde saß. Er ging zu dem Schäfer hin und fragte ihn, wem die Herde gehöre, und der antwortete:
»Der rote Riese von Jreland der lebte einst in Ballygan und stahl König Malcolms Tochter, König vom schottischen Land. |
Er schlägt sie sehr, er legt sie schwer in Fesseln, die drücken sie nieder - und jeden Tag, da kommt er neu, sein silberner Stab trifft sie wieder - er fürchtet nicht Tod, nicht der Hölle Gebräu er rast nur und knüppelt sie nieder. |
Eine alte Sage sagte voraus, ein Retter werde dereinst erstehn - doch ach, er ist geboren noch nicht und lang wird das Grausen noch gehn.« |
Der junge Mann ging weiter, und nach einiger Zeit traf er auf eine ganze Herde furchtbarer Tiere mit zwei Köpfen und vier Hörnern an jedem Kopf. Er war zu Tode erschrocken und rannte, was er nur konnte, davon. Er atmete erst auf, als er zu einem Schloß kam, das auf einem Hügel winkte und dessen Tor weit offenstand. Er ging hinein, um ein Obdach zu erbitten, und sah darin eine alte Frau am Herdfeuer sitzen. Er ging sie um ein Nachtlager an, weil er von der Tageswanderung sehr müde sei. Die Frau erlaubte es, fügte aber hinzu, daß es kein guter Platz für ihn wäre, weil er dem roten Riesen,
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einem furchtbaren, dreiköpfigen Ungeheuer, gehöre, das jeden lebenden Menschen auffresse. Gern hätte sich der junge Mann aus dem Staube gemacht, doch er fürchtete die wilden Tiere nahe beim Schloß, und deshalb flehte er die alte Frau an, ihn so gut wie möglich zu verstecken und nicht an den Riesen zu verraten. Er dachte, wenn er die Nacht über hier verborgen bliebe, könne er am frühen Morgen, ohne von den mehrköpfigen Tieren bemerkt zu werden, entkommen.
Doch er war noch nicht lange in seinem Versteck, als der mächtige Riese hereinkam und, kaum drinnen, schon brüllte:
»Ich rieche Knochen, ich rieche Blut, ich rieche einen Menschenmann, ich reiße ihm das Herz aus der Brust, damit ich's essen kann.« |
Als am folgenden Morgen der jüngere Bruder das Messer holte und ansah, packte ihn Schrecken, denn es war rostbraun geworden. Er sagte seiner Mutter, nun sei auch für ihn die Zeit gekommen, auf Wanderschaft zu gehen, und nun schickte sie auch ihn mit der Kanne zum Brunnen, um Wasser zu holen, damit sie ihm einen Kuchen backen könne. Und er ging hinaus, und als er das Wasser hineintragen wollte, rief ein Rabe ihm zu Häupten, er möge aufpassen, das Wasser liefe aus. Da er ein gescheiter junger Mann war und sah, wie
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schnell das Wasser auslief, nahm er etwas Erde und stopfte die Löcher zu, so daß er genug Wasser mitbrachte, damit ein großer Kuchen gebacken werden konnte. Als seine Mutter ihm anbot, nur den halben Kuchen, dazu aber noch ihren Segen zu nehmen, zog er das vor anstelle des ganzen und ihren Fluch mit auf den Weg zu bekommen. Auch war dieser halbe Kuchen größer als zuvor der ganze seines Bruders.
Er machte sich jetzt auf den Weg und traf nach längerer Zeit eine alte Frau, die ihn fragte, ob er ihr wohl etwas von seinem Selbstgebackenen überlassen würde. Und er sagte: »Aber gern tu ich das«, und gab ihr ein Stück von dem Gebäck. Dafür schenkte sie ihm einen Zauberstab, der ihm, wie sie meinte, gewiß noch gute Dienste leisten werde, wenn er ihn auf die rechte Art gebrauchte. Auch sagte ihm die alte Frau, die in Wirklichkeit eine Fee war, vieles voraus, was ihm begegnen werde, und wies ihn an, wie er sich jedesmal verhalten müsse. Dann verschwand sie plötzlich vor seinen Augen. Er ging wieder eine ganze Zeit weiter und kam auch zu dem alten Mann, der die Schafe hütete, und als er fragte, wessen Schafe das wären, bekam er zur Antwort:
»Der rote Riese von Jreland der lebte einst in Ballygan und stahl König Malcolms Tochter, König vom schottischen Land. |
Er schlägt sie sehr, er legt sie schwer in Fesseln, die drücken sie nieder - und jeden Tag, da kommt er neu, sein silberner Stab trifft sie wieder - er fürchtet nicht Tod, nicht der Hölle Gebräu er rast nur und knüppelt sie nieder. |
Doch nun ich denk, es geht zu End, es wirkt des Schicksals Hand, und dein wird sein, nach Kampf und Pein, das ganze schöne Land.«
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»Ich rieche Knochen, ich rieche Blut, ich rieche einen Menschenmann, ich reiße ihm das Herz aus der Brust, damit ich's essen kann.« |
Da erkannte der Riese, daß seine Macht gebrochen war. Der junge Mann griff schnell nach einer Axt und hieb dem Scheusal alle drei Köpfe ab. Er fragte nun die alte Frau, wo die Königstochter gefangen läge, und die Frau führte ihn in das obere Stockwerk, öffnete viele, viele Türen, und aus jeder der Türen trat eine schöne Jungfrau. Sie alle waren von dem Riesen gefangengehalten worden, und eine von ihnen war die Königstochter.
Die alte Frau führte ihn danach hinunter in einen niedrigen Kellerraum, in dem eine Säule aus Stein stand, die er nur mit seinem Zauberstab
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zu berühren brauchte, um seinem Bruder das Leben wiederzugeben. Alle Gefangenen waren unsagbar glücklich über ihre Befreiung und dankten dem jungen Mann wieder und wieder.
Am nächsten Morgen machten sie sich zusammen auf den Weg nach des Königs Hof. Und der König verheiratete seine Tochter mit dem jungen Mann, der sie befreit hatte, und gab dessen Bruder die Tochter eines seiner Hofleute, und so lebten sie alle glücklich bis an das Ende ihrer Tage.
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