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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Der rote Riese



***
Es war einmal eine Witwe, die lebte mit ihren zwei Söhnen auf einem winzigen Stück Land, das sie von einem Bauern gepachtet hatte. Und allmählich kam die Zeit, beide in die Welt hinauszuschicken, damit sie ihr Glück versuchten. Deshalb ließ sie eines Tages ihren älteren Sohn eine Kanne nehmen und ihn Wasser vom Brunnen holen, weil sie einen Kuchen für ihn backen wollte. Und je nachdem, ob er viel oder wenig Wasser brächte, würde sie einen großen oder kleinen Kuchen backen; der Kuchen sei alles, was sie ihm mit auf den Weg geben könne.

Der Bursche ging mit der Kanne zum Brunnen, füllte sie voll Wasser und ging wieder zurück. Da die Kanne aber Löcher hatte, lief das meiste Wasser aus, ehe er im Hause war. Daher fiel sein Kuchen sehr klein aus. Trotzdem bat seine Mutter, ob er sich nicht mit der Hälfte und dazu ihrem Segen begnügen möchte; wenn er aber den ganzen Kuchen verlange, würde sie ihren Fluch dazutun. Da der junge Mann annahm, er müsse einen weiten Weg zurücklegen, und da er nicht wußte, wann und wo er wieder etwas zu essen bekommen könne, sagte er, er nähme lieber den ganzen Kuchen und müsse eben abwarten, was ihm der Fluch seiner Mutter eintrüge. Also gab sie ihm den ganzen Kuchen und ihren Fluch. Nun nahm er seinen Bruder beiseite und gab ihm ein Messer bis zu seiner Heimkehr zur Aufbewahrung mit der Bitte, es sich an jedem Morgen anzuschauen. Solange es blank blieb, wäre es ein Zeichen, daß es ihm gutgehe, doch wenn es fleckig und rostig würde, dann wäre ganz sicher ein Unheil über ihn gekommen.



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Danach ging der junge Mann in die Welt hinaus, um sein Glück zu versuchen. Er ging den ganzen Tag hindurch und ebenso den nächsten Tag, und am Nachmittag des dritten Tages traf er einen Schäfer, der bei seiner Herde saß. Er ging zu dem Schäfer hin und fragte ihn, wem die Herde gehöre, und der antwortete:

»Der rote Riese von Jreland
der lebte einst in Ballygan
und stahl König Malcolms Tochter,
König vom schottischen Land.
Er schlägt sie sehr, er legt sie schwer
in Fesseln, die drücken sie nieder -
und jeden Tag, da kommt er neu,
sein silberner Stab trifft sie wieder -
er fürchtet nicht Tod, nicht der Hölle Gebräu
er rast nur und knüppelt sie nieder.
Eine alte Sage sagte voraus,
ein Retter werde dereinst erstehn -
doch ach, er ist geboren noch nicht
und lang wird das Grausen noch gehn.«


***
Der Schäfer warnte ihn, er möge vorsichtig sein, da in der Nähe schreckliche Tiere hausten, grauslicher als alles, was er bisher gesehen habe.

Der junge Mann ging weiter, und nach einiger Zeit traf er auf eine ganze Herde furchtbarer Tiere mit zwei Köpfen und vier Hörnern an jedem Kopf. Er war zu Tode erschrocken und rannte, was er nur konnte, davon. Er atmete erst auf, als er zu einem Schloß kam, das auf einem Hügel winkte und dessen Tor weit offenstand. Er ging hinein, um ein Obdach zu erbitten, und sah darin eine alte Frau am Herdfeuer sitzen. Er ging sie um ein Nachtlager an, weil er von der Tageswanderung sehr müde sei. Die Frau erlaubte es, fügte aber hinzu, daß es kein guter Platz für ihn wäre, weil er dem roten Riesen,



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einem furchtbaren, dreiköpfigen Ungeheuer, gehöre, das jeden lebenden Menschen auffresse. Gern hätte sich der junge Mann aus dem Staube gemacht, doch er fürchtete die wilden Tiere nahe beim Schloß, und deshalb flehte er die alte Frau an, ihn so gut wie möglich zu verstecken und nicht an den Riesen zu verraten. Er dachte, wenn er die Nacht über hier verborgen bliebe, könne er am frühen Morgen, ohne von den mehrköpfigen Tieren bemerkt zu werden, entkommen.

Doch er war noch nicht lange in seinem Versteck, als der mächtige Riese hereinkam und, kaum drinnen, schon brüllte:

»Ich rieche Knochen, ich rieche Blut,
ich rieche einen Menschenmann,
ich reiße ihm das Herz aus der Brust,
damit ich's essen kann.«


***
Der Riese entdeckte ihn schnell und zog ihn aus seinem Versteck heraus. Und als er ihn vor sich hatte, eröffnete er ihm, daß er sein Leben schonen wolle, falls er drei Fragen beantworten könne. Und der erste Kopf fragte: »Ein Ding ohne Ende - was ist das?« Aber der junge Mann wußte es nicht. Und der zweite Kopf fragte: »Das Kleinste zugleich das Schwächste - was ist das?« Aber der junge Mann wußte es nicht. Und der dritte Kopf fragte: »Totes, das Lebendiges trägt -löse mir das.« Aber der junge Mann konnte es nicht sagen. Da er nicht eine einzige Frage zu beantworten vermocht hatte, nahm der Riese einen Schlegel, schlug ihn damit auf den Kopf und verwandelte ihn so in eine Säule aus Stein.

Als am folgenden Morgen der jüngere Bruder das Messer holte und ansah, packte ihn Schrecken, denn es war rostbraun geworden. Er sagte seiner Mutter, nun sei auch für ihn die Zeit gekommen, auf Wanderschaft zu gehen, und nun schickte sie auch ihn mit der Kanne zum Brunnen, um Wasser zu holen, damit sie ihm einen Kuchen backen könne. Und er ging hinaus, und als er das Wasser hineintragen wollte, rief ein Rabe ihm zu Häupten, er möge aufpassen, das Wasser liefe aus. Da er ein gescheiter junger Mann war und sah, wie



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schnell das Wasser auslief, nahm er etwas Erde und stopfte die Löcher zu, so daß er genug Wasser mitbrachte, damit ein großer Kuchen gebacken werden konnte. Als seine Mutter ihm anbot, nur den halben Kuchen, dazu aber noch ihren Segen zu nehmen, zog er das vor anstelle des ganzen und ihren Fluch mit auf den Weg zu bekommen. Auch war dieser halbe Kuchen größer als zuvor der ganze seines Bruders.

Er machte sich jetzt auf den Weg und traf nach längerer Zeit eine alte Frau, die ihn fragte, ob er ihr wohl etwas von seinem Selbstgebackenen überlassen würde. Und er sagte: »Aber gern tu ich das«, und gab ihr ein Stück von dem Gebäck. Dafür schenkte sie ihm einen Zauberstab, der ihm, wie sie meinte, gewiß noch gute Dienste leisten werde, wenn er ihn auf die rechte Art gebrauchte. Auch sagte ihm die alte Frau, die in Wirklichkeit eine Fee war, vieles voraus, was ihm begegnen werde, und wies ihn an, wie er sich jedesmal verhalten müsse. Dann verschwand sie plötzlich vor seinen Augen. Er ging wieder eine ganze Zeit weiter und kam auch zu dem alten Mann, der die Schafe hütete, und als er fragte, wessen Schafe das wären, bekam er zur Antwort:

»Der rote Riese von Jreland
der lebte einst in Ballygan
und stahl König Malcolms Tochter,
König vom schottischen Land.
Er schlägt sie sehr, er legt sie schwer
in Fesseln, die drücken sie nieder -
und jeden Tag, da kommt er neu,
sein silberner Stab trifft sie wieder -
er fürchtet nicht Tod, nicht der Hölle Gebräu
er rast nur und knüppelt sie nieder.
Doch nun ich denk, es geht zu End,
es wirkt des Schicksals Hand,
und dein wird sein, nach Kampf und Pein,
das ganze schöne Land.«



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***
Als er zu der Stelle kam, wo die schreckenerregenden Tiere warteten, hielt er weder inne, noch lief er davon, sondern ging kühn mitten zwischen ihnen hindurch. Eines kam brüllend mit offenem Maul auf ihn zugestürzt, um ihn zu verschlingen. Er aber berührte es mit seinem Zauberstab, und es fiel tot vor seine Füße. Bald kam er nun zu dem Schloß des Riesen, wo er anklopfte und auch eingelassen wurde. Die alte Frau, die am Feuer saß, warnte auch ihn vor dem schrecklichen Ungeheuer und berichtete vom Schicksal seines Bruders. Er aber war nicht irrezumachen. Der wilde Riese kam bald und brüllte:
»Ich rieche Knochen, ich rieche Blut,
ich rieche einen Menschenmann,
ich reiße ihm das Herz aus der Brust,
damit ich's essen kann.«


***
Er fand den jungen Mann sogleich und forderte ihn auf, aus dem Versteck zu kommen. Dann stellte er ihm die drei Fragen. Doch sie waren diesem schon von der guten Fee gesagt worden, und deswegen konnte er sie alle drei beantworten. Als nun der erste Kopf fragte: »Welches Ding ist ohne Ende?«, sagte er: »Eine Kugel.«Und als der zweite Kopf fragte: »Je winziger, um so gefährlicher. Was ist das?«, sagte er sogleich: »Eine Brücke.«Und als zuletzt der dritte Kopf fragte: »Wann trägt Totes Lebendiges, errate mir das«, antwortete er sofort: »Wenn ein Segler übers Meer fährt und an Bord Menschen sind.«

Da erkannte der Riese, daß seine Macht gebrochen war. Der junge Mann griff schnell nach einer Axt und hieb dem Scheusal alle drei Köpfe ab. Er fragte nun die alte Frau, wo die Königstochter gefangen läge, und die Frau führte ihn in das obere Stockwerk, öffnete viele, viele Türen, und aus jeder der Türen trat eine schöne Jungfrau. Sie alle waren von dem Riesen gefangengehalten worden, und eine von ihnen war die Königstochter.

Die alte Frau führte ihn danach hinunter in einen niedrigen Kellerraum, in dem eine Säule aus Stein stand, die er nur mit seinem Zauberstab



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zu berühren brauchte, um seinem Bruder das Leben wiederzugeben. Alle Gefangenen waren unsagbar glücklich über ihre Befreiung und dankten dem jungen Mann wieder und wieder.

Am nächsten Morgen machten sie sich zusammen auf den Weg nach des Königs Hof. Und der König verheiratete seine Tochter mit dem jungen Mann, der sie befreit hatte, und gab dessen Bruder die Tochter eines seiner Hofleute, und so lebten sie alle glücklich bis an das Ende ihrer Tage.


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