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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Die Prinzessin von Canterbury



***
Da lebte einmal in der Grafschaft Cumberland ein Edelmann, der drei Söhne hatte. Zwei von ihnen waren hübsche und kluge Jungen, der dritte aber geradezu ein Narr, Jack genannt, der meistens nur die Schafe hütete. Er trug einen bunten Rock und einen großen Hut mit einer Troddel, so wie das eben dazu gehörte. Der König von Canterbury aber hatte eine wunderschöne Tochter, die sich durch besonderen Scharfsinn und Witz auszeichnete, und deshalb ließ er bekanntmachen, daß derjenige, der drei Fragen beantworten könnte, die ihm die Prinzessin stellen würde, sie zur Frau bekommen solle und nach seinem Tode die Krone erben werde. Kaum war dieser Erlaß veröffentlicht, als die Kunde davon auch den Söhnen des Edelmannes zu Ohren kam und die zwei klugen einen Versuch beschlossen. Doch waren sie arg in Verlegenheit, wie sie es wohl verhindern könnten, daß ihr närrischer Bruder mit ihnen ging. Auf jede Art und Weise versuchten sie ihn loszuwerden und waren schließlich gezwungen, seine Begleitung zu ertragen. Sie wanderten noch nicht lange, als Jack vor Lachen barst und rief: »Ich habe ein Ei gefunden.« —»Tu's in deine Tasche«, sagten die Brüder. Ein wenig später brach er von neuem in Gelächter aus, denn er hatte einen



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krummen Haselnußzweig gefunden, den er auch in seine Tasche stopfte. Und ein drittes Mal schrie er laut auf vor Lachen, als er eine Nuß fand. Auch sie kam zu seinen anderen Schätzen.

Als sie das Schloß erreichten, nannten sie den Grund ihres Kornmens, wurden auch sofort eingelassen und in einen Raum geführt, in dem die Prinzessin mit ihrem Gefolge saß. Jack, der keinerlei gutes Benehmen hatte, schrie gleich los: »Was für einen Haufen hübscher Frauen gibt es hier!«

»Ja«, sagte die Prinzessin, »wir sind schöne Frauen, denn ein helles Feuer brennt in unserem Inneren.«

»So, tut es das?«fragte Jack. »Dann brate mir mal ein Ei!«, und er holte das Ei aus seiner Tasche.

»Wie willst du es wieder herausholen?«fragte die Prinzessin.

»Mit einem gebogenen Stecken«, antwortete Jack und holte seinen Haselnußzweig hervor.

»Wo kommt der denn her?«fragte die Prinzessin.

»Von einer Nuß«, antwortete Jack und kramte die Nuß aus seiner Jackentasche heraus. »Ich habe drei Fragen beantwortet, und nun will ich das Fräulein haben.«

»Nein, nein«, sagte der König, »nicht so schnell. Du hast noch eine Probe zu bestehen. Du mußt in einer Woche wiederkommen und eine ganze Nacht hindurch auf die Prinzessin, meine Tochter, aufpassen. Wenn du es fertigbringst, die ganze Nacht lang munter zu bleiben, dann sollst du sie am nächsten Tag heiraten.«

»Wenn ich aber nicht durchhalte?«

»Dann wird dir der Kopf abgeschlagen«, sagte der König. »Aber du brauchst es nicht zu versuchen, wenn du nicht willst.«

Nun, Jack ging nach Hause und überlegte eine Woche lang, ob er es wohl tun solle, um die Prinzessin zu gewinnen. Zuletzt entschloß er sich dazu. >Ach, ich will mein Glück versuchen<, dachte Jack, >jetzt geht's also um des Königs Tochter oder um einen kopflosen Schafhirten!<

Und er nahm Trinkflasche und Eßbeutel und wanderte zum königlichen Hof. Auf dem Weg dorthin mußte er über einen Fluß, und als er Schuhe und Strümpfe auszog, um hinüberzugehen, sah er



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mehrere hübsche kleine Fische um seine Füße herumspielen und fing einige und steckte sie sich in die Tasche. Als er den Palast erreichte, klopfte er mit seinem Wanderstock kräftig ans Tor, und nachdem er gesagt hatte, weshalb er gekommen sei, wurde er gleich in den Saal geführt, in dem die Königstochter, auf ihre Freier wartend, saß. Man wies ihm einen kostbaren Sessel an, und köstliche Weine und Delikatessen und Speisen wurden vor ihn hingestellt. Jack, solcher Dinge unkundig, aß und trank, soviel er nur konnte, so daß er noch weit vor Mitternacht am Einschlafen war.

»Oh, Schafhirt«, rief das Fräulein aus, »ich habe dich überrumpelt!«

»Ach nein, du süße Verbündete, ich war nur mit Fischen beschäftigt.«

»Mit Fischen?«rief da die Prinzessin voller Erstaunen. »Aber nein, du Schafhirt, hier im Saal gibt es doch keinen Fischteich!«

»Das hat nichts zu sagen, denn ich habe in meiner Tasche gefischt und gerade einen gefangen.«

»Na, na«, rief sie, »den laß mich mal sehen!«

Verschmitzt zog der Schäfer den Fisch so aus der Tasche, als habe er ihn eben erst gefaßt, zeigte ihn ihr, und sie rief, das wäre der schönste Fisch, den sie je gesehen habe.

Eine halbe Stunde später fragte sie: »Schäfer, glaubst du, du könntest mir noch einen besorgen?«

Er antwortete: »Vielleicht gelingt es, wenn ich einen Köder an meinen Angelhaken tue.«Und nach kurzer Zeit wies er ihr einen zweiten Fisch vor, der noch schöner als der erste war, und die Prinzessin freute sich darüber so sehr, daß sie ihm erlaubte, schlafen zu gehen, und versprach, ihn bei ihrem Vater zu entschuldigen.

Am anderen Morgen erzählte die Prinzessin dem König zu seinem großen Erstaunen, Jack brauche nicht gehängt zu werden, denn er habe die ganze Nacht über im Saale gefischt. Doch als er hörte, auf welche Art Jack einen so herrlichen Fisch in seiner eigenen Tasche gefangen habe, bat er, noch einen in seiner, der königlichen Tasche, zu fangen.

Ohne weiteres unterzog Jack sich der Aufgabe. Er bat den König,



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sich hinzulegen, und während er angeblich in dessen Tasche fischte, spießte er heimlich einen anderen Fisch auf eine Nadel, hielt ihn hoch und zeigte ihn dem König.

Seiner Majestät gefiel die Sache nicht so recht, doch mußte er zugeben, daß es wohl ein Wunder war. Und die Prinzessin und Jack wurden noch am selben Tag verheiratet und lebten miteinander viele Jahre in Glück und Wonne.


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