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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Das kleine Stierkalb

Es ist schon viele hundert Jahre her, als fast das ganze Land noch eine Wildnis war, da gab es einmal einen kleinen Jungen, der in einem winzigen bißchen Wohlstand lebte und dem sein Vater deswegen ein kleines Stierkalb schenkte und dazu alles, was es brauchte.

Doch bald danach starb der Vater, und des Knaben Mutter heiratete wieder, und zwar einen Mann, der ein sehr böser Stiefvater wurde und den kleinen Jungen nicht ausstehen konnte. Zuletzt sagte der Stiefvater: »Wenn du das Stierkalb ins Haus bringst, schlag' ich es tot.« War das nicht ein rechter Bösewicht?

Von nun an ging der kleine Junge immer hinaus und fütterte sein Stierkälbchen jeden Tag mit Gerstenbrot. Und als er das wieder einmal machte, trat ein alter Mann zu ihm -wir können uns schon denken, wer das gewesen ist, nicht wahr? —und sprach zu ihm: »Es wäre bedeutend besser für dich und dein Stierkalb, von hier fortzugehen und irgendwo euer Glück zu versuchen.«

So ging er also fort und ging und ging. Er ging so lange, daß ich es euch bis übermorgen nacht erzählen müßte, bis er endlich ein Bauernhaus erreichte, wo er um eine Brotkruste bat. Und als er von dem Haus zurückkam, brach er sie in zwei Teile und gab die eine Hälfte dem Kälbchen. Und er ging zu einem anderen Haus und bat um ein bißchen Sahnekäse, und als er zurückkam, wollte er die Hälfte dem Kälbchen geben. »Nein«, sagte das Stierkalb, »ich gehe jetzt übers Feld in den undurchdringlichsten Wald der undurchdringlichsten Wildnis dieses Landes, wo es Tiger, Leoparden, Wölfe, Affen und einen feurigen Drachen gibt, und ich werde sie alle töten außer dem Drachen, denn der wird mich töten.«

Der kleine Junge schrie auf und rief: »Oh, nein, mein liebes Kälbchen, nein, er soll dich nicht töten.«

»Doch, er wird«, sagte das kleine Stierkalb, »und nun klettere auf



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diesen Baum hier, daß niemand nachts zu dir kommen kann als die Affen, und wenn die kommen, wird dich der Sahnekäse retten. Und wenn ich getötet bin, wird der Drache kurze Zeit fortgehen, dann mußt du von dem Baum steigen und mir das Fell abziehen und meine Gallenblase herausnehmen und auf blasen, und jeder wird tot umfallen, den du damit berührst. Wenn also dann der feurige Drache zurückkommt, erschlägst du ihn mit dieser Blase und schneidest ihm die Zunge ab.«

(Wir wissen, daß es zu jener Zeit feurige Drachen gab so wie St. Georg und sein Drache in der Bibel. Aber die Welt von damals war nicht dieselbe wie die heutige. Die Welt ist seitdem auf den Kopf gestellt worden, so als hättest du sie mit dem Spaten umgedreht.) Nun tat der Junge alles, was das kleine Stierkalb ihm befohlen hatte. Er kletterte auf den Baum, und die Affen kletterten hinter ihm her. Doch er hielt den Sahnekäse in der Hand und sagte: »Ich will euer Herz auspressen wie Kieselsteine.« Da zwinkerte ihm der oberste Affe so zu, als ob er sagen wollte: >Wenn du aus einem Kieselstein Saft auspressen kannst, versuche doch mal, mich auszupressen.< Aber er schwieg zu der List des Affen, stieg jedoch bald herunter. Währenddessen hatte das kleine Stierkalb alle wilden Tiere niedergekämpft, und der kleine Junge schlug mit den Händen an den Baum und rief: »Komm hierher, mein kleines Stierkalb! Tapfer gefochten, kleines Stierkalb!«Und es meisterte alle, nur den feurigen Drachen nicht, und der feurige Drachen tötete das kleine Stierkalb.

Nun wartete und wartete der Junge, bis er sah, daß der Drachen fortging. Jetzt kam er heran und zog das Fell des kleinen Stierkalbes ab und nahm die Gallenblase heraus und ging hinter dem Drachen her. Und als er so ging, da fand er eine Königstochter, die mit ihren Haupthaaren an einen Pfahl angebunden war, denn sie war hier festgemacht worden, um von dem Drachen getötet zu werden. Er ging zu ihr hin und band sie los, aber sie rief: »Die Zeit ist gekommen, in der mich der Drache töten will; fliehe, du kannst mir nicht helfen.« Er aber antwortete: »Nein, ich kann ihn bezwingen, und ich werde nicht gehen.«Und trotz allem ihrem Bitten und Flehen wollte er bleiben.



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Schon hörte man den Drachen von weitem, brüllend und dröhnend, und dann kam er näher, feuerspeiend und eine Zunge wie einen gewaltigen Speer herausstreckend, und meilenweit konnte man ihn schon hören. Er näherte sich der Stelle, wo er die Königstochter festgebunden hatte. Doch als er auf sie zustürzte, schlug ihm der Junge die Kalbsblase an den Kopf, und der Drache fiel tot um; doch bevor er starb, biß er dem Jungen noch den Zeigefinger ab.

Jetzt schnitt der Junge die Zunge des Drachen heraus und sagte zur Königstocher: »Ich tat, was ich konnte, jetzt aber muß ich dich verlassen.« Sie war sehr traurig, weil er gehen wollte, und bevor er schied, schob sie noch einen diamantenen Ring in seine Locken und sagte auf Wiedersehen.

Bald kam der alte König weinend und jammernd, weil er glaubte, nichts mehr von seiner Tochter vorzufinden als Spuren, wohin sie verschleppt worden war. Wie staunte er, da er sie lebend und gesund wiederfand, und er fragte: »Wie bist du gerettet worden?« Das erzählte sie ihm, und er führte sie wieder heim in sein Schloß.

Jetzt ließ er überall bekanntmachen, wer seine Tochter gerettet habe, wer die Zunge des Drachen und den Diamantring der Prinzessin und keinen Zeigefinger mehr habe, der solle sich melden. Wer es auch sei, der diese Zeichen vorweisen könne, solle seine Tochter zur Frau bekommen und nach seinem Tode das Königreich erben. Ja, eine Menge Adliger kam aus ganz England mit abgeschnittenen Zeigefingern, mit Diamantringen und allen möglichen Arten von Zungen, solchen von wilden Tieren und auch ganz unbekannte Zungen. Aber sie konnten keine Drachenzunge vorweisen und wurden deshalb weggeschickt.

Zuletzt kam noch der Junge, der sehr abgerissen und wüst aussah. Die Königstochter erkannte ihn, doch ihr Vater wurde ärgerlich und befahl, diesen Betteljungen wegzuschicken. »Vater«, sagte die Tochter, »ich weiß aber etwas von diesem Jungen.«

Ja, da kamen die vornehmen Herren und legten ihre Drachenzungen vor, die gar keine Drachenzungen waren, und als schließlich der Junge, den man inzwischen etwas besser angezogen hatte, vortrat, sagte der alte König zu seiner Tochter: »Ich sehe, du hast ein Auge



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auf diesen Knaben geworfen. Wenn er es ist, muß er es halt sein.« Doch alle anderen wollten ihn am liebsten umbringen: »Pah, ach was, werft den Bengel hinaus, er kann es nicht sein!«Der König aber sagte: »Nun, mein Junge, laß sehen, was du vorweisen kannst!« Da zeigte er den Diamantring, in dem der Name der Prinzessin stand, und die Zunge des feurigen Drachen. Die anderen waren wie vom Donner gerührt, als er seine Beweise vorlegte. Der König aber sprach zu ihm: »Du sollst meine Tochter haben und mein Königreich.«

So bekam er die Prinzessin zur Frau und später noch das Königreich. Es kam auch sein Stiefvater, um ihm zu huldigen, aber der junge König gab sich ihm nicht zu erkennen.


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