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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Die alte Hexe

Da waren einmal zwei Mädchen, die lebten bei ihrer Mutter und ihrem Vater. Der Vater hatte keine Arbeit, und deswegen wollten die Mädchen von Hause fortgehen und ihr Glück draußen in der Welt versuchen. Das eine Mädchen wollte Magd werden, und die Mutter erlaubte ihr, sich eine Stelle zu suchen. Also ging sie in die Stadt. Zwar lief sie dort überall herum, doch niemand konnte ein Mädchen wie sie gebrauchen. Deswegen ging sie immer weiter und aus der Stadt hinaus und auf das Land. Und sie kam an eine Stelle, wo eine Menge Brot im Ofen buk. Und das Brot rief: »Kleines Mädchen, kleines Mädchen, nimm uns heraus, nimm uns heraus! Sieben Jahre backen wir schon, und niemand ist gekommen, um uns herauszunehmen.« Das Mädchen nahm alle heraus, legte sie sorgsam auf den Boden und ging weiter. Dann traf sie eine Kuh, und die Kuh rief:



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»Kleines Mädchen, kleines Mädchen, melke mich, melke mich! Sieben Jahre warte ich schon, und niemand ist gekommen, um mich zu melken.« Das Mädchen molk die Kuh in die danebenstehenden Eimer. Da sie durstig war, trank sie ein wenig davon und ließ das übrige in den Eimern bei der Kuh. Wieder ging sie ein Stückchen weiter und kam zu einem Apfelbaum, der so voller Früchte hing, daß seine Äste am Herunterbrechen waren. Und der Baum bat: »Kleines Mädchen, hilf mir und schüttle mich! Meine Zweige haben schwer zu tragen, daß sie gleich brechen werden.«

Und das Mädchen antwortete: »Natürlich will ich das gern tun, du armer Baum.«Gleich schüttelte sie alle Früchte herunter, richtete die Zweige hoch und ließ die Äpfel auf der Erde unter dem Baum liegen. Dann ging sie wieder weiter, bis sie an ein Haus kam. In diesem Haus lebte aber eine Hexe, und diese Hexe nahm junge Mädchen in ihre Dienste. Und als sie hörte, daß dieses Mädchen von Hause fortgegangen war, um sich einen Arbeitsplatz zu suchen, sagte sie, sie wolle sie nehmen und auch guten Lohn zahlen. Nun erklärte die Hexe dem Mädchen, was es zu tun habe. »Du mußt das Haus sauber und ordentlich halten, Flur und Herd scheuern, aber etwas darfst du nie tun: Nie darfst du oben auf den Kamin sehen, sonst geschieht dir etwas ganz Furchtbares.«

Das Mädchen versprach es, doch eines Morgens beim Saubermachen, als die Hexe nicht im Hause war, vergaß sie die Warnung und blickte oben auf den Kamin. Kaum hatte sie es getan, da fiel ihr ein großer Beutel voll Geld in den Schoß. Und das geschah wieder und wieder. Jetzt entschloß sich das Mädchen, so schnell sie nur konnte, fort und nach Hause zu laufen.

Als sie noch nicht weit weg war, hörte sie die Hexe hinter sich herkommen. Da lief sie zu dem Apfelbaum und bat ihn:

»Apfelbaum, verberge mich!
Die böse Hexe finde mich nicht!
Find't sie mich,
Macht sie mich tot.
Ach, ich bin in großer Not.«



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Und der Apfelbaum versteckte sie. Und als die Hexe kam, rief sie:

»Baum meiner, Baum meiner,
Hast ein Mädel du gesehen,
Lief in schnellem, schnellem Lauf,
Trug ein Säckchen obenauf,
All mein Geld, so Hauf' zu Hauf'?«


***
Und der Apfelbaum antwortete: »Nein, Mutter, seit sieben Jahren nicht.«

Als die Hexe nun einen anderen Weg entlanglief, setzte das Mädchen den ihren fort, und gerade als sie zu der Kuh kam, hörte sie hinter sich die Hexe herantoben. Deswegen lief sie zu der Kuh hin und flehte:

»Kuh, Kuh, verberge mich!
Die böse Hexe finde mich nicht!
Find't sie mich, macht sie mich tot.
Ach, ich bin in großer Not!«


***
Und die Kuh versteckte sie hinter sich.

Als die Hexe angesaust kam, schaute sie auf und fragte:

»Kuh meine, Kuh meine,
Hast ein Mädel du gesehen,
Lief in schnellem, schnellem Lauf,
Trug ein Säckchen obenauf,
All mein Geld, so Hauf' zu Hauf'?«


***
Und die Kuh antwortete: »Nein, Mutter, seit sieben Jahren nicht.« Als die Hexe jetzt einen anderen Weg entlanglief, setzte das Mädchen den ihren fort, und als sie nahe dem Backofen war, hörte sie wieder die Hexe heranbrausen. Deshalb lief sie zu dem Ofen und flehte ihn an:



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»Ofen, Ofen, verstecke mich!
Die böse Hexe finde mich nicht,
Find't sie mich, macht sie mich tot.
Ach, ich bin in großer Not.«

Und der Ofen sagte: »Ich habe keinen Platz, aber frage den Bäcker!« Und der Bäcker versteckte sie hinter dem Ofen.

Als die Hexe angesaust kam, schnüffelte sie hier herum und da herum und überall herum, und dann fragte sie den Bäcker:

»Bäcker mein, Bäcker mein,
Hast ein Mädel du gesehen,
Lief in schnellem, schnellem Lauf,
Trug ein Säckchen obenauf,
All mein Geld, so Hauf' zu Hauf'?«


***
Doch der Bäcker sagte: »Schau doch im Ofen nach!« Die alte Hexe sah hinein, und der Ofen sagte: »Komm doch herein und sieh in den äußersten Ecken nach!« Die Hexe tat es, und als sie drinnen war, klappte der Ofen die Tür zu, und die Hexe war eine ganze Zeit lang darin gefangen.

Das Mädchen aber lief weiter und kam nach Hause mit ihren Beuteln voll Geld, heiratete einen reichen Mann und lebte von da an ganz glücklich.

Die andere Schwester dachte indessen bei sich, sie wolle dort hingehen und es auch so machen. Und sie schlug denselben Weg ein. Doch als sie zu dem Ofen kam, und das Brot rief: »Kleines Mädchen, kleines Mädchen, nimm uns heraus! Sieben Jahre schon backen wir, und keiner kam, um uns herauszuholen«, da sagte das Mädchen: »Nein, ich habe keine Lust, mir die Finger zu verbrennen.«Sie ging weiter, bis sie zu der Kuh kam, und die Kuh sagte: »Kleines Mädchen, kleines Mädchen, melke mich, melke mich. Sieben Jahre warte ich schon, und keiner hat mich seitdem gemolken.« Das Mädchen aber antwortete: »Nein, ich habe keine Zeit, dich zu melken, ich habe es eilig«, und lief weiter. Dann kam sie zu dem Apfelbaum, und der Apfelbaum



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bat sie, seine Früchte herunterzuschütteln. Aber das Mädchen erwiderte: »Nein, das kann ich nicht, vielleicht geht es später einmal.«Und sie ging davon, bis sie zu dem Haus der Hexe kam. Nun, dort erging es ihr so wie ihrer Schwester -sie vergaß die Mahnung, und als die Hexe eines Tages nicht im Hause war, schaute sie auf den Kamin, und gleich fiel ein Beutel mit Geld herunter. >Schön<, dachte sie, >nun schnell fort damit!<Als sie den Apfelbaum erreicht hatte, hörte sie die Hexe hinter sich und bat:

»Apfelbaum, verberge mich!
Böse Hexe, finde mich nicht!
Find't sie mich, macht sie mich tot.
Ach, ich bin in großer Not.«


***
Doch der Baum gab keine Antwort, und sie rannte weiter. Aber da kam schon die Hexe und rief:
»Baum meiner, Baum meiner,
Hast ein Mädel du gesehen,
Lief in schnellem, schnellem Lauf,
Trug ein Säckchen obenauf.
All mein Geld, so Hauf' zu Hauf'?«


***
Der Baum sagte: »Ja, Mutter, sie ist diesen Weg entlanggelaufen.« Also sauste die Hexe hinterher, packte sie, nahm ihr alles Geld fort, prügelte sie tüchtig durch und jagte sie wieder nach Hause, so arm, wie sie hergekommen war.

Copyright: arpa, 2015.

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