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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Die Salbe der Feen

Frau Goody war eine Pflegerin, die zu kranken Leuten und zu kleinen Kindern kam. Einmal wurde sie um Mitternacht geweckt, und als sie herunterschaute, stand draußen ein seltsamer schieläugiger, kleiner, häßlicher, ältlicher Mann, der sie bat, zu seiner Frau zu kommen, weil sie zu krank sei, um selbst ihr Kind zu versorgen. Frau Goody mochte den Blick des alten Kerls ganz und gar nicht, aber Geschäft ist Geschäft, und so packte sie ihre Siebensachen zusammen und ging zu ihm hinunter. Und als sie zu ihm trat, wirbelte er sie geradezu auf ein großes kohlschwarzes Pferd mit feurigen Augen, das am Tor stand, und schon flogen sie in einem Tempo davon,



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daß Frau Goody den gespenstischen Alten für den grausamen Tod selber hielt.

Sie jagten und jagten durch die Nacht, bis sie zuletzt jäh vor einer Hüttentür hielten. Sie stiegen ab, gingen hinein und fanden die Frau zu Bett, während die Kinder umherspielten und das kleinste, ein schöner und stattlicher Knabe, neben der Frau lag.

Frau Goody nahm das Baby auf, ein so bildhübscher Junge, wie ihr ihn gewiß auch gern gesehen hättet. Als die Mutter Frau Goody das Kind überließ, gab sie ihr zugleich eine Schachtel Salbe mit der Anweisung, die Augen des Kindes damit zu bestreichen, sobald es sie öffnete. Nach einiger Zeit tat es auch langsam die Augen auf. Frau Goody sah, daß es genauso schielende Augen wie sein Vater hatte. Sie nahm die Salbe und bestrich damit die beiden Augenlider. Aber sie konnte sich nicht helfen, sie mußte sich darüber wundern, wozu das wohl gut sein sollte, hatte sie bisher doch nie gesehen, daß man das tat. Sie paßte auf, ob jemand zu ihr hinblickte, und als sie sich unbeobachtet glaubte, bestrich sie ihr eigenes rechtes Augenlid mit der Salbe. Kaum hatte sie das getan, da schien ihr alles ringsumher verändert. Die Hütte sah prächtig eingerichtet aus. Die Mutter im Bett war eine wunderschöne, in weiße Seide gehüllte Dame. Das kleine Kind war noch viel schöner als zuvor und seine Kleidung wie aus silbriger Gaze gewebt. Seine kleinen Brüder und Schwestern rund um das Bett waren flachnasige Teufelchen mit spitzen Ohren, die einander Grimassen schnitten und sich die Köpfe zerkratzten. Dazwischen wollten sie die kranke Frau mit ihren langen und behaarten Krallen an den Ohren ziehen. Jedenfalls waren sie zu jeder Art Unfug bereit, und Frau Goody wußte nun, daß sie in ein Haus der Irrlichter geraten war. Doch sie sagte nichts und sprach zu niemandem, und sobald die Frau so weit genesen war, um selbst für ihr Kind sorgen zu können, bat sie den Alten, sie wieder nach Hause zu bringen.

Und er kam mit dem kohlschwarzen Pferd, das so feurige Augen hatte, an die Tür, und fort ging es, so schnell wie das erstemal oder beinahe noch etwas schneller, bis sie zu Frau Goodys Haus kamen, wo der schieläugige Alte sie absetzte und verließ, nachdem er höflich



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gedankt und sie so reichlich bezahlt hatte, wie sie für ihre Arbeit noch nie zuvor bezahlt worden war. Zufällig war am nächsten Morgen Markttag. Da Frau Goody länger von Haus fortgewesen war, brauchte sie allerlei und ging deshalb auf den Markt. Als sie die notwendigen Eßwaren kaufte, wen sah sie da, wenn nicht den seltsamen schieläugigen Kerl, der sie auf dem kohlschwarzen Pferd zu dem Kinde geholt hatte? Und könnt ihr euch vorstellen, was er tat? Er ging von Stand zu Stand und nahm von jedem etwas mit, hier ein paar Früchte, da ein paar Eier und so fort, und niemand schien es zu bemerken. Zwar hielt es Frau Goody nicht für richtig, sich einzumischen, doch hielt sie es für nötig, einem solchen Burschen ein Wörtchen zu sagen. Sie drängte sich also zu ihm durch, verbeugte sich höflich und sprach: »Guten Tag, mein Herr, ich hoffe, daß es Ihrer lieben Frau und dem Kleinen so gut wie nur.

Doch sie konnte nicht vollenden, was sie sagen wollte, denn der sonderbare Alte schaute überrascht auf und rief: »Was, Ihr könnt mich am hellichten Tag sehen?«

»Natürlich sehe ich Sie«, antwortete sie. »Selbstverständlich sehe ich Sie, so klar, wie ich die Sonne am Himmel und alles andere sehe«, bekräftigte sie. »Ich sehe, Sie sind auch eilig und am Einkaufen.«

»Ach, Ihr seht mir zuviel«, rief er aus. »Sagt bloß, mit welchem Auge könnt Ihr das alles sehen?«

»Mit dem rechten, das ist ganz gewiß«, antwortete sie, stolz darauf, daß sie ihn ertappt hatte.

»Die Salbe! Die Salbe!« rief der alte Irrlichter-Dieb aus.

»Nehmt das, weil Ihr Euch um Dinge gekümmert habt, die Euch nichts angehen. Nie wieder sollt Ihr mich sehen.« Und damit schlug er sie auf das rechte Auge, und sie konnte ihn nicht mehr sehen. Und, viel schlimmer, sie war von dieser Stunde an auf dem rechten Auge blind und blieb es bis zur Stunde ihres Todes.


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