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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


31. Der verkleidete Knabe (angeblich wahre Geschichte)


(Vgl. den Anfang von Nr. 30) Zwei junge Männer waren von Kindheit an miteinander befreundet. Sie sahen sich alle Tage. Sie unternahmen alles gemeinsam. Sie heirateten auch am gleichen Tage. Als sie am Tage vor der Hochzeit zusammenkamen, sagten sie zueinander: "Wenn eine unserer Frauen einen Knaben und die andere ein Mädchen gebären wird, so sollen diese beiden Kinder einander heiraten." Sie schworen sich das zu. Dann heirateten sie.

Nach einem Jahre gebar die eine Frau ein Mädchen und die andere einen Knaben. Die beiden jungen Männer waren aber nicht mehr miteinander befreundet, denn ihre Frauen konnten es nicht sehen, daß die beiden Männer immer beieinander saßen. Deshalb waren sie auf die Freundschaft der Männer eifersüchtig und zankten sich miteinander, wo sie sich trafen; sie beschimpften sich und sagten eine jede stets zu ihrem Manne: "Die Frau deines Freundes hat mich beschimpft." Lange Zeit kümmerten sich die Männer nicht um das Zanken der Frauen und kamen wie früher zusammen und unternahmen alles gemeinsam. Die Brüder und Väter der Frauen sprachen aber dazwischen und mit den jungen Männern, und zuletzt gaben sie den Vorstellungen der Frauen nach und machten sich gegenseitig auch Vorwürfe.

Als nun die Kinder geboren wurden, war der Streit so weit gediehen, daß die beiden Männer nicht mehr anders zusammenkamen, als mit anderen Leuten und sich mieden und sich nur noch grüßten. Der Vater des Mädchens war sehr ärgerlich, als sein Kind geboren



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wurde, und sagte: "Ich will meine Tochter nicht dem Sohn des anderen zur Frau geben. Ich will sagen, daß meine Frau einen Knaben geboren habe."

Die beiden Männer trafen sich. Der eine sagte: "Meine Frau hat einen Knaben geboren." Der andere sagte: "Meine Frau hat auch einen Knaben geboren." Sie gingen auseinander. Der Vater des Mädchens ließ das Kind wie einen Knaben kleiden und mit den Knaben spielen. Der Knabe und das als Knabe verkleidete Mädchen schlossen miteinander Freundschaft. Sie hatten sich so gerne, daß sie nur miteinander spielten und nicht mit den anderen Kindern. Die beiden Eltern sagten zu ihren Kindern: "Du sollst nicht mit dem anderen Knaben spielen." Die Kinder kamen nun aber im geheimen zusammen und hatten sich nun noch mehr lieb als vorher.

Die beiden Kinder kamen in die Schule. Beide Kinder waren sehr klug und lernten sehr schnell und gut und waren beide die besten Schüler des Lehrers. Die beiden Kinder saßen in der Schule immer nebeneinander. Eines Tages begannen sie, eines an den Beinen des anderen zu spielen. Der Lehrer sah es. Der Lehrer wurde böse und schlug beide Kinder. Der Lehrer setzte die beiden Kinder an verschiedene Ecken des Raumes, in dem er unterrichtete. Die Kinder machten nun aber in ihre hölzernen Lesetafeln Löcher, durch die sie hindurchsahen und einander Zeichen machten. Als der Lehrer das sah, schlug er sie wieder und setzte die Kinder in verschiedene Zimmer.

Die Kinder machten nun aber in die Wand, die sie trennte, ein Loch und steckten die Zunge hindurch, um sich so zu berühren. Der Lehrer sah es. Er schlug sie und ging dann zu den Vätern der Kinder. Er sagte zu den Vätern: "Diese Kinder können nicht beide Knaben sein. Sie lieben einander so stark und in einer Weise, daß eines der beiden Kinder ein Mädchen sein muß." Die beiden Väter wurden zornig aufeinander. Der eine sagte: "Du hast mich belogen, dein Kind muß ein Mädchen sein." Der andere sagte: "Nein, du hast mich belogen. Dein Kind muß ein Mädchen sein." Die beiden Männer beschimpften sich nun so, wie sich früher ihre Frauen beschimpft hatten, und nun grüßten sie sich nicht mehr.

Die Väter sagten zu dem Lehrer: "Schließe die beiden Kinder jedes in ein eigenes Zimmer ein und lasse sie nicht heraus, so daß sie sich gar nicht mehr sehen und hören können." Der Lehrer schloß die Kinder nun in zwei verschiedene Räume ein. Der Knabe kam in



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eine Kammer zu ebener Erde. Das als Knabe verkleidete Mädchen kam in den darüber gelegenen Tarorfiz.

Der Knabe stieg nun auf die Lehmbank und machte hinter dem Holzpfeiler von unten ein Loch in die Decke. Zuerst machte er das Loch so groß, daß er die Hand hindurchstecken konnte. Die Kinder steckten nun die Hände zueinander und küßten (eigentlich: "leckten") sich die Hände. Die Kinder wuchsen schnell heran und wurden groß. Nach einem Jahre machte der Bursch das Loch in der Decke hinter dem Pfeiler so groß, daß er den Kopf hindurchstecken konnte. Nun küßte er das als Knabe verkleidete Mädchen auf den Körper. Er küßte das Mädchen überall und das Mädchen schob ihm alle Teile ihres Körpers zu.

Eines Tages kam der Lehrer dazu. Er sah, daß der Knabe in dem Tarorfiz einen Busen hatte, den der Bursche küßte. Der Lehrer ging zu dem Vater des Burschen und sagte: "Das Kind des anderen Mannes, mit dem du früher so befreundet warst, hat einen Busen. Es ist kein Bursche, sondern es ist ein Mädchen, und es ist reif zum Heiraten. Die beiden Kinder lieben sich so stark, daß man sie nicht wieder wird trennen können." Der Vater lief zu einem Amrar asemeni und erzählte ihm alles. Der Amrar asemeni dachte sehr lange nach und sagte: "Ihr waret früher Freunde und habt euch als Freunde ein Versprechen gegeben. Die Frauen haben eure Freundschaft so weit auseinandergebracht, daß aus der Freundschaft nichts mehr übrigblieb als euer Versprechen, daß eure Kinder einander heiraten würden. Aus der Feindschaft eurer Frauen aber wurde die Lüge eures Wortes. Nun müßt ihr wissen, was besser ist: ob das Versprechen eurer Freundschaft oder die Lüge eurer Feindschaft. Geht zu einem Chranem (Richter) und laßt den über diese Frage entscheiden."

Beide Männer gingen zu dem Chranem und trugen ihre Sache vor. Der Chranem hörte alles an und sagte: "Der Amrar asemeni hat recht. Wie wollt ihr euch über die Sache anders entscheiden können als nur in dem einen Sinne, daß das Versprechen der Freundschaft etwas Gutes ist und daß die Lüge der Feindschaft nur Unglück über euch und eure Kinder bringt. Jetzt, wo ihr alt und erfahren seid, müßt ihr wissen, wie glücklich euch früher eure Freundschaft machte und welches Unglück euch euer Zank in das Haus brachte. Ihr seid wie alle Männer den törichten Launen eurer jungen Frauen gefolgt, als ihr jung waret. Nun ihr alt seid, kehrt mit Einhaltung eures Versprechens zur Freundschaft eurer Jugend zurück."



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Die beiden Kinder wurden herbeigerufen. Die Väter gaben ihre Kinder einander zur Ehe. Die beiden Freunde der Jugend wurden nun Freunde des Alters. Sie starben als Freunde.


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