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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DIE ERZÄHLUNG VON DEM STIER UND DEM ESEL

Wisse, meine Tochter, es war einmal ein Kaufmann, der reich an Vermögen und Vieh war; er hatte auch eine Gemahlin und Kinder, und Gott der Erhabene hatte ihm die Gabe verliehen, die Sprachen der Tiere und Vögel aller Art zu verstehen, aber bei Strafe des Todes, wenn er diese Gabe verriet. Jener Kaufmann hatte seine Wohnung auf dem Lande, und in seinem Stalle hatte er einen Esel und einen Stier. Eines Tages kam der Stier zu dem Stand des Esels und sah, wie dieser Stand gefegt und gesprengt war, wie in des Esels Krippe gesiebte Gerste und gesiebtes Häcksel war, wie er selbst dalag und sich ausruhte, weil sein Herr ihn nur zuweilen ritt, wenn er irgend etwas zu besorgen hatte, und ilm dann wieder zu seinem Stand zurückbrachte. Und da hörte der Kaufmann eines Tages den Stier



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zum Esel sagen: ,Wohl bekomme dir das! Ich muß mich abmühen, aber du kannst dich ausruhen, du kannst gesiebte Gerste fressen, und er läßt dich bedienen, reitet auf dir nur zuweilen und kehrt wieder heim. Aber ich muß immer pflügen und die Mühle drehen!' Der Esel antwortete ihm: ,Wenn du zum Acker gehst und sie das Joch auf deinen Nacken legen wollen, so wirf dich nieder; und wenn sie dich auch schlagen, so steh nicht auf, sondern versuch zu stehen und fall wieder hin. Wenn sie dann mit dir heimkehren und dir das Bohnenstroh vorwerfen, so friß nicht; tu, als ob du krank seist, weigere dich zu fressen und zu trinken, ein bis zwei oder drei Tage lang. Dann wirst du Ruhe haben vor Mühe und Arbeit.' Der Kaufmann aber verstand ihre Rede.

Und als der Treiber dem Stier sein Futter brachte, da fraß er nur ein klein wenig. Am nächsten Morgen wollte der Treiber den Stier zum Pflügen holen, aber er fand ihn krank, und er bedauerte ihn und sprach: ,Das ist der Grund, weswegen er gestern nur schlecht arbeiten konnte.' Darauf ging er zu dem Kaufmanne und sprach zu ihm: ,O Herr, der Stier ist krank; er hat seit gestern abend kein Futter gefressen, hat nichts davon angerührt!' Nun wußte der Kaufmann Bescheid, und so sprach er: ,Geh, hole den Esel und pflüge mit ihm an jenes Statt den ganzen Tag!'

Als der Esel gegen Abend zurückkam, nachdem er den ganzen Tag hatte pflügen müssen, dankte der Stier ihm für seine Freundlichkeit, daß er ihm an diesem Tage Ruhe vor der Anstrengung verschafft habe. Aber der Esel gab ihm keine Antwort, sondern empfand nur bitterste Reue. Als der nächste Morgen tagte, kam der Ackersmann, holte den Esel und pflügte mit ihm bis gegen Abend. Und da kehrte der Esel zurück mit geschundenem Nacken und halbtot vor Müdigkeit. Der Stier



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betrachtete ihn und dankte ihm und lobte ihn; doch der Esel antwortete: ,Ich lebte in Zufriedenheit, und verdarb es durch meine Geschwätzigkeit.' Dann fuhr er fort: ,Wisse, ich gebe dir einen guten Rat! Denn ich habe gehört, wie unser Herr sagte: Wenn der Stier nicht von seinem Lager aufsteht, so bringt ihn zum Schlächter, daß er ihn schlachte und aus seinem Fell Stücke schneide! Ich fürchte also für dein Leben. Meinen Rat habe ich dir gegeben, und damit Gott befohlen!'

Als der Stier die Worte des Esels vernommen hatte, dankte er ihm und sprach: ,Morgen werde ich mit den Leuten zur Arbeit gehen.' Dann fraß der Stier sein Futter ganz auf und leckte sogar noch die Krippe mit der Zunge aus. All das geschah, indem ihr Herr ihre Rede hörte. Und als der nächste Tag anbrach, gingen der Kaufmann und seine Frau zum Stalle und setzten sich dort hin. Dann kam der Treiber, um den Stier zu holen. Der kam heraus, und als er seinen Herrn sah, erhob er seinen Schwanz, ließ einen Wind streichen und fing an zu springen. Da lachte der Kaufmann so sehr, daß er auf den Rücken fiel. Seine Frau aber fragte ihn: ,Weswegen lachst du so?' Er antwortete ihr: ,Es ist ein Geheimnis, das ich gesehen und gehört habe! Das kann ich dir nicht offenbaren, sonst muß ich sterben.' Sie darauf: ,Du mußt es mir unbedingt kundtun und ebenso den Grund deines Lachens, wenn du auch sterben solltest!' Er entgegnete: ,Ich kann es dir nicht offenbaren aus Furcht vor dem Tode.' Nun behauptete sie: ,Du lachst nur über mich.' Und dann hörte sie nicht auf, in ihn zu dringen und ihn zu quälen, bis daß er ihr nachgab und der Sache überdrüssig ward. Daher ließ er seine Kinder holen und sandte nach dem Kadi und den Zeugen, um sein Testament zu machen und ihr das Geheimnis zu offenbaren und danach zu sterben; denn er liebte sie gar sehr, da sie seine Base und sein eheliches Weib



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und die Mutter seiner Kinder war; und er hatte auch bereits einhundertundzwanzig Jahre gelebt. Dann sandte er auch nach seiner ganzen Sippe und Nachbarschaft, und er sprach zu ihnen von seiner Geschichte und daß er, wenn er irgendeinem sein Geheimnis kundtue, sterben müsse. Nun tiefen ihr alle, die bei ihnen zugegen waren, zu: ,Wir beschwören dich bei Allah, steh ab von diesem Vorhaben, damit dein Gatte, der Vater deiner Kinder, nicht sterben muß!' Aber sie beharrte darauf: ,Ich will nicht davon ablassen, bis er es mir sagt; meinetwegen mag er sterben!' Da schwiegen sie. Doch der Kaufmann erhob sich und begab sich zum Waschraum im Stall, um die religiöse Waschung zu vollziehen, dann zu ihnen zurückzukehren, zu ihnen zu sprechen und zu sterben. Er hatte aber einen Hahn, und dieser hatte fünfzig Hennen unter sich; auch hatte er einen Hund. Nun hörte der Kaufmann, wie der Hund den Hahn anschrie und ihn schalt, indem er sagte: ,Du bist so vergnügt, während doch unser Herr sterben soll!' Da fragte der Hahn den Hund: ,Was ist denn das für eine Sache?' Und der Hund erzählte ihm die ganze Geschichte. Da rief der Hahn aus: ,Bei Allah, unser Herr ist doch geringen Verstandes! Siehe, ich habe fünfzig Frauen; mit den einen gehts im Guten, mit den anderen im Bösen. Aber unser Herr hat nur eine einzige Frau und kann mit ihr seine Sache nicht regieren! Warum nimmt er denn nicht für sie ein paar Zweige vom Maulbeerbaum, geht mit ihr in seine Schatzkammer und schlägt sie, bis sie entweder tot ist oder bereut und ihn nie wieder nach etwas fragt!'

Als der Kaufmann die Unterhaltung des Hahns mit dem Hunde gehört hatte, da tat er mit seiner Frau« —also sprach der Wesir zu seiner Tochter Schehrezâd -»das, was ich mit dir tun werde.«Sie fragte: »Was tat er denn?«Er fuhr fort: »Er ging mit ihr in die Schatzkammer; das heißt, nachdem er für sie ein



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paar Zweige vom Maulbeerbaum geschnitten und sie in der Schatzkammer verborgen hatte, ging er mit ihr dorthin, und er sagte zu ihr: ,Komm, ich will es dir drinnen in der Schatzkammer erzählen und dann sterben, ohne daß mich jemand sieht.' Da ging sie mit ihm hinein. Darauf verschloß er die Tür der Kammer hinter ihr und schlug auf sie ein, bis sie fast ohnmächtig ward und rief: ,Ich bereue!' Dann küßte sie ihm Hände und Füße und bereute und ging mit ihm hinaus. Da freute sich die Versammlung und ihre Sippe, und sie lebten in schönster Freude bis an ihr Ende.«

Als die Tochter des Wesirs die Erzählung ihres Vaters gehört hatte, sprach sie zu ihm: »Es muß doch geschehen! «So schmückte er sie denn bräutlich und ging zum König Schehrijâr. Sie hatte jedoch bereits ihrer jüngeren Schwester Anweisung gegeben und ihr gesagt: »Wenn ich mich zum Könige begeben habe, so werde ich nach dir senden. Und wenn du dann zu mir gekommen bist und siehst, daß der König mit mir die Hochzeit vollzogen hat, so sprich: ,O Schwester, erzähle mir eine Geschichte zur Unterhaltung, daß wir durch sie uns die wachen Stunden der Nacht verkürzen' —und dann werde ich dir eine Geschichte erzählen, durch die, so Gott der Erhabene will, die Rettung kommen wird.«Ihr Vater aber, der Wesir, ging mit ihr zum Könige. Als der ihn sah, freute er sich und sprach: »Bringst du mir, was ich wünschen «Jener erwiderte: »Ja!«Alsbald wollte der König zu ihr eingehen, aber sie fing an zu weinen. Da fragte er sie: »Was fehlt dir denn?«Sie erwiderte: »O König, siehe, ich habe eine kleine Schwester, und von der möchte ich Abschied nehmen.« Der König sandte nach der Kleinen, und sie kam zu ihrer Schwester und umarmte sie und setzte sich zu Füßen des königlichen Lagers. Dann ging der König hin und nahm seiner Braut die Mädchenschaft. Darauf setzten



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sich alle nieder, um zu plaudern. Und die jüngere Schwester sprach zu Schehrezâd: »Ich bitte dich bei Allah, o Schwester, erzähle uns eine Geschichte, durch die wir uns die wachen Stunden dieser Nacht verkürzen können! «Jene erwiderte: »Mit größter Freude, wenn der vieledle König es mir erlaubt!«Wie der König, der auch schlaflos war, diese ihre Worte vernahm, freute er sich der Aussicht, eine Geschichte zu hören, und gab ihr die Erlaubnis. So begann Schehrezâd in der 1. Nacht


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