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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Mister Essig

Herr und Frau Essig lebten in einer Essigflasche. Eines Tages nun, als Herr Essig ausgegangen war, kehrte Frau Essig, die eine sehr gute Hausfrau war, ihre Stube. Da brachte sie mit einer allzu energischen Bewegung des Besens -klick klack -das ganze Haus über ihrem Kopf zum Einstürzen. Von Angst gejagt, entfloh sie und suchte ihren Mann. Als sie ihn fand, rief sie: »Ach, Herr Essig, wir sind ruiniert, wir sind ruiniert: Ich habe das ganze Haus zertrümmert, und es liegt in Scherben!«

Darauf sagte Herr Essig: »Meine Liebe, laß uns überlegen, was man nun am besten tut. Hier liegt die Tür. Ich will sie mir auf den Rücken packen, und wir wollen losgehen und sehen, was wir anfangen können.« Sie waren den ganzen Tag unterwegs, und als die Nacht kam, erreichten sie einen großen Wald. Sie waren beide todmüde, und Herr Essig sagte: »Meine Liebe, ich will in einen Baum hinaufklettern, die Tür hinterherziehen, und du folgst mir hinauf.«Gedacht, getan, und beide streckten ihre müden Glieder auf der Türe aus und sanken in tiefen Schlaf.

Um Mitternacht wurde Herr Essig durch Stimmen unter dem Baum aufgeweckt. Voll Schrecken und Entsetzen sah er, daß es eine Diebesbande war, die ihre Beute unter sich teilte. »Hier, Jack«, sagte einer, »hier sind fünf Pfund für dich. Hier, Bill, hier sind zehn Pfund für dich. Hier, Bob, hier sind dreißig Pfund für dich.«

Herr Essig konnte kaum noch lauschen. Sein Schrecken war so groß, daß es ihn hin und her schüttelte, und da fiel die Tür hinunter und genau auf die Köpfe drunten. Eins, zwei, drei, rissen die Diebe aus; doch Herr Essig wagte seine Zuflucht nicht vor Anbruch des Tages zu verlassen. Dann erst kletterte er hinunter, um die Tür aufzuheben. Und was sah er da? Einen ganzen Haufen Golddukaten!

»Komm herunter, Frau Essig, ich sag' dir, komm herunter! Unser Glück ist gemacht; ja, unser Glück ist gemacht! Ich sag' dir, komm nur ja schnell!« Frau Essig kletterte, so fix sie konnte, vom Baum, und als sie das viele Geld sah, sprang sie vor Freude hoch. »Jetzt, mein Lieber, will ich dir sagen, was du machen sollst. Es ist heute



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Jahrmarkt in der Stadt. Nimm die vierzig Dukaten, geh hin und kaufe eine Kuh. Ich kann Butter und Käse machen, die kannst du auf dem Markt verkaufen, und wir werden ein sorgenloses Leben führen.«

Freudig stimmte Herr Essig zu, nahm das Geld und machte sich auf den Weg zum Jahrmarkt. Dort angekommen, ging er auf und ab, und zuletzt sah er eine schöne rotbraune Kuh. Sie war eine gute Milchgeberin und überhaupt ein Musterexemplar.

>Oh<, dachte Herr Essig, >wenn ich diese Kuh hätte, wäre ich der glücklichste von allen Menschen.<Daher bot er die vierzig Dukaten für die Kuh, und der Besitzer meinte, er solle sie dafür haben, weil sie Freunde wären. Also wurde das Geschäft abgeschlossen. Er nahm die Kuh und drehte sie rechts und drehte sie links, um sie so richtig zu bewundern.

Nach einiger Zeit traf er auf einen Mann, der auf einem Dudelsack blies, dideldum, dideldum, dideldei. Die Kinder liefen hinter ihm her, und es sah so aus, als ob er das Geld von allen Seiten einheimse. >Ach<, dachte Herr Essig, >wenn ich doch nur dieses herrliche Instrument hätte, dann wäre ich der glücklichste aller Menschen!<Also trat er zu dem Mann: »Was für ein herrliches Instrument hast du da, mein Freund, und welche Stange Geld bringt es dir wohl ein?« — »Gewiß«, sagte der Mann, »ich verdiene ganz schön damit, und ein gutes Instrument ist es auch.« — »Ach!« rief Herr Essig aus, »wie gern möchte ich es haben!« —»Schön«, sagte der Mann, »weil du ein guter Freund bist, will ich nicht lange feilschen. Du sollst es für die rotbraune Kuh bekommen.« —»Abgemacht!« rief begeistert Herr Essig.

So wurde die rotbraune Kuh gegen den Dudelsack getauscht. Er ging mit seiner Erwerbung hin und her, aber umsonst versuchte er, ihr einen einzigen Ton zu entlocken. Statt Geld in die Tasche zu bekommen, folgten ihm, schreiend, lachend und Steine werfend, die Jungen.

Armer Herr Essig, allmählich wurden ihm dabei seine Finger eisig kalt! Als er eben die Stadt verlassen wollte, begegnete ihm ein Mann, der ein paar schöne, dicke Handschuhe anhatte. >Ach, meine Finger



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sind eiskalt<, dachte Herr Essig. >Hätte ich diese herrlichen Handschuhe, ich wäre der glücklichste Mensch auf der Welt.< Er ging zu dem Mann hin und sagte: »Lieber Freund, du hast da ein paar wunderbare Handschuhe.« —»Hab' ich«, sagte der Mann, »meine Hände sind selbst an diesem kalten Novembertag so warm wie nur möglich.«

»Ach«, seufzte Herr Essig, »die möchte ich wohl haben.« — »Was gibst du dafür?«fragte der Mann. »Unter Freunden gesagt, ich bin bereit, mich von ihnen zu trennen, wenn du mir den Dudelsack dafür gibst.« —»In Ordnung!« rief Herr Essig. Er zog die Handschuhe an und war restlos glücklich, während er jetzt heimwärts wanderte. Mit der Zeit wurde er sehr müde, und da sah er einen Mann mit einem kräftigen Stock in der Hand auf sich zukommen.

>Ach<, meinte Herr Essig, >wenn ich doch nur einen solchen Stock hätte! Dann wäre ich der glücklichste Mann auf der Welt!<

Er sagte zu dem anderen: »Guter Freund, was für einen kräftigen Stock hast du da!« —»Hab' ich«, sagte der Mann. »Viele Meilen lang benütze ich ihn schon, und er hat sich als guter Begleiter erwiesen. Aber wenn er dir so sehr gefällt und aus guter Freundschaft, da will ich ihn dir gegen das Paar Handschuhe überlassen.« Herrn Essigs Hände waren inzwischen so warm und seine Beine so müde, daß er voller Freude auf den Tausch einging. Als er schon nahe dem Walde war, in dem er seine Frau verlassen hatte, hörte er einen Papageien von einem Baum seinen Namen rufen: »Herr Essig, du törichter Mann, du Dummkopf, du Einfaltspinsel, du gingst zum Markt und gabst dein ganzes Geld für den Kauf einer Kuh aus. Nicht genug damit, tauschtest du sie gegen einen Dudelsack, auf dem du gar nicht spielen konntest und der nicht einmal ein Zehntel deines Geldes wert war. Du Dummkopf! Kaum hattest du den Dudelsack bekommen, da tauschtest du ihn gegen die Handschuhe, die nicht ein Viertel deines Geldes wert waren, und als du die Handschuhe hattest, tauschtest du sie gegen einen wertlosen Stecken, und so für deine schönen vierzig Dukaten der Reihe nach eine Kuh, einen Dudelsack und Handschuhe und hast nun nichts vorzuzeigen als diesen dummen Stock, den du dir in jeder Hecke selber schneiden konntest!«



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Und danach lachte und lachte der Vogel so höhnisch, daß Herr Essig in Wut geriet und ihm den Stock an den Kopf werfen wollte. Der Stock blieb aber im Baum hängen, und der Mann kehrte zu seiner Frau zurück ohne Geld, ohne Kuh, ohne Dudelsack, ohne Handschuhe und ohne Stock.

Und daraufhin verprügelte ihn die Frau derart, daß sie ihm fast alle Knochen im Leibe zerbrochen hätte.


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