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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Die sehr glückliche alte Frau

Es war einmal eine alte Frau, die mühsam ihr Leben fristete durch Botendienste für Bäuerinnen, die nahe bei dem Dorfe wohnten, in dem sie lebte. Es war nicht viel, was sie dafür bekam, in einem Hause einen Teller Essen, in einem anderen eine Tasse Tee, aber sie behalf sich damit und blickte stets so freundlich drein, als ob es ihr an nichts in der Welt fehle.

Nun, als sie eines Sommerabends heimwärts humpelte, stieß sie auf einen großen schwarzen Topf, der am Wegrand lag.

»Was ist denn das?« rief sie aus und blieb staunend stehen. »Der wäre für mich grade richtig, wenn ich nur etwas darin zu kochen hätte! Aber wer bloß kann ihn hier verloren haben?«Und sie schaute ringsum, als müßte jener, dem er gehörte, nicht weit weg sein. Aber sie konnte keine Menschenseele entdecken.

>Vielleicht hat er ein Loch<, überlegte sie.

>Ach, sei damit, was wolle, jedenfalls hat man ihn hier liegenlassen, basta. Und es würde hübsch aussehen, darin Blumen vors Fenster zustellen. Ich denke, ich will ihn doch erst mal mit nach Hause nehmen.< Sie beugte ihren steifen alten Nacken und nahm den Deckel hoch, um hineinzuschauen.

»Um Gottes willen!«schrie sie auf und sprang vor Schrecken bis zur anderen Seite des Weges, »der ist ja bis zum Rand mit Goldstücken gefüllt!«

Eine ganze Zeit über konnte sie nichts tun, als nur immer wieder und wieder um ihren Schatz herumzulaufen, das blinkende Gold zu bewundern, über ihr großes Glück zu staunen und sich alle zwei Minuten



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zu sagen: >Stell dir das nur vor, ich werde jetzt reich und angesehen sein!<Dann aber überlegte sie, wie sie diesen Schatz wohl am besten mit nach Hause bekäme. Und sie sah keine andere Möglichkeit, als daß sie den Topf an dem einen Ende ihres Umschlagtuches festband und ihn derart auf dem ganzen Weg hinter sich herzog. >Sicher wird es bald dunkel werden<, sagte sie zu sich selbst, >und keiner wird sehen, was ich mit nach Hause bringe, und so werde ich die ganze Nacht ruhig für mich haben, um zu überlegen, was ich mit dem vielen Geld anfangen soll. Ich könnte ein herrschaftliches Haus kaufen mit allem, was so dazu gehört, und könnte genauso wie die Königin selber leben und den ganzen Tag nicht die geringste Arbeit tun, sondern mit einer Tasse Tee am Feuer sitzen. Ich könnte das Geld aber auch dem Priester zur Aufbewahrung geben und mir immer ein Goldstück holen, wenn ich es brauche. Oder ich könnte alles in der Gartenecke vergraben und nur etwas davon auf dem Kamin aufbewahren, so zwischen dem chinesischen Teetopf und den Löffeln, als eine Art Schmuckstück. Ach! Ich komme mir plötzlich so großartig vor, ich weiß überhaupt nicht, was mit mir los ist!<

Und da sie schon ziemlich erschöpft davon war, ein so schweres Ding hinter sich herzuziehen, blieb sie jetzt verschnaufend stehen und drehte sich nur schnell ganz kurz, um sich vom Dasein ihres Schatzes zu überzeugen.

Aber da sah sie keinen Topf voller Gold, sondern statt dessen einen Klumpen schimmernden Silbers!

Sie starrte fassungslos darauf, rieb sich die Augen und starrte von neuem; aber es wurde nichts anderes daraus als eben ein Klumpen Silber. >Ich hätte darauf geschworen, daß es ein Topf voll Gold war<, meinte sie schließlich, >aber ich sehe ein, daß ich geträumt haben muß. Doch wie gut ist diese Verwandlung. Er wird viel einfacher zu hüten sein und kann nicht so leicht gestohlen werden. Die goldenen Münzen sicher aufzuheben - was für Umstände hätte das mit sich gebracht. Ich bin froh, sie wieder los zu sein. Und mit meinem hübschen Klumpen, da bin ich ja reicher als reich!<

Sie setzte ihren Weg nach daheim fort und plante freudig, was alles sie mit ihrem vielen Geld tun würde. Sie war noch nicht lange weitergegangen,



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als sie von neuem ermüdete und innehielt, um für ein oder zwei Minuten auszuruhen.

Und wieder blickte sie sich nach ihrem Schatz um, und kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, schrie sie verwundert auf. >Nein, sowas<, dachte sie, >nun ist es ein eiserner Klumpen! Das schlägt dem Faß den Boden aus -überdies ist es gerade richtig so! Ich kann ihn jederzeit leicht verkaufen und einen ganzen Berg Pennies dafür bekommen. Ja, und schließlich ist er viel praktischer als ein Klumpen Gold oder Silber, der mich nachts wach gehalten hätte, weil Nachbarn mich womöglich bestehlen könnten. Den hier im Haus zu haben ist großartig. Man weiß nie, wie es einem mal gehen wird, und dann kann man ihn gut verkaufen. Bin ich jetzt reich? Nun, ich will es alles gut einteilen!<Und zufrieden trottete sie, kichernd über ihr Glück, weiter, bis sie erneut über die Schulter schaute, >nur um zu sehen, ob er noch da ist<, wie sie sich selber sagte.

>Du meine Güte!< erwog sie, >der hat sich ja wieder verändert und ist inzwischen ein großer Stein geworden! Aber woher konnte er wissen, daß ich gerade den so schrecklich notwendig hatte, um manchmal meine Tür damit offenhalten zu können? Ja, das ist wirklich ein guter Tausch! Also nicht weiter gegrübelt! Es ist jedenfalls ganz wunderbar, so viel Glück zu haben.<

Und vor lauter Eifer, recht schnell zu sehen, wie sich wohl der Stein in der Ecke bei der Tür ausnehmen würde, trabte sie den Hügel hinab und hielt unten bei ihrer eigenen kleinen Pforte an.

Nachdem sie diese aufgeklinkt hatte, wollte sie ihr Tuch von dem Stein losbinden, der diesmal unverändert und friedlich auf dem Weg neben ihr zu liegen schien. Es war noch hell genug, so daß sie ihn hübsch glatt vor sich hatte, als sie den steifen Rücken beugte, um das Tuchende aufzuziehen. Da machte der Stein jählings einen Satz, gab ein Gequietsche von sich und wurde im gleichen Augenblick ein starkes und großes Pferd. Sofort schleuderte es vier schlanke Beine aus sich heraus, schüttelte zwei lange Ohren hervor, bekam -eins, zwei, drei -einen Schwanz und ritt auf den Wolken davon, während es wie ein böser hämischer Zauberer auflachte.

Die alte Frau starrte ihm nach, solange sie es zu sehen vermochte.



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»Ach!«rief sie dann aus. »Ich bin doch wirklich das glücklichste Wesen auf Erden! Wenn ich mir vorstelle, daß ich das närrische Zauberwerk nicht nur gesehen, sondern mich ganz frisch und frei und ohne Schaden zu nehmen damit abgegeben habe. Ich kann euch sagen, ich komme mir ganz großartig vor.«Und sie ging in ihre Hütte, setzte sich an der Feuerstelle hin und dachte über ihr großes Glück nach.


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