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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Mein eigenes Ich

In einem winzigen Häuschen im Norden des Landes, weit von jeder Stadt oder von einem Dorf, lebte vor noch gar nicht so langer Zeit eine Witwe ganz allein mit ihrem kleinen, sechs Jahre alten Sohn.

Die Haustür führte gleich auf die Hügelseite hinaus, und rundherum war Moorland und Findlingsgestein und sumpfiges Höhlengelände; nicht ein Haus, nicht das geringste Lebenszeichen, wohin man auch sah, denn ihre nächsten Nachbarn waren die Elfen drunten in den Talschluchten und die Irrlichter in dem hohen Gras am Wegrand. Und sie wußte so manche Geschichte von dem »freundlichen Völkchen«, das man aus alten Eichen herbeirufen konnte, zu erzählen,



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und von den funkelnden Lichtern, die in finsteren Nächten bis auf das Fensterbrett heraufsprangen. Trotz aller Einsamkeit lebte sie Jahr für Jahr weiter in dem kleinen Haus, vielleicht weil niemals jemand von ihr eine Miete forderte.

Aber wenn das Feuer niedriger brannte, pflegte sie nicht mehr lange aufzubleiben; wußte doch niemand, was wohl draußen jetzt geschah. Und nach dem Abendessen fachte sie die Glut nochmals an und ging zu Bett, so daß sie, sollte mal etwas Schreckliches geschehen, jederzeit ihren Kopf unter die Bettdecke stecken konnte.

Aber das gefiel ihrem kleinen Jungen ganz und gar nicht, und wenn sie ihn zu Bett rief, spielte er neben dem Feuer weiter und tat, als ob er sie keineswegs hörte.

Schon von klein an war er stets schwer anzuleiten gewesen, und nur selten gelang es seiner Mutter, ihn von etwas abzubringen, ja, je mehr sie versuchte, ihn zum Gehorsam zu erziehen, desto weniger hörte er auf alles, was sie sagte, und so endete es meistens damit, daß er tat, was er wollte.

Aber eines Nachts, kurz vor Winters Ende, konnte die Witwe sich nicht entschließen, schlafen zu gehen, solange er noch weiter an der Feuerstelle spielte, denn der Wind zerrte an der Tür und rüttelte an den Fenstern, und sie wußte zu gut, daß in so einer Nacht Feen und solche Leute unterwegs waren und ihr Wesen trieben. Sie versuchte den Knaben zu überreden, mit zu Bett zu gehen:

»In solch einer Nacht ist man im Bett am sichersten«, sagte sie; aber er wollte nicht zu Bett.

Jetzt drohte sie, ihm »eins mit dem Stock überzuziehen«, aber das nützte nichts. Je mehr sie bat und schalt, um so störrischer schüttelte er den Kopf, und als sie schließlich die Geduld verlor und ausrief, die Feen würden sicher kommen und ihn entführen, da lachte er nur und sagte, er wünsche sich geradezu, daß sie kämen, denn er möchte gern eine Spielgefährtin haben.

Daraufhin brach die Mutter in Tränen aus und ging ganz verzweifelt schlafen, überzeugt, daß nach so einer Rede irgend etwas Schlimmes geschehen werde. Ihr unartiger kleiner Sohn aber saß ungerührt von ihren Bitten auf seinem Schemel am Feuer.



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Aber er hatte dort noch nicht lange allein gesessen, da hörte er ganz nahe im Kamin ein Geflatter, und plötzlich fiel neben ihm das niedlichste, winzige, kleine Mädchen herab, das du dir vorstellen kannst. Sie war keine Handspanne groß und hatte Haare wie gesponnenes Silber, Augen wie grünes Gras und Wangen so rot wie eine Junirose.

Der kleine Junge sah es ganz erstaunt an.

»Oh!« rief er aus. »Wie heißt du denn?«

»Mein eigenes Ich«, sagte sie mit einer schrillen, doch niedlichen kleinen Stimme und fragte nun ihn: »Und wie heißt du denn?« »Auch mein eigenes Ich«, antwortete er vorsichtigerweise, und beide begannen nun miteinander zu spielen.

Sie zeigte ihm einige hübsche Spiele. Aus Asche formte sie Tiere, die sich umschauen und bewegen konnten, als wären sie lebendig, und Bäume mit grünen Blättern, die über einem winzigen Häuschen rauschten, mit ein Zoll großen Männern und Frauen darin, die, wenn sie sie anpustete, hin und her gingen und richtig miteinander schwatzten. Aber das Feuer sank zusammen, das Licht wurde matt, und schnell stocherte der kleine Junge mit einem Stecken in den Kohlen herum, damit sie wieder aufflammen sollten. Dabei fiel eine rotglühende Schlacke heraus und auf das winzige Füßchen des Feenkindes. Darauf kreischte dieses so grell, daß der Knabe seinen Stock hinfallen ließ und sich die Hände an die Ohren hielt. Aber das Kreischen wurde immer schriller, als würden alle Winde der Welt durch ein winziges Schlüsselloch gejagt.

Da erhob sich ein Sausen im Kamin. Aber diesmal wartete der kleine Junge nicht ab, was das war, sondern sprang mit einem Satz ins Bett, wo er tief in die Decke hineinkroch und mit Furcht und Zittern lauschte, was nun käme.

Aus dem Kamin drang eine scharfe Stimme:

»Wer ist dort, und was ist geschehen?«fragte sie.

»Hier ist mein eigenes Ich«, schluchzte das Feenkind, »und mein Fuß brennt so schrecklich. Oh, oh!«

»Wer hat das getan?«fragte böse die Stimme.

Diesmal klang sie noch näher, und der Knabe, der vorsichtig zwischen



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den Decken hervorlugte, sah ein weißes Gesicht, das aus der Kaminöffnung starrte.

»Auch mein eigenes Ich!« sagte wieder das Feenkind.

»Wenn du es selbst getan hast«, rief schrill die Feenmutter, »wie kannst du denn deswegen solchen Lärm machen?« Und sie streckte einen langen dünnen Arm heraus, griff das kleine Etwas am Ohr, schüttelte es, zog es hinter sich her und verschwand im Kamin.

Der kleine Junge lag lange wach und horchte angstvoll, ob die Feenmutter doch noch wiederkommen werde. Und an allen folgenden Abenden war seine Mutter überrascht, daß er nach dem Essen sofort bereit war, jederzeit schlafen zu gehen, wenn sie ihn rief. >Er hat sich in der letzten Zeit gebessert!< sagte sie sich. Er aber dachte, wenn wieder einmal ein Feenkind käme, um mit ihm zu spielen, würde er ganz gewiß nicht so schnell dazu ja sagen wie letztes Mal.


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