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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


Tom Klitzeklein

Es war einmal eine Frau, die buk fünf Pasteten. Und als sie aus dem Backofen kamen, war die Kruste so scharf gebrannt, daß sie viel zu hart waren zum Essen. Darum sagte die Frau zu ihrer Tochter: »Stelle diese Pasteten auf das Sims und laß sie dort ein Weilchen stehen, dann werden sie schon wieder kommen.« Sie meinte damit, die Kruste würde wieder weich werden.

Aber das Mädchen dachte bei sich: >Schön, wenn sie wieder kommen, dann kann ich die hier ja essen.<Und das tat sie denn und aß alle auf, von der ersten bis zur letzten.

Ja, und als es dann Zeit zum Abendessen wurde, sagte die Frau: »Geh und hole dir eine von den Pasteten! Ich denke, jetzt sind sie wohl gekommen.« Das Mädchen ging und schaute sich um, doch da stand nichts als der leere Teller. Also kam sie zurück und sagte einfach: »Nein, sie sind nicht gekommen.«

»Nicht eine einzige?«fragte die Mutter.

»Nicht eine einzige«, antwortete die Tochter.

»Nun gut, ob gekommen oder nicht«, sagte die Frau, »ich möchte aber eine zum Abendessen haben.«

»Aber das kannst du doch nicht, wo sie nicht gekommen sind«, sagte das Mädchen.

»Doch, ich kann es«, sagte die Mutter. »Geh und bring mir die beste von ihnen!«

»Ob gut oder schlecht«, sagte drauf das Mädchen, »ich habe sie alle aufgegessen, und du kannst bestimmt erst eine kriegen, wenn eine neue herkommt.«



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Da trug die Frau ihr Spinnrad vor die Tür, um zu spinnen, und während sie spann, sang sie immerzu:

»Meine Tochter hat fünf Pasteten gegessen,
fünf Stück auf einen Schlag.
Meine Tochter hat fünf Pasteten gegessen,
fünf Stück auf einen Schlag.«

Da kam der König gerade die Straße entlang und hörte sie singen, aber was sie sang, das konnte er nicht verstehen; so hielt er inne und fragte:

»Was hast du da eben gesungen, gute Frau?«

Die Frau schämte sich, ihm zu erzählen, was ihre Tochter getan hatte, und so sang sie statt dessen schnell:

»Meine Tochter spann fünf Strähnen,
fünf Strähnen an einem Tag.
Meine Tochter spann fünf Strähnen,
fünf Strähnen an einem Tag.«

»Ich habe noch nie von jemandem gehört, der das kann«, meinte der König und sagte dann: »Paß mal auf, ich brauche eine Frau und will deine Tochter heiraten. Aber höre gut zu«, fuhr er fort, »elf Monate des Jahres soll sie alles bekommen, was sie gern essen mag, und auch alle Kleider, die sie sich wünscht: aber im letzten Monat des Jahres muß sie jeden Tag fünf Strähnen spinnen, und wenn sie das nicht fertigbringt, werde ich sie töten.«

»Gut«, sagte die Frau, denn sie dachte nur daran, was für eine großartige Heirat das nun wäre. Ja, und was die fünf Strähnen betraf, ach, bis die fällig würden, könnte gewiß irgendeine Ausrede gefunden sein; ja, und vielleicht hatte er die Sache bis dahin vergessen.

Also heirateten die beiden. Und während der elf Monate konnte das Mädchen alles essen, worauf es Appetit hatte, und alles anziehen, was es gern tragen mochte, auch konnte es sich einladen, wen immer es nur bei sich sehen mochte.



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Doch als die Zeit vorrückte, begann sie schließlich an die Strähnen zu denken und sich zu fragen, ob er das wohl vergessen habe. Er aber sprach kein Wort davon.

Also freute sie sich sehr, denn nun glaubte sie fest, er denke wirklich nicht mehr daran.

Doch am letzten Tag des letzten Monats führte er sie in einen Raum, den sie nie zuvor gesehen hatte. Darin stand nichts als ein Spinnrad und ein Stuhl. Und er sprach: »Sieh, meine Liebe, hier wirst du morgen mit Lebensmitteln und dem nötigen Flachs eingeschlossen werden, und wenn du bis zum Abend nicht fünf Strähnen gesponnen hast, kostet es deinen Kopf.«

Und er verließ sie und ging seinen Geschäften nach.

Oh, was für einen Schreck bekam sie da! Sie war immer schon so ein faules Mädchen gewesen, daß sie überhaupt nicht spinnen konnte. Was sollte sie nur morgen anfangen ohne irgend jemandes Hilfe? Sie setzte sich in der Küche auf einen Stuhl und jammerte und schüttelte sich vor Weinen.

Plötzlich hörte sie ein leises Klopfen an der unteren Türhälfte. Sie sprang auf und öffnete. Da sah sie einen kleinen schwarzen Kerl mit einem langen Schwanz. Er blickte neugierig zu ihr auf und fragte: »Warum weinst du denn so jämmerlich?«

»Was geht dich das an?« sagte sie.

»Das kannst du gar nicht wissen«, meinte er, »aber erzähl mir nur, weshalb du weinst!«

»Das würde mir schlecht bekommen, wenn ich es dir sagte«, erwiderte sie.

»Wer weiß«, sagte er und wirbelte seinen Schwanz.

»Also gut«, antwortete sie, »es kann nichts schaden, wenn es auch nichts nützen kann«, und sie sprang auf und berichtete von den Pasteten und den Flachssträhnen und allem anderen.

»Das will ich schon machen«, erklärte der kleine schwarze Kerl. »Ich werde jeden Morgen an dein Fenster kommen und den Flachs mitnehmen und ihn dir am Abend gesponnen wiederbringen.« »Was willst du dafür haben?« wollte sie wissen.

Es blinkte tückisch in seinen Augenwinkeln, und er antwortete:



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»Du darfst jede Nacht dreimal raten, wie wohl mein Name ist, und wenn du ihn bis zum Ende des Monats nicht geraten hast, dann gehörst du mir.«

Nun, sie dachte natürlich, daß sie seinen Namen wohl erraten haben werde, bevor der Monat zu Ende ging.

»Abgemacht«, sagte sie, »ich bin einverstanden.«

»Abgemacht!« rief auch er und wirbelte seinen Schwanz herum.

Nun, am nächsten Tag führte ihr Mann sie in den Raum, in dem nur Flachs war und Essen für einen Tag.

»Da liegt der Flachs«, sagte er, »und wenn er bis heute abend nicht gesponnen ist, verlierst du deinen Kopf!« Dann ging er hinaus und schloß die Tür hinter sich ab.

Kaum war er fort, da klopfte es auch schon am Fenster. Sie sprang auf und öffnete, und wahrhaftig saß da der kleine alte Kerl auf dem Fensterbrett.

»Wo ist der Flachs?«fragte er.

»Hier!« sagte sie. Und sie gab ihn dem kleinen Schwarzen.

Als dann der Abend kam, klopfte es wieder an der Fensterscheibe. Sie sprang auf und öffnete, und da war das kleine alte Etwas mit fünf Flachssträhnen überm Arm.

»Da hast du sie«, sagte er und gab ihr die Strähnen. »Nun, wie heiße ich wohl?«fragte er.

»Vielleicht Bill?« meinte sie.

»Nein, falsch«, sagte er und wirbelte seinen Schwanz um sich herum.

»Oder Ned?« riet sie weiter.

»Nein, falsch«, sagte er und wirbelte seinen Schwanz noch mal um sich herum.

»Heißt du vielleicht Mark?«fragte sie.

»Nein, falsch«, rief er, schleuderte seinen Schwanz noch eifriger und entschwand.

Als dann ihr Mann kam, lagen die fünf Strähnen für ihn bereit.

»Wie ich sehe, brauche ich dich heute abend nicht zu töten, meine Liebe«, sagte er. »Morgen früh bekommst du wieder Essen und Flachs«, und damit ging er davon.



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So wurde nun also jeden Tag Flachs und Essen gebracht, und jeden Tag, morgens und abends, kam auch das kleine Ungeheuer. Und den ganzen Tag über saß das Mädchen da und grübelte über Namen, die sie am Abend sagen könnte. Aber niemals erriet sie den richtigen. Und als der Monat sich dem Ende zuneigte, begann der Kobold immer heimtückischer zu grinsen, und jedesmal, wenn sie falsch riet, wirbelte er seinen Schwanz wilder und wilder um sich.

Dann kam der vorletzte Tag. Der Kobold brachte am Abend die fünf Strähnen überm Arm und rief:

»Weißt du jetzt wohl meinen Namen?«

»Heißt du Nikodemus?«fragte sie.

»Nein, falsch geraten«, sagte er.

»Heißt du Samuel?«fragte sie.

»Nein, falsch geraten«, sagte er.

»Oder heißt du Methusalem?« fragte sie.

»Nein, alle sind falsch«, rief er aus.

Dann sah er sie mit Augen an, die wie feurige Kohlen glühten, und sprach: »Junge Frau, du hast nur noch bis morgen Zeit, dann gehörst du mir!« Und husch war er davon.

Oh, wie elend war ihr zumute! Aber da hörte sie schon, wie der König den Gang entlangkam. Er trat ein, und als er die fünf Flachssträhnen sah, ja, da sprach er:

»Schön, meine Liebe, ich denke, du wirst morgen abend deine Strähnen ebenso pünktlich bereit haben, und da ich annehmen darf, daß ich dich nicht zu töten brauche, will ich heute nacht hier bei dir bleiben.«Und er ließ auch für sich Essen mitsamt einem Stuhl bringen, und beide setzten sich zur Abendmahlzeit hin.

Doch hatte er erst ganz wenig gegessen, da hielt er inne und begann zu lachen.

»Was ist?«fragte sie.

»Ach, weißt du«, sagte er, »ich war heute zur Jagd und kam im Wald auf einen Platz, den ich nie zuvor gesehen hatte. Und da war eine verfallene Kalkgrube. Und ich hörte ein Geräusch, das klang wie ein Summen. So ließ ich die Jagd, schlich ganz leise zu der Grube und äugte hinab. Ja, und da sah ich das seltsamste kleine schwarze Wesen,



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was mir je vor die Augen gekommen ist. Und was machte es da? Es hatte ein winziges Spinnrad und spann unglaublich schnell und wirbelte dabei seinen Schwanz um sich. Und beim Spinnen sang es:

»Ich selber nur weiß es ganz allein,
mein Name ist Tom Klitzeklein.«

Als das Mädchen das hörte, glaubte es, vor Freude hochspringen zu müssen, aber es sagte kein einziges Wort.

Als der kleine Kerl am nächsten Tage den Flachs holte, blinzelte er sie spöttisch an. Und als es Abend wurde, hörte sie ihn an die Scheibe klopfen. Sie öffnete das Fenster, und er schwang sich vom Fensterbrett herein. Er grinste von einem Ohr bis zum anderen und ach, sein Schwanz wirbelte toll herum.

»Wie heiße ich?«fragte er, als er ihr die Strähnen gab.

»Vielleicht Salomon?« antwortete sie und tat, als fürchtete sie sich sehr.

»Nein, falsch!« rief er und kam näher.

»Nun, ist es dann vielleicht Zebedäus?«fragte sie wieder.

»Nein, falsch!« schrie der Kobold, und dann kreischte er und wirbelte derart schnell seinen Schwanz herum, daß man ihn kaum noch erkennen konnte.

»Laß dir Zeit, junge Frau«, schrillte er, »jetzt kommt deine letzte Antwort, und dann gehörst du mir!« Und seine schwarzen Klauen streckten sich schon nach ihr aus.

Da machte sie ein, zwei Schritte rückwärts, sah ihn fest an, brach dann in Lachen aus und rief, während sie mit dem Finger auf ihn deutete:

»Ich nur weiß es ganz allein,
dein Name ist Tom Klitzeklein.«

Und wie er das hörte, schrie er furchtbar auf, entfloh in die Nacht hinaus und wurde nie wieder gesehen.


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