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Deutsche Kinder- und Hausmärchen


Illustrationen von Sigrid Witzig

Märchen europäischer Völker


Das Pomeranzenfräulein

Einst wurde ein reicher junger Graf ensohn von seinen Eltern sehr bedrängt, daß er heiraten solle, und viele schöne Prinzessinnen wurden ihm vorgeschlagen. Allein er mochte keine von allen, denn er hatte es sich in den Kopf gesetzt, nur eine Braut heimzuführen, die nicht von einer Mutter geboren war, und eine solche konnte er lange nicht finden.

Es ließ ihm aber keine Ruhe, und er wollte so lange suchen, bis er die rechte Braut für sich fände. Erließ sich sein Roß satteln und nahm von seinen betrübten Eltern Abschied und ritt in die weite Welt hinein. So war er schon sehr, sehr lange geritten, und noch immer hatte er die rechte Braut für sich nicht finden können. Da kam er eines Tages zu einem Kreuzwege; dort stand ein altes Weiblein, krumm und gebückt, das hatte nur einen Zahn im Munde, und seine Augenbrauen waren so lang, daß sie tief über die Augen hingen. Als nun der junge Graf das Weiblein fragte, wohin die zwei Wege führten, da hat er schreien müssen, daß sie ihn verstand, denn das Weiblein war vor Alter fast taub. Auf ihre Fragen erzählte er ihr von seinem Vorhaben, und die Alte nickte und wackelte beifällig mit dem grauen Kopf und sagte mit einer kreischenden Stimme, die schwer zu verstehen war: »Schmucker Knabe, gehe den Weg« —dabei zeigte sie mit dem Haselstöckchen auf den Weg, der rechts führte -, »und du wirst ein großes, großes Haus finden, gehe hinein, schmucker Knabe, und hinter der Tür wirst du einen Kehrbesen finden. Den nimm und kehre die Stiege, und wenn du die Stiege gekehrt hast, dann wirst du zu einem großen Löwen kommen, schmucker Knabe!



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Und der hält einen goldenen Schlüssel in seinem Rachen. Den Schlüssel mußt du dem Löwen mit Gewalt aus dem Rachen reißen und damit die Zimmertür aufsperren, vor der er steht. Dann wirst du in ein prächtiges Zimmer kommen, da steht wieder ein Löwe mit einem Schlüssel im Rachen vor einer Tür. Diesen Löwen aber mußt du erlegen, schmucker Knabe, und ihm wieder den Schlüssel nehmen. Mit dem schließt du die andere Tür auf, dann kommst du in die Küche, und in der Küche wirst du drei schöne rotgelbe Pomeranzen finden und ein Messer mit einem Griff aus Ebenholz. Das Messer nimmst du und schneidest eine der drei Pomeranzen auf, schmucker Knabe, dann wird ein wunderschönes Fräulein, schön wie die Sonne, herauskommen. Du mußt aber mit ihr gleich zu dem Brunnen gehen, der vor dem Haustore unter den zwei Linden steht, und deine Braut unter das Wasser halten, sonst wird sie gleich zusammenwelken und sterben.«

Der Grafensohn dankte ihr für ihren guten Rat, ritt in den kühlen dunklen Wald hinein und kam immer tiefer und tiefer, bis er plötzlich vor einem großen Schlosse stand, das aus weißem Marmor erbaut war. Er trat durch das große schöne Portal ein und fand hinter der Haustüre den Besen; den nahm er und kehrte damit die Stiege, wie es ihm die Alte gesagt hatte. Als er das getan hatte, kam er zu dem Löwen, dem nahm er den goldenen Schlüssel aus dem Maule, sperrte die Saaltüre auf, die von Ebenholz war, durchschritt dann den weiten Saal, bis er zu dem zweiten Löwen kam, der wieder einen goldenen, noch schöneren Schlüssel im Rachen hielt. Er erlegte den Löwen, nahm den Schlüssel, schloß damit die nächste Türe auf und ging in die Küche. Dort fand er auch wirklich das Messer und die drei Pomeranzen, die waren wie das reinste Gold und glänzten wie die Sonne; er wagte es kaum, sie anzufassen. Endlich faßte er sich ein Herz und griff nach der nächsten ersten Pomeranze und nach dem blanken Messer und schnitt den goldenen Apfel entzwei. Aber kaum hatte er die obere Hälfte abgelöst, da stand ein wunderschönes Mädchen vor ihm in der unteren Hälfte der Pomeranze, die er in den



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Händen hielt; das kleine Fräulein war so schön wie der Tag und seine Augen blau wie der Sommerhimmel.

Dem Grafensöhne wurde es ganz wunderlich ums Herz, er vergaß die Mahnung des alten Mütterchens ganz und gar und schaute und schaute nur das schöne Jungfräulein an, dachte gar nicht an den Brunnen. Und wie er so dastand, da welkte das schöne Bild zusammen und starb vor seinen Augen. Da erschrak er und dachte, das zweitemal den Rat der Alten besser zu befolgen; er nahm die zweite Pomeranze und das blanke Messer und stieg die weiße Marmortreppe hinab in den Hof. Als er bei dem Brunnen unter den zwei Linden angekommen war, schnitt er die goldene Frucht auf; und es blendete ihm fast die Augen, ein Jungfräulein stand vor ihm, so schön, wie die Sonne noch nie eins beschienen hat. Er hielt sie unter den Strahl des Wassers, und da wurde sie immer größer und größer, so daß seine Hände sie nicht mehr halten konnten und sie auf dem Boden stand und endlich fast so groß war wie er. Da schlang er den Arm um sie, führte sie in das Marmorschloß und sprach zu ihr, sie solle da bleiben, bis er mit Roß und Wagen wiederkäme. Dann nahm er Abschied von ihr, küßte sie und wanderte zu seinen Eltern, um Roß und Wagen zu holen. Die schöne Pomeranzenjungfrau aber blieb nun ganz allein im Schlosse, mußte sich selbst das Wasser holen und das Essen bereiten und hatte so ganz allein wohl manches Mal Langeweile.

Neben dem großen Marmorschloß stand aber ein kleines Haus, darin wohnte eine Hexe mit ihren zwei Töchtern. Die sahen das schöne Mädchen öfters zum Brunnen unter den Linden gehen, kamen auch zu ihr herauf und fragten sie aus, und das Pomeranzenkind war arglos und erzählte ihnen in seiner Einfalt alles, gerade wie es Kinder tun.

»Komm mit«, sagte einmal die ältere Hexentochter, »die Mutter hat Kuchen gebacken, die schmecken so gut.«Das Mädchen ließ sich bereden und ging mit. Sie spielten allerlei Spiele, und da sollte das Mädchen einmal Königin werden und mußte sich umkleiden und die



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Haare flechten lassen. Wie es aber so dasaß, da drückte ihm eine von den beiden Schwestern eine Nadel in den Kopf, das war eine Zaubernadel, und das arme Kind wurde in eine Taube verwandelt.

Eine von den zwei häßlichen Schwestern ging nun in das Schloß hinüber und wartete, bis endlich der Bräutigam angefahren kam. Der staunte nicht wenig, wie er anstatt seiner schönen Braut die garstige Hexentochter fand. Aber die wußte allerhand Ausreden, und er meinte, sein gegebenes Versprechen müßte er halten, und ihn könnten doch nur die Augen täuschen; er nahm also die häßliche Braut zu sich in den Wagen und fuhr nachdenklich mit ihr fort.

Während sie aber unterwegs waren, kam der alten Hexe die Taube aus und flog dem Wagen nach und umflatterte ihn und schlug mit den weißen Flügeln, daß der junge Graf es merkte und mitleidig die Hand herausstreckte, um sie hereinzulangen. Die falsche Braut aber war böse darüber und wollte es nicht leiden, denn sie hatte das Tierchen erkannt. Doch er nahm es herein, hielt es auf seinem Schoß und streichelte es, so daß es zu girren anfing. Und wie er ihm so über den Kopf strich und das Täubchen ihn mit seinen schwarzen klugen Augen ansah, kam er an die Nadel; voll Mitleid zog er sie heraus, da stand das schöne Pomeranzenfräulein wieder vor ihm. Nun war der Grafensohn in einer Glückseligkeit, daß er sie wiederhatte. Als er aber erfuhr, wie alles zugegangen war, da warf er das böse Hexenmädchen zum Wagen hinaus, daß es beide Beine brach. Das Brautpaar fuhr jetzt voll Freude nach Hause, und die Eltern freuten sich mit ihrem Sohne, und es gab eine prächtige Hochzeit. Die Geschichte ist wahr, denn ein Grafensohn davon lebt jetzt noch.


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