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Deutsche Kinder- und Hausmärchen


Illustrationen von Sigrid Witzig

Märchen europäischer Völker


Das Kind mit dem goldenen Apfel

Es war einmal eine Bäuerin, die hatte einen Sohn namens Michel; der war nie weiter als vom Tisch bis an den Kachelofen gekommen. Und da dachte sie endlich, du mußt ihn doch einmal in die Welt schicken, sprach daher zu ihm: »Geh, Michel, hinaus an den Teich und hol Wasser.« —»Jawohl«, sagte Michel, »aber wo ist denn der Teich?« —»Wenn du aus der Haustür trittst, dann mußt du den Steig im Garten gerade hinuntergehen, dann wirst du ihn zur Linken finden.« —Michel machte sich auf den Weg, fand auch wirklich Haustür, Garten und Steig und kam an den Teich; wie er da den Eimer herauszieht, springt ein großer Hecht heraus, der bittet ihn, er möge ihn doch wieder ins Wasser werfen, er wolle es ihm wohl vergelten. »Hab' ich dich denn heißen herausspringen?« sagte Michel; »so springe du auch wieder hinein!«Aber der Hecht bat gar zu sehr und versprach Micheln endlich, alles, was er wünsche, solle geschehen, nur solle er ihn wieder ins Wasser werfen. Da tat er's denn, nahm seinen Eimer und ging wieder nach Hause.

Nun hatte er aber, als er draußen am Teich war, drüben in der Ferne ein Haus gesehen, das glänzte prächtig wie lauter Gold und Silber; darum fragte er seine Mutter: »Mutter, was ist das drüben für ein Haus, das man am Teich sieht?« —Sprach die Mutter: »Das ist des Königs Haus, da wohnt er mit der schönen Prinzessin drin.« Wie Michel das hört, denkt er: Ich will doch mal versuchen, ob der Hecht



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wahr gesprochen hat; ich möchte, daß die Prinzessin noch vor Abend einen kleinen Jungen kriegt. Als nun der Abend kam, so hatte die Königstochter einen kleinen Jungen mit einem goldnen Apfel in der Hand und wußte selber nicht warum und woher. Da kam ihr Vater, der König, in einen großen Zorn, ließ alle weisen Männer aus dem ganzen Land zusammenkommen und befahl ihnen, herauszubringen, wer des Kindes Vater wäre. Sie rieten lange hin und her, und keiner wußte was. Da ließ eine alte Zigeunermutter, die auf den Tod gefangensaß, dem Könige sagen, wenn er ihr das Leben schenken wolle und so viel Geld, daß sie von nun an sich ehrlich ernähren könne, so wolle sie die Sache zu einem guten Ende bringen. Da ward sie alsbald losgelassen und bekam das Geld. Ob sie hernach nicht mehr gestohlen hat, weiß ich nicht zu sagen, aber ihr Rat war der: Man solle das Kind mitten im Saal auf einen Tisch setzen und alle ledige Mannschaft aus dem ganzen Lande aufs Schloß kommen und im Kreis herum an dem Kinde vorbeigehen lassen; dann würde es mit dem Apfel nach seinem Vater werfen.

Der König tat, wie ihm die Alte geraten, er ließ überall in seinem Reiche ein Gebot ausgehen, daß alle unbeweibten Mannsleute sich an seinem Hofe versammelten. Und als nun der bestimmte Tag kam und das Kind mit dem Apfel in der Hand inmitten des Saales auf dem Tische saß, da traten zuerst all die Fürsten, Herzöge und Grafen herein, aber das Büblein blieb unbeweglich und warf nach keinem den Apfel. Darauf kamen die Minister und alle Beamte und Diener des Königs von den höchsten bis auf den Nachtwächter, aber das Büblein rührte sich nicht. Darauf mußten auch die geistlichen Herren und die Kaufleute und die Bauern und Handwerker und die Tagelöhner, die Dienstknechte und alle bis auf den Schinder herein in den Saal und gingen an dem Jungen vorüber; aber der rührte sich nicht. Als sie alle vorübergegangen waren und der König nicht anders glaubte, als daß alle ledigen Männer aus seinem Lande dagewesen wären, kam noch einer in den Saal gestolpert in einem alten schmutzigen Teerrock und mit einem alten dreitütigen Hut; das war



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Michel, den hatte seine Mutter mit Gewalt hinaustreiben müssen und hatte ihn zurechtgestutzt, so gut es ging. Kaum hatte ihn das Büblein erblickt, so warf es den goldenen Apfel nach ihm.

Nun hatte das Kind einen Vater und die Prinzessin einen Mann, aber der König geriet ganz außer sich vor Zorn darüber, daß Michel sein Schwiegersohn sein sollte und sagte, er wollte nun weder Vater noch Mutter, noch Kind bei sich behalten. Er ließ sogleich eine große gläserne Kugel mit einer Schraube gießen, daß man sie öffnen und schließen konnte, ließ den Michel, seine Tochter und den Kleinen hineinbringen, und die Kugel auf das Wasser setzen, und nun schwamm sie auf die weite See hinaus. Wie sie nun so dahintrieben und die Königstochter traurig dasaß, daß sie einen solchen Vater zu ihrem Kinde gefunden habe und nun hier elend würde umkommen müssen, da wünschte Michel, daß sie doch an eine Insel kommen möchten, und augenblicklich geschah es; die Kugel saß auf dem Strande fest, sprang auseinander, und alle drei traten wohlbehalten heraus. Da wünschte sich Michel ein prächtiges Schloß mit der reichsten Bedienung und allen dazugehörigen Häusern, und gleich war alles da. Nun wurde die Prinzessin auch zufriedener: Michel wünschte sich prächtige Kleider und sah jetzt ganz stattlich aus, und so lebte er hier lange Zeit mit seiner Frau und seinem Kinde in großer Herrlichkeit. Aber endlich verlangte doch die Königstocher mehr und mehr nach ihrem Vater und ihrer Heimat, und sie sagte das ihrem Mann; da wünschte er sich eine Brücke nach ihres Vaters Reich. Sogleich stand eine da, und zwar immer ein Balken von Gold, der andere von Silber; nun stiegen sie in eine prächtige goldene Kutsche und fuhren übers Wasser zum Schloß des alten Königs. Dessen Zorn legte sich sogleich, als er erfuhr, wie gut seine Tochter noch angekommen sei, und nun lebten sie glücklich und zufrieden miteinander bis an ihr Ende.


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