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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


29. Die getreue Schneidersfrau

Ein Mann aus guter Familie hatte drei Töchter. Die älteste heiratete einen reichen Ölhändler. Die zweite heiratete einen reichen Kornhändler. Der Vater fragte die dritte Tochter: "Wen willst du heiraten? Es sind viel da, die um dich werben, wähle du selbst." Die Jüngste (Tochter) sagte: "Ich will den Schneider heiraten, der da oben auf dem Hügel wohnt, und keinen anderen." Der Vater erschrak und sagte: "Der Schneider ist ein ganz armer Wicht, der nichts besitzt und sich nicht einmal selbst ernähren kann. Bring unsere Familie nicht in Schande." Die Jüngste sagte: "Ich will den Schneider heiraten und sonst keinen." Der Vater sagte: "Ich gebe meine Einwilligung nicht."

Das Mädchen lief auf den Hügel zu dem Schneider und fragte ihn: "Willst du mich zur Frau nehmen?" Der Schneider sagte: "Mein Mädchen, bedenke, wie ich lebe. Ich habe nichts zu essen und nichts zu trinken, es sei denn Wasser. Das macht mir jedoch nichts, denn die Entbehrungen sind mir gleichgültig. Wie sollte das aber mit dir werden? Es geht nicht. Ich kann dich nicht zur Frau nehmen, so lieb ich dich auch habe!" Das Mädchen sagte: "So bleibe ich als deine Frau bei dir. Was du ertragen kannst, werde ich auch ertragen."

Die Jüngste heiratete den Schneider gegen den Willen ihrer Familie. Ihre Eltern und ihre Schwestern sahen sie nicht mehr an. Die Jüngste wohnte nun in dem elenden Stall des Schneiders und hatte nichts Rechtes sich zu kleiden und nichts Rechtes, sich zu nähren. Sie hatte keinen Kamm und kein Öl, sich die Haare zu strählen. Die Haare verwilderten. Die junge Frau sah sich einmal im Wasserspiegel und erschrak darüber, wie schlimm sie aussah. Sie sagte bei sich: "Wenn ich so schlimm aussehe, kann mein Mann mich nicht mehr liebhaben. Ich werde zu meiner ältesten Schwester gehen und sie um etwas Öl bitten zum Haarordnen." Die Jüngste kam zu ihrer ältesten Schwester, die mit dem Ölhändler verheiratet



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war, und bat sie: "Gib mir etwas Öl, damit ich mir für meinen Mann die Haare ordnen kann!" Die älteste Schwester sagte: "Dein Vater und wir Schwestern haben dich seinerzeit gewarnt, nicht diesen Habenichts zum Manne zu nehmen. Du hast nicht hören wollen und hast den Mann doch genommen. Nun trage die Folgen. Hilf dir selbst. Ich helfe dir nicht." Die reiche Schwester gab ihr nichts. Die Jüngste kehrte traurig zu ihrem Manne, dem Schneider, zurück.

Nach einiger Zeit hatte die Jüngste solchen Hunger, daß sie meinte, es nicht mehr ertragen zu können. Sie sagte bei sich: "Meine zweite Schwester hat den reichen Kornhändler geheiratet, der Korn im Überflusse hat. Ich will zu ihr gehen und sie bitten, daß sie mir für meinen Mann und mich etwas Korn abgibt. Sie kann mir die Bitte nicht abschlagen." Die Jüngste machte sich auf den Weg zu ihrer zweiten Schwester. Sie trug ihr ihren Wunsch vor. Die Frau des reichen Kornhändlers sagte: "Nun siehst du selbst, wie es gekommen ist. Deine älteste Schwester und ich haben uns so verheiratet, daß wir nun wohlhabend und in guten Verhältnissen leben, ohne an Not denken zu brauchen. Von uns beiden hat keine daran gedacht, ob sie den Mann, den sie bekommt, gerne hat oder nicht. Du dagegen hast einen Mann genommen, den du lieb hattest, und hast nicht danach gefragt, ob es dir nachher schlecht gehen würde oder gut. Jetzt hast du nichts zu essen. Du hast alle Warnungen deiner Schwestern, die dir das vorher gesagt haben, überhört und mußt nun tragen, was du dir selbst aufgeladen hast. Du wolltest von Liebe satt werden und verzichtetest auf Brot. Ernähr' dich nun von Liebe und verlang' von uns kein Brot." Danach schlug die Schwester vor der Jüngsten die Türe zu und ließ sie draußen stehen.

Die Jüngste kam zu ihrem Schneider zurück und setzte sich in einen Winkel, wo der Schneider sie nicht sehen konnte. Sie weinte aber nicht, weil sie Hunger hatte, sondern sie weinte, weil ihre Schwestern so lieblos waren. Den Hunger hatte sie vergessen. An den Hunger dachte sie von dem Tage an nicht mehr, sondern sie sorgte nur, daß es ihrem Mann gut gehe.

Der Schneider sah, daß seine Frau sich abmühte, ihren Kummer vor ihm zu verbergen. Da er aber seine Frau sehr lieb hatte, so sah er sehr wohl, wie die Sache stand. Da sagte er eines Tages bei sich selbst: "Ich sehe sehr wohl, daß meine Frau mich sehr lieb hat und daß sie imstande ist, aus Liebe zu mir die Not und den Hunger zu ertragen. Ich sehe aber auch, daß sie sich aus Liebe zu



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mir von ihrer Familie getrennt hat und daß ihr das zu ertragen sehr schwer wird. Da nun die Familie meiner Frau diese ihre Liebe zu mir nicht versteht, wird meine Frau von ihrer Familie nicht eher wieder freundlich aufgenommen werden, als bis sie mich als Gatten aufgegeben hat. Sie hat mich so lieb, daß sie mich nicht freiwillig aufgeben wird. Da ich nun aber nicht will, daß sie den größeren Schmerz der Trennung von ihrer Familie weiter erträgt und zuletzt daran noch zugrunde geht, werde ich selbst mich vernichten lassen. Wenn ich nicht mehr lebe, ist meine Frau wieder frei, und ihre Familie wird sie wieder aufnehmen. Darum werde ich in den Wald gehen und mich vom Ansa* verschlingen lassen."

Eines Nachmittags machte der Schneider sich auf den Weg und schlich, als er glaubte, daß seine Frau ihn nicht bemerke, heimlich von dannen, dem Walde zu. Die Frau hatte aber doch beobachtet, daß der Schneider, ihr Mann, irgend etwas Besonderes vorhaben mußte, denn er sah immer besorgt um sich, ob ihm auch niemand nachsehe. So schlich sie ihm denn nach und kam, ohne daß er es wußte, auch in den Wald und ging dann immer in einiger Entfernung hinter ihm her.

Nachdem der Schneider schon ein weites Stück gewandert war, drehte er sich um und gewahrte in einiger Entfernung seine Frau. Er blieb stehen und sagte: "Warum folgst du mir ?" Die Frau sagte: "Weil ich dich zu lieb habe, um dich so allein im Walde umhergehen zu lassen." Der Schneider sagte: "Ich bitte dich, kehre um und gehe wieder nach Hause. Ich weiß nicht, was ich heute noch erlebe, und es wird mir leichter, wenn ich allein bin." Die junge Frau sagte: "Diese Bitte kann ich dir nicht erfüllen. Was du erlebst, will ich mit dir erleben." Da sah der Schneider, daß er nicht imstande sein werde, seine Frau zur Heimkehr zu bewegen. Er ging daher weiter, und seine Frau folgte ihm.

Der Schneider und seine Frau waren im Walde weit gewandert. Der Schneider sah, daß er in der Gegend war, in der Ansa zu Hause war. Er sagte zu seiner Frau: "Hier wollen wir uns zum Schlafe niederlegen." Seine Frau legte sich nieder. Er streckte sich nieder. Seine Frau war ermüdet und schlief sogleich ein. Der Schneider sah es und erhob sich. Er setzte sich auf einen Stein und wartete.

Der Schneider hatte eine gute Zeit gewartet, da sah er Ansa von ferne durch den Wald kommen. Der Schneider sprang auf und eilte



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Ansa entgegen. Er kam ganz dicht zu Ansa und sprach zu ihm: "Ansa, du zögerst? Ich warte schon lange darauf, daß du kommst und mich verschlingst. Nur deshalb bin ich hierhergegangen. Ich habe aber eine Bitte. Dort drüben liegt meine junge Frau und schläft. Ich beschwöre dich, tue ihr nichts, führe sie sorgfältig beschützt nach Hause, nachdem du mich verschlungen hast."

Ansa sagte: "Schneider, schließe die Augen. Nachher öffne sie wieder. Dein Wunsch soll erfüllt werden." Der Schneider sagte bei sich: "So ist also alles geregelt." Er schloß die Augen und wartete, daß ihm etwas Schreckliches widerfahre. Er wartete. Es geschah nichts. Er öffnete die Augen. Da sah er um sich alles voller Vieh. Ansa aber war verschwunden. Der Schneider lief zu seiner Frau und weckte sie. Der Schneider sagte zu seiner Frau: "Schau nur um dich; all dieses Vieh hat uns Ansa geschenkt!" Die Frau erhob sich. Sie sagte zu ihrem Manne: "Siehst du, nun brauchst du nicht mehr Not zu leiden. Komm, wir wollen das Vieh schnell heimtreiben."

Der Schneider und seine Frau trieben das Vieh heim. Sie verkauften es und wurden reiche Leute. Der Schneider baute ein schönes Haus. Es war das schönste in der ganzen Gegend.

Der Ölhändler und der Kornhändler hatten kein Glück. Eines Tages hatten beide ihr ganzes Vermögen verloren und waren außerstande, ihre Frauen weiter zu ernähren. Die beiden Frauen gingen umher und bettelten. Eines Tages kamen die beiden Frauen an dem Haus des Schneiders vorbei, klopften an und baten um etwas Speise. Die jüngste Schwester sah zum Fenster heraus und erkannte sie. Da ging sie herab, führte sie in das Haus, wies ihnen eine gute Kammer an und sagte: "Bleibt hier. Mein Mann und ich werden in Zukunft für euch sorgen. Wir wollen nicht mehr vom Vergangenen reden."


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