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Deutsche Kinder- und Hausmärchen


Illustrationen von Sigrid Witzig

Märchen europäischer Völker


Der Stein der Weisen oder Silvester und Rosine

In den Zeiten, da Cornwall noch seine eigenen Fürsten hatte, regierte in dieser kleinen Halbinsel des großen Britannien ein junger König namens Mark, ein Enkel desjenigen, der durch seine Gemahlin, die schöne Yselde, auch Yseult die Blonde genannt, und ihre



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Liebesgeschichte mit dem edlen und unglücklichen Tristan von Leonnois so berühmt geworden ist.

Dieser König Mark hatte viel von seinem Großvater: Er war hoffärtig ohne Ehrgeiz, wollüstig ohne Geschmack und geizig, ohne ein guter Wirt zu sein. Sobald er zur Regierung kam, welches sehr früh geschah, fing er damit an, sich seinen Leidenschaften und Launen zu überlassen und auf einem Fuß zu leben, der ein weit größeres und reicheres Land als das seinige hätte zugrunde richten müssen. Als seine gewöhnlichen Einkünfte nicht mehr zureichen wollten, drückte er seine Untertanen mit neuen Auflagen; und als sie nichts mehr zu geben hatten, machte er sie selbst zu Gelde und verkaufte sie an seine Nachbarn.

Bei allem dem hielt König Mark einen glänzenden Hof und wirtschaftete, als ob er eine unerschöpfliche Goldquelle gefunden hätte. Nun hatte er sie zwar noch nicht gefunden, aber er suchte sie wenigstens sehr eifrig, und sobald dies ruchbar wurde, stellten sich allerlei sonderbare Leute an seinem Hofe ein, die ihm suchen helfen wollten. Schatzgräber, Geisterbeschwörer, Alchymisten und Beutelschneider, die sich Schüler des dreimal großen Hermes nannten, kamen von allen Enden herzu und wurden mit offenen Armen aufgenommen; denn der arme Mark hatte zu allen seinen übrigen Untugenden auch noch die, daß er der leichtgläubigste Mensch von der Welt war und daß der erste beste Landstreicher, der mit geheimen Wissenschaften prahlte, alles aus ihm machen konnte, was er wollte. Es wimmelte also an seinem Hofe von solchem Gesindel, das ihn ausnutzen wollte.

Der eine gab vor, er habe eine natürliche Gabe, alle Schätze zu wittern, die unter der Erde vergraben lägen; ein anderer wußte sie mit Hilfe der Wünschelrute zu entdecken; ein dritter versicherte, daß das eine und das andere vergeblich sei, wenn man nicht das Geheimnis besitze, die Geister, die in Gestalt der Greifen oder unter andern noch fürchterlicheren Larven die unterirdischen Schätze bewachten, einzuschläfern, zu gewinnen oder sich unterwürfig zu machen, und



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er ließ sich's auf eine bescheidene Art anmerken, daß er im Besitze dieser Geheimnisse sei.

Noch andere sahen auf alle magischen Künste mit Verachtung herab; bei ihnen ging alles natürlich zu. Sie verwarfen alle Talismane, Zauberworte, Kreise, Charaktere und was in diese Rubrik gehört, als eitel Betrügerei und Blendwerk. Was jene durch übernatürliche Kräfte zu leisten vorgaben, das leisteten sie, wenn man ihnen glaubte, durch die bloßen Kräfte der Natur. Wer in das innerste Heiligtum derselben eingedrungen ist, sagten sie, wer in dieser ihrer geheimen Werkstätte die wahren Elemente der Dinge, ihre Verwandtschaften, Sympathien und Antipathien kennengelernt hat, wer den allgestaltigen Naturgeist mit dem allauflösenden Natursalze zu vermählen weiß und durch Hilfe des alldurchdringenden Astralfeuers diesen Proteus festhalten und in seiner eigenen Urgestalt zu erscheinen zwingen kann: Der allein ist der wahre Weise. Er allein verdient den hohen Namen eines Adepten. Ihm ist nichts unmöglich; denn er gebietet der Natur, welcher alles möglich ist. Er kann die geringem Metalle in höhere verwandeln; er besitzt das allgemeine Mittel gegen alle Krankheiten; er kann, wenn es ihm und den Göttern gefällt, Tote ins Leben zurückrufen, und es steht in seiner Macht, selber so lange zu leben, bis es ihm angenehmer ist, in eine andere Welt überzugehen.

König Mark fand dies alles sehr nach seinem Geschmacke; aber weil er sich doch nicht entschließen konnte, nur einen von seinen Wundermännern beizubehalten und die übrigen fortzuschicken, so behielt er sie alle und versuchte es mit einem nach dem andern. Der Tag wurde mit Laborieren, die Nacht mit Geisterbannen und Schatzgraben zugebracht; und wie die Betrüger sahen, daß er kein Freund von Monopolien war, so vertrugen sie sich zu seiner großen Freude gar bald so gut zusammen, als ob alles in einen Beute! ginge. Verschiedene Jahre verstrichen auf diese Weise, ohne daß König Mark dem Ziele seiner Wünsche um einen Schritt näher kam. Er hatte die Hälfte seines kleinen Königreichs aufgraben lassen und



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keinen Schatz gefunden, und über der Hoffnung, alles Kupfer und Zinn seiner Bergwerke in Gold zu verwandeln, war alles Gold, das seine Vorfahren daraus gezogen hatten, zum Schornstein hinausgeflogen.

Einem andern wären nach so vielen verunglückten Versuchen die Augen aufgegangen; aber Mark, dessen Augen immer trüber wurden, wurde um so hitziger auf den Stein der Weisen, je mehr er sich vor ihm zu verbergen schien. Seine Hoffnung, den allgestaltigen Proteus endlich einmal festzuhalten, stieg in eben dem Verhältnis, wie die Schale seines Verlustes sank; er glaubte, daß er nur noch nicht an den rechten Mann geraten sei, und indem er zehn Betrüger fortjagte, war ihm der elfte neu angelangte willkommen.

Endlich ließ sich ein ägyptischer Adept aus der echten und geheimen Schule des großen Hermes bei ihm anmelden. Er nannte sich Misfragmutosiris, trug einen Bart, der ihm bis an den Gürtel reichte, eine pyramidenförmige Mütze, auf deren Spitze ein goldner Sphinx befestigt war, einen langen, mit Hieroglyphen gestickten Rock und einen Gürtel von vergoldetem Blech, in welchen die zwölf Zeichen des Tierkreises gegraben waren.

König Mark schätzte sich für den glücklichsten aller Menschen, einen Weisen von so vielversprechendem Ansehen an seinem Hofe ankommen zu sehen, und wiewohl der Ägypter sehr zurückhaltend tat, so wurden sie doch in kurzem ziemlich gute Freunde. Alles an ihm, Gestalt, Kleidung, Sprache, Manieren und Lebensart, kündigte einen außerordentlichen Mann an. Er aß immer allein und nichts, was andere Menschen essen; er hatte einige große Schlangen und ein ausgestopftes Krokodil bei sich in seinem Zimmer, denen er mit großer Achtung begegnete und mit welchen er von Zeit zu Zeit geheime Unterredungen zu halten schien. Er sprach die wunderbarsten und rätselhaftesten Dinge mit einer Offenheit und Gleichgültigkeit, als ob es die gemeinsten und bekanntesten Dinge von der Welt wären, aber auf Fragen antwortete er entweder gar nicht, oder, wenn er es tat, geschah es in einem Tone, als ob nun weiter nichts



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zu fragen übrig wäre, wiewohl der Fragende jetzt noch weniger wußte als zuvor. Von Personen, die vor vielen hundert Jahren gelebt hatten, sprach er, als ob er sie genau gekannt habe, und überhaupt mußte man aus seinen Reden schließen, daß er wenigstens ein Zeitgenosse des Königs Amasis gewesen sei, wiewohl er sich nie deutlich darüber erklärte. Was ihm bei Mark den meisten Kredit gab, war, daß er viel Gold und eine Menge seltener Sachen bei sich hatte und von sehr großen Summen als von einer Kleinigkeit sprach. Alle diese Umstände schraubten nach und nach die Neugier des leichtgläubigen Königs von Cornwall so hoch hinauf, daß er es nicht länger aushalten konnte; und wie er es nun auch angefangen haben mochte, genug, der weise Misfragmutosiris ließ sich endlich erbitten, oder sein Herz erlaubte ihm nicht länger undankbar gegen die Ehrenbezeigungen und Geschenke zu sein, womit ihn der König überhäufte, und so entdeckte er ihm endlich -doch nicht eher, als bis er ihn mittelst verschiedener Initiationen durch einige höhere Grade des Hermetischen Ordens geführt hatte -das ganze Geheimnis seiner Person.

»Die Götter«, sagte Misfragmutosiris, »geben ihre kostbarsten Gaben, wem sie wollen. Ich war nichts weiter als ein Mensch wie andre, noch jung, doch nicht ganz unerfahren in den Mysterien der ägyptischen Philosophie, als mich die Neugier anwandelte, in das Innere der großen Pyramide zu Memphis, deren Alter den Ägyptern selbst ein Geheimnis ist, einzudringen. Eine gewisse hieroglyphische Aufschrift, die ich schon zuvor über dem Eingang des ersten Saales entdeckt und abgeschrieben hatte, brachte mich, nach vieler Mühe, ihren Sinn zu erraten, auf die Vermutung, daß diese Pyramide das Grabmal des großen Hermes sei. Ich beschloß, mich in einer Stunde hineinzuwagen, worin gewiß noch kein Sterblicher sich dessen unterfangen hat, und noch jetzt wäre mir meine Verwegenheit unbegreiflich, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß dieser Gedanke, dessen meine eigene Seele nicht fähig war, von einer höhern Macht in mir erschaffen wurde. Genug, ich stieg um Mitternacht, ohne Licht



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und mit gänzlicher Ergebung in die Führung desjenigen, der mir ein so kühnes Unternehmen eingegeben, in die Pyramide hinab. Ich war auf einem sanften Abhang eine Zeitlang abwärts- und dann ebenso unvermerkt emporgestiegen, als ich auf einmal ein helles Licht erblickte, das wie eine Kugel vom reinsten gediegenen Feuer vor mir herschwebte. «

Hier hielt Misfragmutosiris einige Augenblicke ein. —»Und Ihr hattet den Mut, diesem Lichte zu folgen?«fragte König Mark, der in der Stellung eines versteinerten Horchers, den Leib schräg vorwärtsgebogen, mit straff zurückgezogenen Füßen, beide Hände auf die Knie gestützt, ihm gegenübersaß und furchtsam, nur eine Silbe von der Erzählung zu verlieren, wiewohl unter beständigem Schaudern vor dem, was kommen würde, mit zurückgehaltnem Atem und weit offnen Augen zuhörte.

»Ich folgte dem Lichte«, fuhr der Ägypter fort, »und kam durch einen immer niedriger und enger werdenden Gang in einen viereckigen Saal von poliertem Marmor, dessen Ausgang mich in einen andern Gang leitete. Als ich ungefähr fünfzig Schritte fortgekrochen war, fand ich zwei Wege vor mir: Der eine schien ziemlich steil in die Höhe zu führen, der andere, linker Hand, lief gerade fort. Ich folgte der Lichtkugel auf diesem letztem, bis ich an den Rand eines tiefen Brunnens gelangte. Bei dem sehr lebhaften Lichte, das die Kugel umherstreute, wurde ich gewahr, daß eine Anzahl kurzer eiserner Stangen, eine ungefähr zwei Spannen weit von der andern, von oben bis unten aus der Mauer hervorragten, eine gefährliche Art von Treppe, auf der man zur Not in den Brunnen hinabsteigen konnte. Ohne mich lange zu bedenken, schickte ich mich an, diese schwindlige Fahrt anzutreten, und war schon drei oder vier Stufen hinabgestiegen, als die Lichtkugel plötzlich verschwand und mich in der schrecklichsten Dunkelheit zurückließ.

Ich begreife nicht, wie ich in diesem entsetzlichen Augenblicke nicht vor Schrecken in den Abgrund hinunterstürzte. Genug, ich faßte mich und fuhr mit verdoppelter Behutsamkeit fort, hinabzuklet



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tern, indem ich mich mit einer Hand an einer Stange über mir festhielt, während ich eine andere unter mir mit den Füßen suchte. Endlich merkte ich, daß keine Stangen mehr folgten; ich hörte das Wasser unter mir rauschen, aber zugleich ward ich an der Seite, woran ich heruntergestiegen, einer Öffnung gewahr, aus welcher mir ein dämmernder Schein entgegenkam. Ich sprang in diese Öffnung hinein und gelangte auf einem abschüssigen Weg in eine ungeheure Höhle von glimmerndem Granit, die durch einen mitten aus der gewölbten Decke herabhangenden großen Karfunkel erleuchtet war. Wie groß war meine Bestürzung, als ich mich auf einmal an dem Rande eines reißenden Stromes sah, der sich mit entsetzlichem Geräusch aus einer Öffnung dieser Höhle über schroffe Felsenstücke herabstürzte!

Indessen bedachte ich mich nur einen Augenblick, was ich zu tun hätte. Ich war schon zu weit gegangen, um wieder zurückzugehen, und ein Genius schien mir zuzuflüstern, daß mir alle diese Schwierigkeiten nur, um meinen Mut zu prüfen, entgegengestellt würden. Ich zog alle meine Kleider aus, band sie in einen Bündel über meinem Kopfe zusammen und stürzte mich in den Strom. In wenigen Augenblicken wurde ich von der Gewalt desselben durch ein dunkles Gewölbe fortgerissen. Nun merkte ich, daß das Wasser unter mir seicht wurde; bald darauf verlor es sich gänzlich und ließ mich in einer großen Höhle auf einem moosigen Grunde sitzen. Eine ungewöhnliche Hitze, die ich hier verspürte, trocknete mich so schnell, daß ich mich sogleich wieder anzog, um zu sehen, wohin mich eine ziemlich enge Öffnung führen werde, aus welcher ein lebhafter Schein in die Höhle eindrang. Sowie ich der Öffnung näher kam, hörte ich ein zischendes Geprassel wie von einem lodernden Feuer. Ich kroch hinein, die Öffnung erweiterte sich allmählich, und ich befand mich am Eingang eines weiten gewölbten Raumes, wo mein Fortschritt durch ein neues Hindernis gehemmt wurde, das noch viel fürchterlicher als alle vorigen war.

Ich sah einen feurigen Abgrund vor mir, der beinahe den ganzen



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Raum erfüllte und dessen wallende Flammen wie aus einem Feuersee über die Ufer von Granitfelsen, womit er ringsum eingefaßt war, emporloderten und bis an meine Füße herauf zu zücken schienen. Statt einer Brücke war eine Art von Rost, aus vierfach nebeneinander liegenden schmalen Kupferblechen zusammengefügt, hinübergelegt, der von einem Ufer zum andern reichte, aber kaum drei Palmen breit war. Ich gestehe aufrichtig: Ungeachtet der großen Hitze dieses schrecklichen Ortes lief mir's eiskalt durchs Rückenmark auf und nieder; aber was war hier anders zu tun, als auch dieses Abenteuer zu wagen, ohne mich lange über die Möglichkeit zu bedenken! Wie ich hinübergekommen, weiß ich selbst nicht; genug, ich kam hinüber, und ehe ich Zeit hatte, wieder zu mir selbst zu kommen, fühlte ich mich von einem Wirbelwind ergriffen und mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit durch die grauenvolleste Finsternis fortgezogen. Ich verlor alle Besinnung, kam aber bald wieder zu mir selbst, indem ich mich etwas unsanft gegen eine Pforte geworfen fühlte. Sie sprang auf, und ich befand mich, auf meinen Füßen stehend, in einem hellerleuchteten Saale, dessen gewölbte, mit Azur überzogene Decke die Halbkugel des Himmels vorstellte und mit einer Menge von Karfunkeln, als ebensoviel Sternbildern, eingelegt war. Sie ruhte auf zwei Reihen massiv goldener Säulen, an denen viele Hieroglyphen aus Edelsteinen in allen Farben schimmerten. Ich stand wie geblendet von der Herrlichkeit dieses Ortes.«

»Das glaube ich«, rief König Mark, »und nach solchen ausgestandenen Fährlichkeiten! Ich möchte da wohl an Euerm Platze gewesen sein!«

»Als ich mich wieder in etwas gefaßt hatte«, fuhr Misfragmutosiris in seiner Erzählung fort, ohne auf die lebhafte Teilnahme des Königs achtzugeben, »fiel mir eine hohe Pforte von Ebenholz in die Augen, vor welcher zwei Sphinxe von kolossalischer Größe einander gegenüberlagen. Sie waren aus Elfenbein geschnitzt und von wunderbarer Schönheit; aber zu meinem großen Bedauern lagen sie so dicht an der Pforte und so nahe beisammen, daß es schlechterdings für mich



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unmöglich schien, sie zu öffnen und die Begierde zu befriedigen, welche mich in ein so gefahrvolles Abenteuer verwickelt hatte.

Indem ich nun, der verbotnen Pforte gegenüberstehend, vergebens auf ein Mittel sann, diese Schwierigkeit zu überwinden, erblickte ich über der Tür, in diamantnen Charakteren der heiligen Priesterschrift, die mir nicht unbekannt war, den Namen Hermes Trismegistos. Ich las ihn mit lauter Stimme, und kaum hatte ich ihn ausgesprochen, so öffnete sich die Pforte von selbst, die beiden Sphinxe belebten sich, sahen mich mit funkelnden Augen an und wichen so weit zurück, daß ich zwischen ihnen durchgehen konnte. Sobald ich über die Schwelle der Pforte von Ebenholz geschritten war, schlossen sich ihre Flügel, wie von einem innewohnenden Geiste bewegt, von sich selbst wieder zu, und ich befand mich in einem runden Dome von schwarzem Jaspis, dessen furchtbares Dunkel nur von Zeit zu Zeit, in Pausen von zehn bis zwölf Sekunden, durch eine Art von plötzlichem Wetterleuchten erhellt wurde, das an den schwarzen glattgeschliffnen Wänden herumzitterte und ebenso schnell verschwand als entstand.

Bei dieser majestätischen und geheimnisvollen Art von Beleuchtung erblickte ich in der Mitte des Doms ein großes Prachtbette von unbeschreiblichem Reichtum, worauf ein langer ehrwürdiger Greis mit kahlem Haupte und einem schlohweißen Barte, die Hände auf die Brust gelegt, sanft zu schlummern schien. Zu seinen Häupten lagen zwei Drachen von so seltsamer und schrecklicher Gestalt, daß ich sie noch jetzt, nach so viel Jahrhunderten, vor mir zu sehen glaube. Sie hatten einen flachen Kopf mit langen herabhangenden Ohren, runde gläserne Augen, die weit aus ihren Kreisen hervorragten, einen Rachen gleich dem Krokodil, einen langen äußerst dünnen Schwanenhals und ungeheure lederne Flügel wie die Fledermäuse; der vordere Teil des Leibes war mit starren spiegelnden Schuppen bedeckt und mit Adlersfüßen bewaffnet, und der Hinterleib endigte sich in eine dicke, siebenmal um sich selbst gewundene Schlange. Ich bemerkte bald, daß das Wetterleuchten, das diesen Dom alle zehn Sekunden



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auf einen Augenblick erhellte, aus den Nasenlöchern dieser Drachen kam und daß dies ihre Art zu atmen war.

Wie schauderhaft auch der Anblick dieser gräßlichen Ungeheuer war, so schienen sie doch nichts Feindseliges gegen mich im Sinne zu haben, sondern erlaubten mir, den majestätischen Greis, der hier den langen Schlaf des Todes schlief, bei dem flüchtigen Lichte, das sie von sich gaben, so lang ich wollte zu betrachten. Ich bemerkte eine dicke Rolle von ägyptischem Papier, die zu den Füßen des Greises lag und mit Hieroglyphen und Charakteren beschrieben schien. Eine unsägliche Begierde, der Besitzer dieser Handschrift zu sein, bemächtigte sich meiner bei diesem Anblick; denn ich zweifelte nicht, daß sie die verborgensten Geheimnisse des großen Hermes enthalte. Zehnmal streckte ich die Hand nach ihr aus, und zehnmal zog ich sie wieder mit Schaudern zurück. Endlich wurde die Begierde Meister, und meine Hand berührte schon den heiligen Schatz, gegen welchen ich alle Schätze über und unter der Erde verachtete, als mich ein Blitz aus dem Munde eines der beiden Drachen plötzlich zu Boden warf und alle meine Glieder dergestalt lähmte, daß ich unfähig war, wieder aufzustehen. Sogleich fuhr eine kleine geflügelte und gekrönte Schlange, die den hellsten Sonnenglanz von sich warf, aus der Kuppel des Dorns herab und hauchte mich an: Ich fühlte die Kraft dieses Anhauchs gleich einer lieblich scharfen geistigen Flamme, alle meine Nerven dergestalt durchdringen, daß ich etliche Augenblicke wie betäubt davon war. Als ich mich aber wieder aufraffte, sah ich einen Knaben vor mir, der auf einem Lotusblatte saß und, indem er den Zeigefinger der rechten Hand auf den Mund drückte, mir mit der Linken die Rolle darreichte, die ich zu den Füßen des schlafenden Greises gesehen hatte. Ich erkannte den Gott des heiligen Stillschweigens und warf mich vor ihm zur Erde, aber er war wieder verschwunden, und nun wurde ich erst gewahr, daß ich mich, ohne zu begreifen, wie es damit zugegangen, anstatt in der großen Pyramide bei Memphis in meinem Bette befand.«

»Wunderbar! Seltsam, bei meiner Ehre!«rief König Mark mit allen



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Zeichen des Erstaunens und der Überraschung auf dem gläubigsten Gesichte von der Welt.

»So kam es mir auch vor«, erwiderte Misfragmutosiris, »und ich würde mich sicher selbst beredet haben, daß mir alle diese wunderbaren Dinge bloß geträumt hätten, wenn die geheimnisvolle Rolle in meiner Hand mich nicht von der Wirklichkeit derselben hätte überzeugen müssen. Ich betrachtete sie nun mit unbeschreiblichem Entzücken, ich betastete und beroch sie auf allen Seiten und konnte es gleichwohl kaum meinen eignen Sinnen glauben, daß ein so unbedeutender Mensch wie ich der Besitzer eines Schatzes sei, um welchen Könige ihre Kronen gegeben hätten. Das Papier war von der schönsten Purpurfarbe, die Hieroglyphen gemalt und die Charaktere von dünn geschlagenem Golde.«

»Das muß ein schönes Buch sein«, sprach König Mark; »ich weiß nicht, was ich darum gäbe, es nur eine Minute lang in meiner Hand zu haben. Dürfte ich bitten?«

»Von Herzen gern, wenn es noch in meinen Händen wäre.« »Wie? Es ist nicht mehr in Euern Händen?«rief Mark mit kläglicher Stimme.

»Ich besaß es nur sieben Tage. Am achten Tag erschien mir der Knabe auf dem Lotusbiatt wieder, nahm die Rolle aus meiner Hand und verschwand damit auf ewig. Aber diese sieben Tage waren für mich hinreichend, mich zum Meister von sieben Geheimnissen zu machen, deren geringstes von unschätzbarem Wert in meinen Augen ist. Seit dieser merkwürdigen Nacht sind nun über tausend Jahre verstrichen.«

»Über tausend Jahre?«unterbrach ihn König Mark abermals. »Ist's möglich? Über tausend Jahre?«

»Alles ist möglich«, antwortete der tausendjährige Schüler des großen Hermes mit seinem gewöhnlichen Kaltsinne: »Dies ist es kraft des siebenten Geheimnisses. Seitdem ich im Besitze desselben bin, ist der ganze Erdboden mein Vaterland, und ich sehe Königreiche und Geschlechter der Menschen um mich her fallen wie die Blätter



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von den Bäumen. Ich wohne bald hier, bald da, bald in diesem, bald in jenem Teile der Welt; ich rede alle Sprachen der Menschen, kenne alle ihre Angelegenheiten und habe bei keiner zu gewinnen, noch zu verlieren; ich verlange über niemand zu herrschen und bin niemand untertan; aber wenn ich (was mir selten begegnet) einen guten König antreffe, so habe ich mein Vergnügen daran, sein Vermögen, Gutes zu tun, zu vermehren.«

König Mark versicherte, er wünsche und hoffe, einer von den guten Königen zu sein; wenigstens habe er immer seine Lust daran gehabt, Gutes zu tun, und bloß, um unendlich viel Gutes tun zu können, habe er sich gewünscht, den Stein der Weisen in seine Gewalt zu bekommen.

Misfragmutosiris gab ihm zu verstehen, dazu könne wohl noch Rat werden; er schien die Sache als eine Kleinigkeit zu betrachten, wollte sich aber für diesmal nicht näher darüber erklären.

König Mark, der einen Mann, dem nichts unmöglich war, zum Freunde hatte, glaubte den Stein der Weisen schon in seiner Tasche zu fühlen, und gab, auf Abschlag der Goldberge, in welche er seine Kupferberge bald zu verwandeln hoffte, alle Tage glänzendere Feste; denn der Ruf des Wundermannes mit dem goldnen Sphinx auf der Mütze, der schon tausend Jahre alt war, alle Krankheiten heilen konnte und ein Krokodil zum Spiritus familiaris hatte, war bereits im ganzen Lande erschollen, und mit der hohen Meinung, die das Volk von ihm gefaßt hatte, war auch der gesunkene Kredit des Königs wieder höher gestiegen.

Die Königin Mabillje mit ihren Damen und Jungfrauen trug nicht wenig bei, diese Hoflustbarkeiten lebhafter und schimmernder zu machen. Es war schon lange, daß König Mark, der die Veränderung liebte, seiner Gemahlin einige Ursachen gab, sich von ihm für vernachlässigt zu halten, und die Eifersucht, womit sie ihm ihre Zärtlichkeit zu beweisen sich verbunden hielt, war ihm so beschwerlich gefallen, daß ihm zuweilen der Wunsch entfahren war, daß sie (ihrer Tugend unbeschadet) irgendein anderes Mittel, sich die Langeweile



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zu vertreiben, ausfindig machen möchte, als das Vergnügen, das sie daran zu finden schien, wenn sie ihm seine kleineren Zeitkürzungen verkümmern konnte. Er schien es daher entweder nicht zu bemerken oder (wie einige Hofleute wissen wollten) es heimlich ganz gerne zu sehen, daß ein schöner junger Ritter, der seit kurzem unter dem Namen Floribell von Nikomedien an seinem Hoflager erschienen war, sich auf eine sehr in die Augen fallende Art um die Gunst der Königin bewarb und alle Tage größere Fortschritte in derselben machte. In der Tat war es schon so weit gekommen, daß Mabillje ihre Parteilichkeit für den schönen Floribell sich selbst nicht länger leugnen konnte; da sie aber fest entschlossen war, einen tapfern Widerstand zu tun, so nahmen ihr die Angelegenheiten ihres eigenen Herzens so viel Zeit weg, daß sie keine hatte, den König in den seinigen zu beunruhigen.

Wie lebhaft auch König Mark seine Geschäfte auf dieser Seite treiben mochte, so verlor er doch das Ziel seiner Hauptleidenschaft keinen Augenblick aus dem Gesichte. Es waren nun bereits einige Monate verstrichen, seit der Erbe des großen Trismegistos an seinem Hofe wie ein König bewirtet wurde, und Mark glaubte sich einiges Recht an seine Freundschaft erworben zu haben. Misfragmutosiris hatte sich zwar bei aller Gelegenheit gegen Belohnungen und große Geschenke erklärt; aber kleine Geschenke, pflegte er zu sagen, die ihren Wert bloß von der Freundschaft erhalten, deren Symbole sie sind, kann sich kein Freund weigern von dem andern anzunehmen. Weil aber die Begriffe von klein und groß relativ sind und unser Adept von Sachen, die nach der gemeinen Schätzung einen großen Wert haben, als von sehr unbedeutenden Dingen sprach, so hatten die kleinen Geschenke, die er nach und nach von seinem Freunde Mark anzunehmen die Güte gehabt hatte, die Schatzkammer des armen Königs ziemlich erschöpft, und es war hohe Zeit, ihr durch neue und ergiebige Zuflüsse wieder aufzuhelfen. Der Ägypter schien die Billigkeit hiervon selbst zu fühlen, und bei der ersten Anregung, welche der König von den sieben Geheimnissen tat, trug er kein Bedenken



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mehr, ihm zu gestehen, daß das erste und geringste derselben die Kunst, den Stein der Weisen zu bereiten sei. Mark beteuerte, daß er mit diesem geringsten gern fürlieb nehmen wolle, und der Adept machte sich ein Vergnügen daraus, ihm ein Geheimnis zu entdecken, worauf er selbst zwar keinen großen Wert legte, das aber gleichwohl, wie er weislich sagte, um des Mißbrauchs willen allen Profanen ewig verborgen bleiben müsse.

»Der wahre Hermetische Stein der Weisen«, sagte er, »kann aus keiner andern Materie als aus den feinsten Edelsteinen, Diamanten, Smaragden, Rubinen, Saphiren und Opalen gezogen werden. Die Zubereitung desselben, vermittelst Beimischung eines großen Teiles Zinnober und einiger Tropfen von einem aus verdickten Sonnenstrahlen gezogenen flüchtigen Ole, ist weniger kostbar oder verwickelt als mühsam und erfordert beinahe nichts als einen ungewöhnlichen Grad von Aufmerksamkeit und Geduld, und dies ist die Ursache, warum es der Mühe nicht wert wäre, einen Versuch im Kleinen zu machen. Das Resultat der Operation, welche unter meinen Händen nicht länger als dreimal sieben Tage dauert, ist eine Art von purpurroter Masse, die sehr schwer ins Gewicht fällt und sich zu einem feinen Mehle schaben läßt, wovon eines halben Gerstenkorns schwer hinreichend ist, zwei Pfund Blei zu ebensoviel Gold zu veredeln: Und dies ist, was man den Stein der Weisen zu nennen pflegt.«

König Mark brannte vor Begierde, so bald nur immer möglich einige Pfund dieser herrlichen Komposition zu seinen Diensten zu haben. Er fragte also ein wenig furchtsam, ob wohl eine sehr große Quantität Edelsteine vonnöten wäre, um ein Pfund des philosophischen Steines zu gewinnen.

»Oh«, sagte Misfragmutosiris, »ich merke, wo die Schwierigkeit liegt. An Edelsteinen soll es uns nicht fehlen; denn ich besitze auch das Geheimnis, die feinsten und echtesten Edelsteine zu machen. Ich muß gestehen, die Operation ist etwas langweilig: Sie erfordert gerade soviel Monate als der Stein der Weisen Tage, aber . . .«



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»Nein«, fiel ihm Mark in die Rede, »so lange kann ich unmöglich warten! Lieber will ich meine Kronen und mein ganzes übriges Geschmeide dazu hergeben! Einundzwanzig Monate sind eine Ewigkeit! Wenn wir nur erst den Stein aller Steine haben, so soll es uns an den übrigen nicht fehlen. Für Gold ist alles zu bekommen, und allenfalls habe ich nichts dagegen, wenn Ihr bei guter Muße auch Edelsteine machen wollt.«

»Wie es beliebig ist«, sagte der Adept. »Von zwei Unzen Diamanten und zweimal so viel Rubinen, Smaragden und dergleichen erhalten wir genau einen Stein von zwölftausend Gran an Gewicht, und damit läßt sich schon was machen. Ich für meinen Teil brauche in hundert Jahren nicht so viel.«

»Kleinigkeit«, rief König Mark, »ich wette, an meiner schlechtesten Hauskrone müssen mehr Steine sein, als Ihr verlangt: Aber wenn wir einmal an die Arbeit gehen, so muß es auch der Mühe wert sein. Laßt mich dafür sorgen! Wir müssen einen Stein von vierundzwanzigtausend Gran bekommen, oder ich heiße nicht König Mark!« »Das beste ist«, sagte der Adept, »daß ich mit dem Sonnenöle schon versehen bin, welches von allen Ingredienzien das kostbarste ist und dessen Zubereitung einundzwanzig Jahre dauert. Ich bin immer besorgt, einige Phiolen davon vorrätig zu haben; denn außer dem, daß es bei Verfertigung des Steins die Hauptsache ist, so ist es auch die Materie, woraus, vermittelst einer Konzentration, welche dreimal einundzwanzig Jahre erfordert, das Hermetische Öl der Unsterblichkeit bereitet wird, von dessen wunderbaren Kräften ich dir künftig so viel entdecken werde, als mir erlaubt sein wird.«

König Mark war vor Freude außer sich, einen Freund zu besitzen, der solche Entdeckungen zu machen hatte, und eilte, was er konnte, alles Nötige zu dem großen Werke veranstalten zu helfen. An Ofen und allen Arten chymischer Werkzeuge konnte es an einem Hofe, wo schon so lange laboriert wurde, nicht fehlen; aber Misfragmutosiris erklärte sich, daß er außer einem kleinen Herde, den er in einem kleinen Kabinette seines Zimmers bauen ließ, und einem Sacke voll



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Kohlen nichts vonnöten habe, weil er alles, was zur Operation erforderlich sei, bei sich führe. Als man mit den Zurüstungen fertig war, zog er die Gestirne zu Rate und setzte den Anfang der geheimen Arbeiten auf einen gewissen Tag um die erste Stunde nach Mitternacht fest. Vorher aber initiierte er den König in einem neuen Grade der Hermetischen Mysterien, welcher ihn fähig machte, ein Augenzeuge aller zu dem großen Werke gehörigen Arbeiten zu sein. Eine einzige, höchst geheimnisvolle war hiervon ausgenommen, bei welcher der Geist des Dreimal großen Hermes selbst erscheinen mußte, um zu dem vorhabenden Werke seinen Beifall zu geben. Die Gegenwart dieses Geistes ertragen zu können, war ein Vorrecht der Eingeweihten des höchsten Grades, und Misfragmutosiris gab dem Könige zu verstehen, daß er selbst unter allen Lebendigen der einzige, der sich dieses Vorrechtes rühmen könne, und kraft desselben das unsichtbare Oberhaupt des ganzen Hermetischen Ordens sei. Endlich, als die sehnlich erwartete Mitternacht herannahte, übergab König Mark dem Adepten eigenhändig ein goldenes Kästchen, mit Dicksteinen, Smaragden, Rubinen, Saphiren und morgenländischen Opalen angefüllt, die er aus zwei oder drei von seinen Vorfahren geerbten Kronen hatte ausbrechen lassen. Bei dieser Gelegenheit wurde er zum ersten Male in das geheime Kabinett eingelassen, welches bisher außer dem Adepten kein sterblicher Fuß hatte betreten dürfen. Es war um und um mit ägyptischen Götterbildern und Hieroglyphen ausgeziert und nur von einer einzigen Lampe, die von der Decke herabhing, beleuchtet; in der Mitte stand ein kleiner runder Herd von schwarzem Marmor in Form eines Altars, auf welchem das große Werk zustande kommen sollte. Misfragmutosiris, in der Kleidung eines alten ägyptischen Oberpriesters, fing die Zeremonie damit an, daß er den König mit einem angenehm betäubenden Rauchwerk beräucherte. Er zog hierauf einen großen hermetisch-magischen Kreis um den Altar und in denselben einen kleinem, den er mit sieben, wie jenen mit neun hieroglyphischen Charakteren bezeichnete. Er befahl dem Könige, in dem äußeren



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Kreise stehenzubleiben; er selbst aber trat in den innern Kreis vor den Altar, warf etliche Körner Weihrauch in die Glutpfanne und murmelte einige dem König unverständliche Worte.

Sowie der Rauch in die Höhe stieg, erschien über dem Altar ein langöhriger Knabe, auf einem Lotusblatt sitzend, den Zeigefinger der rechten Hand an den Mund gelegt und in der linken eine brennende Fackel tragend. Mark wurde bei dieser Erscheinung leichenblaß und konnte sich kaum auf den Beinen erhalten, aber der Adept näherte seinen Mund dem rechten Ohre des Knaben und flüsterte ihm etwas zu, worauf dieser mit einem bejahenden Kopfnicken antwortete und verschwand. Misfragmutosiris hieß den König guten Mutes sein, gab ihm, um seine Lebensgeister wieder zu stärken, einen Löffel voll von einem Elixier von großer Tugend und empfahl ihm, morgen in der siebenten Stunde sich wieder einzufinden, indessen aber sich zur Ruhe zu begeben, während er selbst wachen werde, um die Erscheinung des großen Hermes, welcher ihm angekündigt worden, abzuwarten und die Mysterien zu vollziehen, womit das große Werk angefangen werden müsse, wenn man sich eines glücklichen Ausgangs versichern wollte.

König Mark begab sich voll Glauben und Erwartung in sein eigenes Gemach, und weil das, was ihm der Adept gegeben hatte, ein Schlaftrunk gewesen war, so schlief er hart und ununterbrochen zwei Stunden länger als die Zeit, auf welche er bestellt war. Endlich erwachte er, warf sich in seine Kleider und eilte dem geheimen Zimmer zu. Er fand alles in eben dem Stande, wie er es verlassen hatte; nur der weise Misfragmutosiris und das goldene Kästchen mit den Edelsteinen waren unsichtbar geworden.

Es gibt keine Worte, um die Bestürzung des Königs zu schildern, wie er seine sanguinischen Hoffnungen und sein grenzenloses Vertrauen auf das Haupt des Hermetischen Ordens so grausam betrogen sah. Auf die erste Betäubung des Erstaunens folgte Unwillen über sich selbst, und dieser brach endlich in Verwünschungen und wütende Drohungen gegen den Betrüger aus, der in einer sichern



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Freistätte seiner Leichtgläubigkeit spottete. Er war im Begriff, in die Halle herunterzusteigen und alle seine Reisigen und Knechte aufsitzen zu lassen, um dem Flüchtling auf allen Seiten nachzusetzen, als auf einmal ein wunderschöner Jüngling in einem hell glänzenden Gewande mit einer goldnen Krone auf dem Haupte und einem Lilienstengel in der Hand vor ihm stand und ihn anredete. »Ich kenne den Unfall«, sprach der Jüngling, »der dich beunruhigt, und bringe dir Entschädigung. Du suchest den Stein der Weisen; nimm diesen Stein, bestreiche dreimal mit ihm deine Stirne und deine Brust hin und wider, und du wirst die Erfüllung deines Wunsches sehen.«Mit diesen Worten gab ihm der Jüngling einen purpurroten Stein in die Hand und verschwand.

König Mark sank aus einer Bestürzung in die andre. Er betrachtete den Stein, den er auf eine so wunderbare und unverhoffte Art empfangen hatte, von allen Seiten, und wiewohl er nicht begriff, wie die Erfüllung seiner Wünsche und das Bestreichen seiner Stirne und seiner Brust mit diesem Steine zusammenhange, so war er doch zu sehr gewohnt, Dinge, von denen er nichts begriff, zu glauben und zu tun, als daß er hätte Anstand nehmen sollen, dem Befehle des Genius Folge zu leisten. Er bestrich sich also Stirne und Brust dreimal mit dem magischen Steine hin und wider und stand beim dritten Mal - in einen Esel verwandelt da.

Während daß dieses mit dem Könige vorging, erhob sich auf einem andern Flügel des Schlosses, wo die Königin wohnte, auf einmal ein entsetzlicher Lärm. Der schöne junge Ritter Floribell (der, wie wir nicht leugnen können, im Verdacht stand, die Nacht im Schlafzimmer der Königin zugebracht zu haben) hatte sich mit dem besten Teile ihrer Juwelen diesen Morgen unsichtbar gemacht. Mabillje war die erste Person am Hofe, die es gewahr wurde. Sie war im Begriff, vor Scham und Ärger sich ihre schönen Haare aus dem Kopfe zu raufen, als eine Dame von unbeschreiblicher Schönheit in rosenfarbnem Gewand und mit einer Krone von Rosen auf dem Haupte vor ihr stand und zu ihr sagte: »Ich kenne dein Anliegen, schöne Königin,



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und komme, dir zu helfen. Nimm diese Rose und stecke sie an deine Brust, so wirst du glücklicher werden, als du jemals gewesen bist.«Mit diesen Worten reichte sie ihr eine Rose aus ihrer Krone hin und verschwand. Die Königin wußte nichts Besseres zu tun, als zu gehorchen: Sie steckte die Rose an ihren Busen und sah sich in dem nämlichen Augenblick in eine rosenfarbne Ziege verwandelt und in eine unbekannte wilde Einöde versetzt.

Als die Kammerfrauen des Morgens um die gewöhnliche Stunde hereinkamen und weder die Königin noch ihre Juwelen, noch den schönen Floribell fanden, war die Bestürzung und der Lärm so arg, als man sich's vorstellen kann. Man konnte nicht zweifeln, daß sie sich von dem jungen Ritter habe entführen lassen, und man ging, es dem Könige anzuzeigen. Aber wie groß wurden erst der Schrecken und die Verwirrung, da auch der König und sein neuer Günstling, der Mann mit dem großen weißen Barte, nirgends zu finden waren! Sich vorzustellen, daß König Mark sich von dem alten Graubarte habe entführen lassen, war keine Möglichkeit. Man stellte sich also gar nichts vor, wiewohl acht Tage lang in ganz Cornwall von nichts anderm gesprochen wurde. Die Ritter und Knappen setzten sich alle zu Pferde und suchten den König und die Königin vier Monate lang in allen Winkeln von Britannien; aber alles Suchen war umsonst. Sie kamen wieder so klug nach Hause, wie sie ausgezogen waren, und das einzige, womit sich das Volk tröstete, war die Überzeugung, daß es ihnen leicht sein werde, wieder einen König zu finden, wenn sie keinen weisem haben wollten als König Mark.

Der königliche Esel hatte sich indessen mit vieler Behutsamkeit, um nicht entdeckt zu werden, aus seiner Burg ins Freie hinausgemacht und war mißmutig und mit gesenkten Ohren schon einige Stunden lang durch Wälder und Felder dahergetrabt, als er in einem Hohlwege eine junge mit einem Quersack beladene Bäuerin antraf, deren Wohlgestalt, frische Farbe und schönen blonden Haare ihm beim ersten Anblick etwas einflößten, das sich besser für seinen vorigen als gegenwärtigen Zustand schickte. Er blieb stehen, um das junge



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Weib anzugaffen, die sich ganz außer Atem gelaufen hatte und vor Müdigkeit nicht mehr weiter konnte. Die Teilnehmung, die sie diesem allem Ansehen nach herrenlosen Tiere einzuflößen schien, erregte ihre Aufmerksamkeit: Sie näherte sich ihm, streichelte ihn mit einer sehr weißen atlasweichen Hand, und da er ganz ruhig stillhielt und (zum Zeichen, daß es ihm wohl behage, von einer so weichen Hand gekrabbelt zu werden) die Zähne bleckte und beide Ohren eilenlang vorstreckte, so bekam sie auf einmal Lust, ihn in ihre Dienste zu nehmen, und schwang sich auf seinen Rücken. Der Esel bequemte sich zu dem ungewohnten Dienste mit einer Gefälligkeit, von deren geheimem Beweggrunde die schöne Bäuerin sich wenig träumen ließ; er schien stolz auf die angenehme Bürde zu sein und trabte so munter mit ihr davon wie der beste Maulesel aus Andalusien. Wiewohl sie nichts hatte, womit sie ihn lenken konnte, als seine kurze Mähne, schien er doch die Bewegung ihrer Hände, ja sogar den Sinn ihrer Worte zu verstehen, und so brachte er sie durch eine Menge Abwege, die sie ihm andeutete. Gegen Einbruch der Nacht gelangten sie in eine wilde Gegend an der Seeküste, die von Felsen und Gehölz eingeschlossen und nur gegen die benachbarte See ein wenig offen war.

Sie hielten vor einer mit Kiefern und wildem Gebüsche umwachsenen Höhle still, wo die junge Bäuerin kaum mit etwas heller Stimme zwei- oder dreimal Kasilde rief, als ein feiner wohlgewachsener Mann von dreißig bis vierzig Jahren in Matrosenkleidung aus der Höhle hervoreilte und mit großer Freude über ihre Ankunft ihr von dem lastbaren Tier herunterhalf. »Dank sei dem Himmel«, rief er, sie umarmend, »daß du da bist, liebe Kasilde;mir war schon herzlich bang, es möchte dir ein Unfall zugestoßen sein.« —»Sage lieber Dank diesem guten Esel«, versetzte die Bäuerin lachend; »denn ohne ihn würdest du mich schwerlich so bald, vielleicht gar nicht wiedergesehen haben.« — »Dafür soll er nun auch ausrasten und so viel Gras oder Disteln fressen, als er in dieser hungrigen Gegend finden kann«, sagte jener; »ich bin unendlich in seiner Schuld, daß er dich



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und, wie ich sehe, auch den lieben Quersack so glücklich in meine Arme geliefert hat.«

Der König-Esel stutzte mächtig, da er eine Stimme hörte, die ihm nur gar zu wohlbekannt war: Er betrachtete die beiden Personen (denen er unvermerkt in die Höhle gefolgt war) beim Schein einer Lampe, die aus dem Felsen herabhing, und es kam ihm vor, als ob ihm die Züge des Matrosen und der jungen Bäuerin nicht ganz fremd wären. Er schaute dem ersten schärfer ins Gesicht: Die Ähnlichkeit schien immer größer zu werden, und wie er von ungefähr nach einer Art von steinernem Tische sah, der aus einer von den Felsenwänden hervorragte, fiel ihm ein langer weißer Bart in die Augen, der auf einmal ein verhaßtes Licht in seinen dumpfen Schädel warf.

»Ha, ha«, rief die Bäuerin lachend; »da ist ja auch der Hermetische Bart!« — »Ich weiß wahrlich nicht«, sagte der Mann im nämlichen Tone, »warum ich ihn nicht unterwegs in eine Hecke geworfen habe: Er hat nun seine Dienste getan, und wir werden ihn schwerlich wieder nötig haben.« —»Dafür ist gesorgt«, versetzte jene, indem sie auf den Quersack klopfte; »sieh einmal und sage, ob ich nicht würdig bin, die Geliebte eines Zeitgenossen des Königs Amasis zu sein.« »O gewiß«, rief der weise Misfragmutosiris, »und des Dreimal großen Hermes selbst, wenn du willst. Aber«, fuhr er fort, indem er den Sack ausleerte, »wo hast du deine schimmernde Hof ritter-Kleidung gelassen, Kasilde?« — »Wie du siehst, hab ich sie mit der der ersten hübschen Bäuerin, die ich nach der Stadt zu Markte gehen sah, vertauscht.« —»Der Schade ist zu verschmerzen«, sagte das unsichtbare Haupt des Hermetischen Ordens, indem er den kostbaren Inhalt des Quersackes durchmusterte; »aber damit du mir nicht gar zu stolz auf deine Talente wirst, Mädchen - sieh einmal her, ob ich mir die Abenteuer in der großen Pyramide zu Memphis und den Schrecken, den mir die wetterleuchtenden Drachen am Prachtbette des großen Hermes eingejagt, nicht teuer genug habe bezahlen lassen.«

Man stelle sich vor, wie des armen Esels Majestät dabei zumute war, da er alle die Geschenke, die der schelmische Adept nach und nach



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von ihm erhalten hatte, mit den gesamten Edelsteinen seiner Kronen und dem größten Teile des Schmuckes der Königin in funkelnder Pracht auf dem steinernen Tische ausgebreitet sah. Wäre ihm nicht die unbegrenzte Duldsamkeit zustatten gekommen, die als eine charakteristische Tugend der Gattung, zu welcher er seit kurzem gehörte, von jeher gepriesen worden ist, er würde sich unmöglich haben halten können, die Wut, die in seinem Busen kochte, auf die fürchterlichste Art ausbrechen zu lassen. O warum mußte ich nun auch gerade in einen Esel verwandelt werden? dachte er. Wär ich ein Leopard, ein Tiger, ein Nashorn, wie wollte ich! Aber wozu kann das helfen? Mit einem Esel würden sie bald fertig werden. So sprach der arme König Mark zu sich selbst und lag in seinem Winkel so still und in einen so kleinen Raum zusammengeschmiegt, als ihm nur immer möglich war, um wenigstens seine Neugier zu befriedigen, indem er dem vertraulichen Gespräche dieser zu seinem Unglück verschwornen Schlauköpfe zuhörte.

Nachdem sie ihre Augen an der kostbaren Beute satt geweidet hatten, regte sich ein Bedürfnis von einer dringerndern Art; denn sie hatten beide den ganzen Tag nichts gegessen. Der Adept, der immer an alles dachte, hatte, da ihm in der Burg noch alles zu Gebote stand, sich aus der königlichen Küche mit Vorrat auf etliche Tage reichlich versehen lassen. Er zog einen Teil davon nebst einer Flasche köstlichen Weins aus seinem Sacke, und während sie sich's trefflich schmecken ließen, vergaßen sie nicht, sich durch tausend leichtfertige Einfälle über die Leichtgläubigkeit des Königs von Cornwall und die Schwachheit seiner tugendreichen Gemahlin lustig zu machen. »Nun muß ich dir doch erzählen, lieber Gablitone«, sagte die schöne Spitzbübin, »wie ich es anfing, um die Tugend der guten Königin so kirre zu machen, daß ich Gelegenheit bekam, unsern Anschlag auszuführen.«

»Wie du das anfingst, Kasilde? So wie du in deiner Hofritter-Kleidung aussahest und bei allen deinen übrigen Gaben, welche Königin in der Welt hätte sich nicht von dir fangen lassen?«



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»Schmeichler! Die meinige zappelte noch im Garne so heftig, daß sie es beinahe zerrissen hätte. Meinen Verführungskünsten würde sie vielleicht widerstanden haben, aber die Eifersucht über die Buhlereien des Königs, die Langeweile, die Gelegenheit, eine gereizte Einbildungskraft und unbefriedigte Sinne kämpften für mich, und sie wurde endlich überwältigt, indem sie sich bis auf den letzten Augenblick wehrte.

Das Fest, das der König am Tage vor unsrer Entweichung gab, beförderte mein Glück nicht wenig. Ich verdoppelte die Lebhaftigkeit meiner Anfälle auf ihr Herz; Tanz und griechische Weine hatten ihr Blut erhitzt; eine gewisse Fröhlichkeit, der sie sich überließ, machte sie sorglos und zuversichtlich; sie tat, was sie noch nie getan hatte: Sie machte sich ein Spiel aus meiner Leidenschaft und verwickelte sich unvermerkt immer stärker, je weniger sie Gefahr zu sehen schien. Endlich wirkte das Opiat, das ich zu gehöriger Zeit in ihren Wein hineinpraktiziert hatte. Eine angenehme Mattigkeit überfiel ihre Sinne, ihre Augen funkelten lebhafter, aber ihre Knie erschlafften; sie schrieb es der Müdigkeit vom Tanze zu und begab sich in ihr Schlafgemach. Sobald ihre Jungfrauen sie zu Bette gebracht hatten, kamen sie in den Tanzsaal zurück, und ich schlich mich davon. Mabillje erschrak nicht wenig, da sie, schon halb eingeschlummert, mich vor ihrem Bette sah. Gleichwohl merkte ich, daß ich nicht ganz unerwartet kam und daß ein anderer an meinem Platze klüger getan hätte, etwas später zu kommen. Genug, die Delikatesse, womit ich vermöge der Vorteile meines Geschlechts meine vorgebliche Leidenschaft in diesen kritischen Augenblicken zu mäßigen wußte, ohne darum weniger zärtlich und feurig zu scheinen, gewann unvermerkt so viel über die gute Dame, daß ich mich, wenn der Schlaftrunk nicht so wirksam gewesen wäre, in keiner geringen Verlegenheit befunden haben würde. Aber er überwältigte sie gar bald unter so zärtlichen Liebkosungen, daß sie beim Erwachen sich vermutlich für viel strafbarer halten wird, als ich sie machen konnte; und dieses Kästchen von Ambra mit dem besten Teil ihres Geschmeides ist der



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Beweis, daß ich meine Zeit nicht mit Betrachtung ihrer schlummernden Reize verlor, wie vielleicht der weise Misfragmutosiris selbst an meinem Platze getan haben möchte.«

»Spitzbübin«, sagte Gablitone, indem er sie auf die Schulter klopfte; »jedes von uns war auf seinem gehörigen Posten: Du hast deine Rolle wie eine Meisterin gespielt, und weniger konnte ich auch nicht von dir erwarten, als ich dich beredete, das Theater zu Alexandria zu verlassen und mir den Plan ausführen zu helfen, der uns so glücklich gelungen ist. Wir haben nun genug, um künftig bloß unsre eigenen Personen zu spielen. Morgen soll uns ein Fischerboot nach Kleinbritannien hinüberbringen, und von dort wird es uns nicht an Gelegenheitfehlen, in unser Vaterland zurückzukehren. Inzwischen, schöne Kasilde, laß uns dem guten Beispiel unsers Esels folgen, der dort im Winkel eingeschlafen ist. Wir sind hier vor allen Nachsetzern sicher und bedürfen der Ruhe.«

Der königliche Esel war nichts weniger als eingeschlafen, wiewohl er sich so gestellt hatte. Der Verdruß, sich so schändlich hintergangen zu sehen, ein Augen- und Ohrenzeuge der Ränke und des glücklichen Erfolges der Betrüger und (was das ärgste war) selber aus einem König in einen Esel verwandelt zu sein, seine Feinde vor Augen zu sehen und sich nicht an ihnen rächen zu können, ja in seiner Eselsgestalt noch sogar selbst ein Werkzeug ihres Glückes gewesen zu sein, alles das schnürte ihm die Kehle so zusammen, daß er kaum noch atmen konnte. Aber eine andre Szene, die in alle Leidenschaften, welche in seinem Busen kochten, noch das Furiengift des Neides goß, setzte ihn auf einmal in solche Wut, daß er nicht länger von seinen Bewegungen Meister war.

Er sprang mit einem gräßlichen Geschrei von seinem Lager auf und über die beiden Glücklichen her, die sich einer solchen Ungezogenheit von ihrem Esel so wenig versehen hatten, daß sie etliche tüchtige Hufschläge davontrugen, ehe sie sich seiner erwehren konnten. Aber der Handel fiel doch zuletzt wie natürlich zum Nachteil des unglücklichen Königs aus; denn der ergrimmte Adept fand bald einen



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Knüttel, womit er einen so dichten Hagel von Schlägen auf den Kopf und Rücken des langohrigen Geschöpfes regnen ließ, daß es halb tot zu Boden fiel und zuletzt, nachdem jener auf inständiges Bitten der mitleidigen Kasilde seiner Rache endlich Grenzen setzte, in einem höchst kläglichen Zustande zur Höhle hinausgeschleppt wurde.

Der arme Mark war nunmehr auf einen Grad von Elend gebracht, wo der Tod das einzige zu sein scheint, was einem, der Mensch und ein König gewesen war, in einer solchen Lage noch zu wünschen übrig ist. Aber der mächtige Trieb der Selbsterhaltung ringt in jedem lebenden Wesen dem Tode bis zum letzten Hauch entgegen. Der gemißhandelte Esel kroch, so weit er konnte, von der verhaßten Höhle ins Gebüsch, und ein paar Stunden Ruhe, die freie Luft und etwas frische Weide, die er auf einem offnen Platze des Waldes fand, brachten ihn soweit, daß er mit Anbruch des Tages seine Beine wieder ziemlich munter heben konnte. Er lief den ganzen Tag in der Wildnis herum ohne einen andern Zweck, als sich von den Wohnungen der Menschen zu entfernen, in deren Dienstbarkeit zu geraten er nun für das einzige Unglück hielt, das ihm noch begegnen konnte; denn von Wölfen und anderen reißenden Tieren war das Land ziemlich gereinigt. So trabte er den ganzen Tag auf ungebahnten Pfaden daher, stillte seinen Hunger, so gut er konnte, trank, wenn er Durst hatte, aus einer Quelle oder Pfütze und schlief des Nachts in irgendeinem dicken Gebüsche, wiewohl ihn die Erinnerung an seinen vorigen Zustand wenig schlafen ließ. Das seltsamste bei dem allen war, daß er die unselige Grille, die ihm so teuer zu stehen kam, das Verlangen nach dem Besitze des Steins der Weisen, auch in seinem Eselsstande nicht aus dem Kopfe kriegen konnte. Den Tag über dachte er an nichts andres, und des Nachts träumte ihm von nichts anderm.

Der wohltätige Genius, der den Entschluß gefaßt hatte, ihn von dieser Torheit zu heilen, machte sich diese Disposition seines Gehirnes zunutze und wirkte durch einen Traum, was vielleicht die Vorstel



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lungen und Gründe aller Weisen des Erdbodens wachend nicht bei ihm bewirkt haben würden.

Ihm träumte, er sei noch König von Cornwall wie ehemals und stehe voll Unmut über einen mißlungenen Versuch an seinem chemischen Herde. Auf einmal sah er den schönen Jüngling wieder vor sich stehen, von welchem er den purpurroten Stein empfangen zu haben sich sehr wohl erinnerte. »König Mark«, sprach der Genius mit einer Stimme voll Ernstes zu ihm, »ich sehe, daß das Mittel, wodurch ich dich von deinem Wahnsinne zu heilen hoffte, nicht angeschlagen hat. Du verdienst, durch die Gewährung deiner Wünsche bestraft zu werden. Vergeblich würdest du bis ans Ende der Tage den Stein der Weisen suchen, denn es gibt keinen solchen Stein; aber nimm diese Lilie, und alles, was du mit ihr berührst, wird zu Golde werden.« Mit diesen Worten reichte ihm der Jüngling die Lilie dar und verschwand.

König Mark stand einen Augenblick zweifelhaft, ob er dem Geschenke trauen sollte; aber seine Neugier und sein Durst nach Golde überwogen bald alle Bedenklichkeiten: Er berührte einen Klumpen Blei, der vor ihm lag, mit der Lilie, und das Blei wurde zum feinsten Golde. Er wiederholte den Versuch an allem Blei und Kupfer, womit das Gewölbe angefüllt war, und immer mit dem nämlichen Erfolge. Er berührte endlich einen großen Haufen Kohlen; auch dieser wurde in einen ebenso großen Haufen Gold verwandelt. Die Wonnetrunkenheit des betörten Königs war unaussprechlich. Er ließ unverzüglich zwölf neue Münzhäuser errichten, wo man Tag und Nacht genug zu tun hatte, alles Gold, das er mit seiner Lilie machte, in Münzen aller Arten auszuprägen. Da in Träumen alles sehr schnell vonstatten geht, so befanden sich in kurzem alle Gewölbe seiner Burg mit mehr barem Gelde angefüllt, als jemals auf dem ganzen Erdboden im Umlauf gewesen ist. Nun, dachte Mark, ist die Welt mein. Er fragte sich selbst, was ihn gelüstete, und sein Gold verschaffte es ihm, es mochte noch so kostbar oder ausschweifend sein.



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Mit der Willkür, über eine unerschöpfliche Goldquelle zu gebieten, geriet er sehr natürlicher Weise in den Wahn, daß er alles vermöge: Er wollte also auch seine Wünsche ebenso schleunig ausgeführt wissen, als sie in ihm entstanden, und was er gebot, sollte auf den Sturz dastehen. Seine Untertanen zogen daher wenig Vorteil von dem unermeßlichen Aufwande, den er machte; denn er ließ ihnen keine Zeit, weder die zu seinen Unternehmungen nötigen Materialien herbeizuschaffen noch sie zu verarbeiten. Zudem fehlte es auch in seinem Lande an Künstlern; und zu warten, bis er durch seine Unterstützung welche erzogen hätte, konnte ihm gar nicht einfallen. Wozu hätte er das auch nötig gehabt? Es fanden sich Künstler und Arbeiter aus allen Enden der Welt bei ihm ein, und alle nur ersinnlichen Produkte und Waren wurden ihm aus Italien, Griechenland und Ägypten in unendlichem Überfluß zugeführt. Er ließ Berge abtragen, Täler ausfüllen, Seen austrocknen, schiffbare Kanäle graben; er führte herrliche Paläste auf, legte zauberische Gärten an, erfüllte diese und jene mit allen Reichtümern der Natur, mit allen Wundern der Künste, und das alles, sozusagen, wie man eine Hand umwendet. Die schönsten Weiber, die vollkommensten Virtuosen, die sinnreichsten Erfinder neuer Wollüste, alles, was jede seiner Leidenschaften, Gelüste und Launen reizen und befriedigen konnte, stand zu seinem Gebot. Er gab Turniere, Schauspiele und Gastmähler, wie man noch keine gesehen hatte, und verschwendete oft in einem Tage mehr Gold, als die reichsten Könige im ganzen Jahre einzunehmen hatten.

Bei all diesem zog die ungeheure Menge Gold, die er auf einmal in die Welt ergoß, einige sehr beträchtliche Unbequemlichkeiten nach sich. Die erste war, daß die Fremden, die aus allen Ländern der Welt herbeiströmten, ihm ihre Waren, ihre Köpfe, Hände oder Füße anzubieten, sobald sie von der Unerschöpflichkeit seiner Goldquelle benachrichtigt waren, ihre Preise in kurzer Zeit erst um hundert, dann um tausend, zuletzt um zehntausend Prozent steigerten. Alle Produkte des Kunstfleißes wurden so teuer, daß Gold hingegen we



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gen seines Überflusses so wohlfeil, daß es endlich ganz unfähig ward, als ein Zeichen des Wertes der Dinge im Handel und Wandel gebraucht zu werden. Aber bevor es soweit kam, zeigte sich eine noch weit schlimmere Folge der magischen Lilie, die in den Händen des Königs die Stelle des Steins der Weisen vertrat; denn während seine grenzenlose Hoffart, Üppigkeit und Verschwendung die halbe Welt mit Gold überschwemmte, verhungerte der größte Teil seiner eigenen Untertanen, weil ihnen beinahe alle Gelegenheit, etwas zu verdienen, abgeschnitten war. Ackerbau und Gewerbe lagen darnieder; denn wer hätte sich im Lande noch damit abgeben sollen, da man alle Notwendigkeiten und Überflüssigkeiten des Lebens in allen Häfen des Königreichs zu allen Zeiten in größrer Güte und Vollkommenheit haben konnte und da überdies alle hübschen jungen Leute vom Lande nur nach der Hauptstadt zu gehen brauchten, um tausend Gelegenheiten zu finden, durch Müßiggehen dort ein ganz anderes Glück zu machen, als sie an ihrem Orte durch Arbeit und Wirtschaft zu machen hoffen konnten?

König Mark, sobald er von der Not des Volkes Bericht erhielt, glaubte ein unfehlbares Mittel dagegen zu besitzen und säumte nicht, in allen Städten, Flecken und Dörfern des Landes so viel Gold austeilen zu lassen, daß sich der ärmste Tagelöhner auf einmal reicher sah, als es vormals sein Edelmann gewesen war. Mark glaubte dadurch dem Übel abgeholfen zu haben, aber er hatte aus Übel Ärger gemacht; denn nun hörte vollends aller Fleiß und alle häusliche Tugend auf: Jedermann wollte sich nur gute Tage machen, und in kurzem waren alle diese Reichtümer, die so wenig gekostet hatten, in Saus und Braus und unter den zügellosesten Ausschweifungen durchgebracht. Der König konnte nicht Gold genug machen, und wie es endlich seinen Wert gänzlich verlor, so stellte sich wieder der vorige Mangel ein, der aber nun durch die Erinnerung der goldnen Tage des Wohllebens desto unerträglicher fiel und unter einem Volke, das alles sittliche Gefühl und alle Scheu vor den Gesetzen verloren hatte, ein allgemeines Signal zu Raub, Mord und Aufruhr



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wurde. Der König, der sich und sein Volk vor lauter Reichtum in Bettler verwandelt sah, wußte sich nicht zu helfen; aber er hatte noch nicht alle Früchte seines wahnsinnigen Wunsches gekostet. Sie blieben nicht lange aus. Sein von allen Arten der Schwelgerei erschöpfter und zerrütteter Körper erlag endlich den übermäßigen Anstrengungen der Lüste; sein Magen hörte auf zu verdauen, seine Kräfte waren dahin, seine abgenützten Sinne taub für jeden Reiz des Vergnügens, scheußliche Krankheiten, von den empfindlichsten Schmerzen begleitet, rächten die gemißbrauchte Natur und ließen ihn in den besten Jahren seines Lebens alle Qualen einer langsamen Vernichtung fühlen.

In diesem Zustande merkte König Mark, daß es noch ein elenderes Geschöpf gebe als einen halbtot geprügelten Esel und daß dieses elendeste aller Geschöpfe ein König sei, dem irgendein feindseliger Dämon die Gabe, Gold zu machen gegeben, und der unsinnig genug habe sein können, ein so verderbliches Geschenk anzunehmen. Aber wie unbeschreiblich war dafür auch seine Freude, da er mitten in diesem peinvollen Zustand erwachte und im nämlichen Augenblicke fühlte, daß alles nur ein Traum und er selbst glücklicherweise der nämliche Esel sei wie zuvor! Er stellte jetzt in der lebhaften Spannung, die dieser Traum seinem Gehirne gegeben hatte, Betrachtungen an, wie sie vermutlich noch kein Geschöpf seiner Gattung vor ihm angestellt hat; und das Resultat davon war, daß er aus voller Überzeugung bei sich selbst festsetzte, lieber ewig ein Esel zu bleiben, als ein König ohne Kopf und ein Mensch ohne Herz zu sein. Während der Nutzanwendung, welche der königliche Esel aus seinem Traume zog, war der Morgen angebrochen, und wie er sich aufmachte, um die Gegend, in die er geraten war, ein wenig auszukundschaften, ward er am Fuß eines mit Tannen und Kiefern bewachsenen Felsens eine Art von Einsiedelei gewahr, um welche einige Ziegen herumkletterten und hier und da, wo sich zwischen den Spalten oder auf den flacheren Teilen des Felsens etwas Erde angesetzt hatte, ihre Nahrung suchten. Vor der Einsiedelei zog sich ein



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schmaler, sanft an den Felsen angelegter Hügel hin, wovon der Fleiß des Menschen, der auch die wildeste Gegend zu bezähmen weiß, einen Teil zu einem Küchengarten angebaut und den andern mit allerlei Arten von Obstbäumen bepflanzt hatte, die unter dem Schirme der benachbarten Berge sehr wohl zu gedeihen schienen und das romantische Ansehen dieser Wildnis vermehrten. Indem der gute Mark ziemlich nahe, aber von einem dünnen Gesträuche bedeckt, alles dies mit einigem Vergnügen betrachtete, sah er eine Magd mit einem großen Krug auf dem Kopf aus der Hütte herausgehen, um an einer Quelle, welche fünfzig Schritte davon aus dem Felsen hervorsprudelte, Wasser zu holen. Sie schien eine Person von vierundzwanzig Jahren zu sein, wohigebildet, schlank, etwas bräunlich, aber dem Ansehen nach von blühender Gesundheit und munterm, gutlaunigem Wesen, wie Mark, der jetzt seine Menschheit wieder fühlte, aus ihrem leichten Gange und einem Liedchen, das sie vor sich herträllerte, zu erkennen glaubte. Sie ging in einem leichten, aber reinlichen bäurischen Anzuge daher, ohne Halstuch, die Haare in einen Wulst zusammengebunden, und indem sie sich im Vorbeigehen bückte, um eine frisch aufgeblühte Rose zu brechen und vorzustecken, hatte er einen Augenblick Gelegenheit, eine Bemerkung zu machen, die den Hofbusen, an die er gewöhnt war, wenig schmeichelte. Das Wenige, was ihn ein nicht allzu langer Rock von ihrem Fuße sehen ließ, bestärkte ihn vollends in der günstigen Meinung, die er nach diesem Muster von den Töchtern der kunstlosen Natur zu fassen anfing. Aber mit allen diesen Bemerkungen ward auch der Verdruß über seine gegenwärtige Gestalt wieder so lebhaft, daß er Kopf und Ohren voll Verzweiflung sinken ließ und (was noch nie ein Esel getan hat, noch jemals tun wird) mit dem Gedanken umging, sich von einem der benachbarten Felsen in die Schlucht herabzustürzen. Er entfernte sich mit einem schweren Seufzer von dem Orte, wo er ein so schmerzliches Gefühl seiner zur Hälfte verlornen Menschheit bekommen hatte, und war im Begriff, den Gedanken der Verzweiflung auszuführen, als ihm unversehens eine aus dem



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Grase emporprangende Lilie in die Augen fiel. Ihn schauderte vor ihrem Anblick, aber zu gleicher Zeit wandelte ihn eine so starke Begierde an, diese Lilie aufzuessen, daß er sich dessen nicht enthalten konnte. Kaum hatte er sie mit Blume und Stengel hinabgeschlungen, o Wunder!, so verschwand seine verhaßte Eselsgestalt, und er fand sich in einen wohlgewachsenen, nervigen, von Kraft und Gesundheit strotzenden Bauernkerl von dreißig Jahren verwandelt, der (außerdem, was in der menschlichen Bildung allgemein ist) mit dem, was er sich erinnerte vor seiner ersten Verwandlung gewesen zu sein, wenig Ähnliches hatte. Das Sonderbarste dabei war, daß er mit dem völligsten Bewußtsein, noch vor wenig Tagen Mark, König von Cornwall, gewesen zu sein, und mit deutlicher Erinnerung aller Torheiten, die er in dieser Periode seines Lebens begangen, eine ganz andere Vorstellungsart in seinem Gehirn eingerichtet fand, eine ganz andre Art von Herz in seinem Busen schlagen fühlte und an Leib und Seele bei diesem Tausche stark gewonnen zu haben glaubte.

Man kann sich einbilden, wie groß seine Freude über eine so unverhoffte Veränderung war. Er dachte mit Schaudern daran, was sein Schicksal hätte sein können, wenn er wieder König Mark geworden wäre, und so lebhaft war der Eindruck, den er von seinem Traume noch in seiner Seele fand, daß ihn däuchte, wenn er wählen müßte, er wollte lieber wieder zum Esel als zum König Mark von Cornwall werden.

Unter diesen Gedanken befand er sich unvermerkt wieder vor der Hütte, aus welcher er die Frauensperson mit dem Krug auf dem Kopfe hatte herausgehen sehen. Ihm war, als ob ihn eine unsichtbare Gewalt nach der Hütte hinzöge. Er ging hinein und fand einen steinalten Mann mit einem eisgrauen Bart in einem Lehnstuhle und gegenüber ein zusammengeschrumpftes Mütterchen an einem Spinnrocken sitzen. Beim Anblick des eisgrauen Bartes wandelte ihn eine Erinnerung an, die ihn einen Schritt zurückwarf; aber alles übrige in dem Gesichte des alten Mannes paßte so gut zu diesem



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ehrwürdigen Barte und flößte zugleich so viel Ehrfurcht und Liebe ein, daß er sich augenblicklich wieder faßte und die ehrwürdigen Bewohner dieser einsamen Hütte um Vergebung bat, daß er ohne Erlaubnis bei ihnen eingedrungen sei.

»Ich irre«, sprach er, »durch einen Zufall, der mich aus meinem Wege warf, schon zwei Tage in dieser wilden Gegend herum, und meine Freude, endlich eine Spur von Menschen darin anzutreffen, war so groß, daß es mir unmöglich gewesen wäre, vorbeizugehen, ohne die Bewohner dieser Hütte zu grüßen, wenn mich auch kein anderes Bedürfnis dazu getrieben hätte.«Die beiden alten Leutchen hießen ihn freundlich willkommen, und da die Magd inzwischen ihr Frühstück hereingebracht hatte, nötigten sie ihn, sich zu ihnen zu setzen und mitzuessen. In kurzem wurden sie so gute Freunde, daß Mark, der sich den Namen Silvester gab, sich aufgemuntert fühlte, ihnen seine Dienste anzubieten. »Ich bin«, sprach er, »ein rüstiger junger Mann, wie Ihr seht; Ihr seid alt, und die junge Frauensperson hier mag doch wohl einen Gehilfen zur Beschickung dessen, was das Haus erfordert, nötig haben, wiewohl sie flink und von gutem Willen scheint. Ich habe Lust und Kräfte zum Arbeiten: Wenn Ihr mich annehmen wollt, so will ich alle Arbeit, die einen männlichen Arm erfordert, übernehmen und Euch in Ehren halten wie meine leiblichen Eltern.«

Die Magd, die inzwischen ab- und zugegangen war und den Fremden seitwärts, wenn sie nicht bemerkt zu werden glaubte, mit Aufmerksamkeit betrachtete, errötete bei dieser Erklärung, schien aber vergnügt darüber zu sein, wiewohl sie tat, als ob sie nicht zugehört hätte, und ungesäumt wieder an ihre Arbeit ging.

Die Alten nahmen das Erbieten des jungen Mannes mit Vergnügen an, und Silvester, der in einem Schuppen neben der Wohnung das nötige Feld- und Gartengerät fand, installierte sich noch an demselben Tage in seinem neuen Amte, indem er rings um die Wohnung alle noch unbepflanzten Plätze auszustocken und umzugraben anfing, um sie teils zu Kohl- und Rübenland, teils zum Anbau des nötigen



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Getreides zuzurichten. Diese Arbeit beschäftigte ihn mehrere Wochen, und wie er damit fertig war, fing er an, einen Keller in den Felsen zu hauen, und brachte alle Zeit damit zu, die ihm die Gartenund Feldarbeit übrigließ. Das alte Paar gewann ihn so lieb, als ob er ihr leiblicher Sohn gewesen wäre, und er fühlte sich alle Tage glücklicher bei einer Lebensart, die ihm so leicht und bekannt vorkam, als ob er dazu geboren und erzogen gewesen wäre. Nie hatte ihm als König Essen und Trinken so gut geschmeckt, denn ihn hatte nie gehungert noch gedürstet; nie hatte er so wohl geschlafen, denn er hatte sich nie müde gearbeitet noch sich mit so ruhigem Herzen niedergelegt, nie war er zu den Lustbarkeiten des Tages so fröhlich aufgestanden als jetzt zu mühsamer Arbeit; nie hatte er das angenehme Gefühl, nützlich zu sein, gekannt; kurz, nie hatte er solche Freude an seinem Dasein, solche Ruhe in seinem Gemüt und so viel Wohlwollen und Teilnehmung an den Menschen, mit denen er lebte, empfunden; denn nun war er selbst ein Mensch und nichts als ein Mensch, und wie hätte er das sein können, als er König und, was noch ärger ist, ein törichter und lasterhafter König war?

Mittlerweile hatten Silvester und die junge Frauensperson, die sich Rosine nannte, täglich so manche Gelegenheit, sich zu sehen, daß es in ihrer Lage ein gewaltiger Bruch in die Naturgesetze gewesen wäre, wenn die Sympathie, welche sich schon in der ersten Stunde bei ihnen zu regen anfing, nicht zu einer gegenseitigen Freundschaft hätte werden sollen, die in kurzem alle Kennzeichen der Liebe hatte und, ungeachtet sie einander noch kein Wort davon gesagt, sich auf so vielfältige Art verriet, daß das Einverständnis ihrer Herzen und Sinne keinem von beiden ein Geheimnis war. Endlich kam es an einem schönen Sommerabend zur Sprache, da sie im Walde, er bei der Beschäftigung, dürres Reisholz zusammenzubinden, sie, indem sie junges Laub für ihre Ziegen abstreifte, wie von ungefähr zusammenkamen. Anfangs war der Kreis, innerhalb dessen sie in der Entfernung eines ganzen Durchmessers arbeiteten, ziemlich groß, aber er wurde unvermerkt immer kleiner und kleiner, und so geschah



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es zuletzt, daß sie, ohne daß es eben ihre Absicht zu sein schien, sich nahe genug beisammen fanden, um während der Arbeit ein freundliches Wort zusammen zu schwatzen. Die Wärme des Tages und die Bewegung hatten Rosinens bräunlichen Wangen eine so lebhafte Röte und, ich weiß nicht, was andres, das ihren Busen aus seinen Windeln zu drängen schien, ihren Augen einen so lieblichen Glanz gegeben, daß Silvester sich nicht erwehren konnte, vor ihr stehenzubleiben und sie mit einer Sehnsucht zu betrachten, die den beredtesten Liebesantrag wert war.

Rosine war vierundzwanzig Jahre alt und eine unverfälschte Tochter der Natur. Sie stellte sich nicht, als ob sie nicht merke, was in ihm vorging, noch fiel es ihr ein, ihm verbergen zu wollen, daß sie ebenso gerührt war wie er. So entschloß Rosine sich, ihm freundlich ins Gesicht zu schauen. Dabei errötete sie, schlug die Augen nieder und seufzte. »Liebe Rosine«, sagte Silvester, indem er sie bei der Hand nahm, und konnte kein Wort weiter herausbringen, so voll war ihm das Herz.

»Ich merke schon lange«, sagte Rosine nach einer ziemlichen Pause mit leiserer Stimme, »daß du - mir gut bist, Silvester.«

»Daß ich dir gut bin, Rosine? Was in der Welt wollt ich nicht für dich tun und für dich leiden, um dir zu zeigen, wie gut ich dir bin!« rief Silvester und drückte ihr die Hand stark genug an sein Herz, daß sie sein Schlagen fühlen konnte.

»So ist mir's auch«, versetzte Rosine, »aber . . .«

»Aber was? Warum dies Aber, wenn ich dir nicht zuwider bin, wie du sagst?«

»Ich weiß nicht, was ich dir antworten soll, Silvester: Ich bin dir herzlich gut, ich wollte lieber dein sein, als die vornehmste Frau in der Welt heißen -aber -mir ist, es werde nicht angehen können.«

»Und warum sollte es nicht angehen können, da wir uns beide gut sind?«

»Weil es - eine gar besondere Sache mit mir ist«, sagte Rosine stockend.



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»Wieso, Rosine?«fragte Silvester, indem er ihre Hand erschrocken fahrenließ.

»Du wirst mir's nicht glauben, wenn ich dir's sage.«

»Ich will dir alles glauben, liebe Rosine, rede nur!«

»Ich bin nur zwei Tage, ehe ich dich zum ersten Male sah, eine - rosenfarbne Ziege gewesen.«

»Eine rosenfarbne Ziege? —Doch wenn's nichts weiter ist als dies, so haben wir einander nichts vorzuwerfen, liebes Mädchen; denn um eben dieselbe Zeit war ich, mit Respekt, ein Esel.«

»Ein Esel!« rief Rosine ebenso erstaunt wie er; »das ist sonderbar! Aber wie ging das zu, daß du es wurdest und daß du nun wieder Mensch bist?«

»Mir erschien in einem Augenblicke, da ich mir aus Verzweiflung das Leben nehmen wollte, ein wunderschöner Jüngling mit einer Lilie in der Hand, gab mir einen Stein, mit welchem ich mich bestreichen sollte, und sagte mir, dies würde mich glücklich machen. Ich bestrich mich mit dem Stein und wurde zum Esel.«

»Erstaunlich!«sprach Rosine. »Mir erschien, da ich mir eben vor Herzeleid alle Haare aus dem Kopfe raufen wollte, eine wunderschöne Dame mit einer Rosenkrone auf der Stirne. Sie gab mir eine von diesen Rosen. >Stecke sie vor den Busen<, sagte sie, >so wirst du glücklicher werden, als du jemals gewesen bist.< Ich gehorchte ihr und wurde stracks in eine rosenfarbne Ziege verwandelt.«

»Wunderbar! Aber wie kam es, daß du wieder Rosine wurdest?« »Ich irrte beinahe einen ganzen Tag in Wäldern und Gebirgen herum, bis ich von ungefähr in diese Wildnis und an die Hütte der beiden Alten kam. Nicht weit davon, am Fußsteige, der nach der Quelle führt, erblickte ich einen großen Rosenstrauch. Da wandelte mich eine unwiderstehliche Begierde an, von diesen Rosen zu essen, und kaum hatte ich das erste Blatt hinabgeschluckt, so war ich, wie du mich hier siehest, aber nicht, was ich zuvor gewesen war.«

»Mir ging's gerade ebenso«, erwiderte Silvester. »Ich fand eine Lilie dort im Walde; mich kam eine unwiderstehliche Begierde an, sie zu



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verschlingen, und da ward ich, was du siehest und was ich vorher nicht gewesen war. Es ist eine wunderbare Ähnlichkeit in unsrer Geschichte, liebe Rosine. Aber was warst du denn vorher, ehe du in eine Ziege verwandelt wurdest?«

»Die unglücklichste Person von der Welt. Ein Betrüger, der sich durch die feinste Verstellung in meine Gunst eingeschlichen hatte, fand, ich weiß nicht wie, ein Mittel, sich in mein Schlafzimmer zu schleichen und machte sich mit allen meinen Juwelen aus dem Staube.

»Immer wunderbarer!« rief Silvester. »Ein andrer Betrüger spielte ungefähr die nämliche Geschichte mit mir; er machte mir weis, er besitze ein Geheimnis, mich zum reichsten Mann in der Welt zu machen; aber es war ein Mittel, mich um den Wert einiger Tonnen Goldes zu prellen und damit unsichtbar zu werden. Aber demnach müssen wir, wie es scheint, alle beide sehr vornehme Leute gewesen sein?«

»Du kannst mir's glauben oder nicht, aber ich war wirklich eine Königin.

»Desto besser, liebste Rosine!« rief Silvester. »So kannst du mich ohne Bedenken heiraten; denn ich selbst war auch nichts Geringeres als ein König.«

»Seltsam genug, wenn es dein Ernst ist! — Aber . . .«

»Wie, Rosine? Schon wieder ein Aber, da ich's mir am wenigsten versehen hätte?«

»Du kannst mich nicht heiraten, mein Gemahl ist noch am Leben.«

»Die Wahrheit zu sagen, ich fürchte, dies ist auch bei mir der Fall.«

»Du liebtest also deine Gemahlin nicht?«

»Sie war eine ganz hübsche Frau, wiewohl bei weitem nicht so hübsch wie du. Aber was willst du? Ich war ein König und in der Tat keiner von den besten. Ich liebte die Veränderung; meine Gemahlin war mir zu einförmig, zu zärtlich, zu tugendhaft und zu eifersüchtig. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr sie mir mit allen diesen Eigenschaften zur Last war.«



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»So warst du ja um kein Haar besser als der König, dessen Gemahlin ich war, als ich noch die Königin Mabillje hieß!«

»Wie, Rosine, dein Gemahl war der König Mark von Cornwall?« fragte Silvester ungläubig.

»Nicht anders«, sagte Rosine.

»Und der schöne junge Ritter, der sich in dein Schlafzimmer schlich und dir deine Juwelen stahl, nannte sich Floribell von Nikomedien?«

»Himmel!« rief Rosine bestürzt. »Wie kannst du das alles wissen, wenn du nicht. . . «

»Mein Mann selber bist?« fiel ihr Silvester ins Wort, indem er ihr zugleich um den Hals fiel. »Das bin ich, liebste Rosine oder Mabillje, wenn du dich lieber so nennen hörst; und wenn du mir als Silvester nur halb so gut sein kannst, wie ich dir als Rosine bin, so haben der Jüngling mit dem Lilienstengel und die Dame mit der Rosenkrone ihr Wort treulich gehalten.«

»O wie gerne wollt ich nichts als Rosine für dich sein! Armer, armer Silvester«, sprach sie weinend, indem sie sich aus seinen Armen wand, »ich fürchte, ich bin deiner nicht mehr wert. Zwar mit meinem Willen geschah es nicht; aber der Bösewicht muß Zauberei gebraucht haben. Denn es überfiel mich ein natürlicher Schlaf leider gerade, da ich aller meiner Kräfte am nötigsten hatte, um mich von ihm loszumachen; und was kann ich anders besorgen, als daß er sich

»Über diesen Punkt kannst du ruhig sein«, sagte Silvester lachend; »dein Bösewicht war ein verkleidetes Mädchen, eine Tänzerin von Alexandrien, die sich mit dem Goldmacher Misfragmutosiris heimlich verbunden hatte, uns in Gesellschaft zu bestehlen. Ein glücklicher Zufall brachte mich, da ich noch ein Esel war, in die Höhle, wohin sie sich mit ihrer Beute flüchteten, und ich hörte alles aus ihrem eigenen Munde.«

»Wenn dies ist«, sprach Rosine, indem sie sich in seine Arme warf, »so bin ich das glücklichste Geschöpf, solange du Silvester bleibst . . .«



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»Und ich der glücklichste aller Männer, wenn du nie aufhörst, Rosine zu sein.«

»Seid ihr das?«hörten sie zwei bekannte Stimmen sagen; und als sie sich umsahen, wie erschraken sie, den Greis mit dem eisgrauen Bart und das gute alte Mütterchen vor sich zu sehen!

Silvester wollte eben eine Entschuldigung vorbringen, aber bevor er noch zu Worte kommen konnte, verwandelte sich der Greis in den Jüngling mit dem Lilienstengel und das Mütterchen in die Dame mit der Rosenkrone. »Ihr seht«, sprach der schöne Jüngling, »diejenigen wieder, die es auf sich nahmen, euch glücklich zu machen, als ihr euch für die unglücklichsten aller Wesen hieltet, und ihr seht uns zum letzten Male. Noch steht es in eurer Willkür, ob ihr wieder werden wollt, was ihr vor eurer Verwandlung waret, oder ob ihr Silvester und Rosine bleiben wollt. Wählet!«

»Laßt uns bleiben, was wir sind«, riefen sie aus einem Munde, indem sie sich den himmlischen Wesen zu Füßen warfen; »der Himmel bewahre uns, einen andern Wunsch zu haben!«

»So haben wir unser Wort gehalten«, sprach die Dame, »und ihr habt in dieser Wildnis den Stein der Weisen gefunden!«

Mit diesen Worten verschwanden die beiden Geister, und Silvester und Rosine eilten beim lieblichen Scheine des Mondes Arm in Arm nach ihrer Hütte zurück.


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