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Deutsche Kinder- und Hausmärchen


Illustrationen von Sigrid Witzig

Märchen europäischer Völker


Das Erdkühlein

Ein guter armer Mann hatte ein Frau und von ihr zwei Töchterlein, und ehe diese Kindlein, deren das kleinere Margaretlein und das größere Annelein hieß, erwachsen waren, starb ihm die Frau, und er nahm eine andere. Nun warf diese Frau einen Neid auf das Margaretlein und hätte gerne gewollt, daß es tot wäre gewesen, doch es selbst umzubringen däuchte sie nicht gut, und so zog sie mit Listen das ältere Maidlein an sich, daß es ihr hold und der Schwester feind ward.

Und einmal begab sich, daß die Mutter und die ältere Tochter beieinander saßen und beratschlagten, wie sie ihm doch tun wollten, daß sie des Maidleins abkämen, und beschlossen endlich, daß sie miteinander wollten in den Wald gehen und das Maidlein mitnehmen, und in dem Wald wollten sie das Maidlein verschicken, daß es nicht mehr zu ihnen kommen könnte.

Nun stand das Maidlein vor der Stubentür und hörte alle die Worte, so seine Mutter und Schwester wider es redeten und Ursach zu seinem Tod suchten; da war es sehr betrübt, ohn alle Ursach so jämmerlich zu sterben und von den Wölfen zerrissen zu werden. Und also betrübt ging es zu seiner Dotten oder Göttel, die es aus der Taufe gehoben hatte, und klagte ihr die große Untreu und das mörderische Urteil, so über sie von der Schwester und Mutter geschehen. »Nun wohlan«, sprach die gute alte Frau, »mein liebes Kind, dieweil dein Sach ein solche Gestalt hat, so gehe hin und nimm Sägemehl



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und, wenn du deiner Mutter nachgehst, streue es vor dir anhin! Laufen sie hernach schon vor dir, so geh du der selbigen Spur nach, so kommst du wieder heim.«

Die gute Tochter tat, wie ihr die alte Frau befohlen hatte. Und wie sie hinaus in den Wald kamen, setzte sich ihre Mutter nieder und sagte zum ältern Maidlein: »Komm her, Annelein, und such mir ein Laus! So geht dieweil das Gretlein hin und klaubt uns drei Bürden Holz; so wollen wir hier seiner warten, danach gehn wir miteinander heim.«

Nun das gute arme Töchterlein zog hin und streute vor sich anhin das Sägemehl (denn es wußte wohl, wie es ihm gehen würde) und sammelte drei Bürden Holz. Und als es diese gesammelt, nahm es sie auf den Kopf und trug sie an das Ende, da es seine Stiefmutter und Schwester gelassen hatte. Als es aber hin kam, fand es sie nicht; es behielt doch seine drei Büschlein auf dem Kopf, zog seinem gemachten Weg nach wieder heim und warf die drei Büschlein ab. Und als es die Mutter sah, sprach sie zum Maidlein: »Annelein, unsere Tochter ist wiedergekommen, und all unsere Kunst ist umsonst gewesen. Drum wollen wir morgen an eine andere Stelle gehen und das Maidlein wieder von uns schicken; so wird es nicht mehr mögen heimkommen, dann sind wir hernach sein ledig.«

Nun hatte das gute Margretlein diese Wort abermals gehört, lief wieder zu seiner Göttel und zeigte ihr die Handlung an. »Wohlan«, sprach die Frau, »ich sehe wohl, daß sie dir nach deinem Leben stellen und nicht Ruh haben werden, bis sie dich umbringen. Darum so geh jetzt hin und nimm Spreu und streu diese abermals vor dir hin, wie du mit dem Sägemehl getan hast! So kannst du wieder heimkommen.«

Als nun das Maidlein wieder heim kam, sagte seine Mutter: »Kommet her, Gretlein und Annelein! Wir wollen in den Wald gehn.«Das ältere Maidlein, als das um alle Sach gar wohl wußte, auch Hilfe und Rat dazu getan hatte, zog ganz fröhlich, Gretlein dagegen ganz traurig hinaus. Und als sie in den Wald kamen, setzte sich die böse, arglistige,



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zernichtige Frau nieder und sagte zum Annelein: »Komm her, Annelein, und fang mir ein Laus! Da geht das Gretlein hin und sucht dieweil jeglichem eine Bürde Holz; danach gehn wir wieder heim.« Das arme Gretlein ging hin und suchte Holz, und ehe es wieder kam, waren Mutter und Schwester hinweg. Nun ging das gute Gretlein mit seinem Holz der Spreu nach, bis es wieder daheim ankam. Und als es von seiner Mutter gesehen ward, sagte diese zum Annelein: »Unser elend Maidlein kommt wieder. Nun wollen wir sehen, wie wir sein abkommen, und sollt es uns auch etwas Großes kosten. Und wir wollen morgen wieder in den Wald; da wollen wir sehen, daß es dahinten bleib.«

Solche Rede hatte das Maidlein abermals gehört und ging zum drittenmal zu seiner Basen, fragte um Rat, was es tun sollte. »Nun wohlan, liebs Kind«, sagte die Frau, »so geh hin und nimm Hanfsamen, säe den vor dir anhin, darnach geh dem selbigen nach wieder heim!«

Das gute Maidlein zog abermals mit seiner Mutter und Schwester in den Wald und säte den Hanfsamen vor sich hin. Nun sagte die Mutter abermals, wie sie schon zweimal gesagt hatte: »Annelein, such mir ein Laus! So muß das Gretlein Holz suchen.«

Das arme Gretlein zog hin und suchte Holz, gedachte dabei: Bin ich vor zweimal wieder heim kommen, so will ich das drittmal auch wieder heim kommen. Und als es das Holz gesucht hatte und wieder zu der Stelle kam, da es seine Mutter gelassen, waren sie abermals hinweg. Und als das arme Maidlein seinem Weg nach wollte heimgehn, da hatten die Vögel den Samen allensammen aufgefressen. Ach Gott, wer war da trauriger denn das arme Maidlein! Es lief den ganzen Tag im Wald herum mit Weinen und Schreien und Gott sein Leid klagen, konnte keinen Weg finden, der es möchte aus dem Wald bringen, war auch in den Wald so fern hinein kommen, da ohne Zweifel nie kein Mensch gewesen. Als nun der Abend herzu kam und das arme verlassene Maidlein an aller Hilf verzweifelt hatte, stieg es auf einen sehr hohen Baum, um auszuschauen, ob es



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doch irgendwo eine Stadt, ein Dorf oder Haus erkennen möchte, darein es ginge, damit es nicht also jämmerlich den wilden Tieren zur Speis gegeben würde. In solchem Umsehen begab sich, daß es ein kleines Räuchlein erspähte; stieg behende ab von dem Baum und ging demselbigen Rauch zu und kam in wenig Stunden an die Stelle, von da dann der Rauch ausging. Das war ein kleines Häuslein, darin niemand wohnte denn nur ein Erdkühlein.

Das Maidlein kam vors Türlein, klopfte an und begehrte, man möge es einlassen. Das Erdkühlein antwortete: »Ich lass' dich wahrlich nicht herein, du versprichst mir denn, dein Lebtag bei mir zu bleiben und mich nimmermehr zu bereden und zu verraten!« Das gelobte ihm das Maidlein, und alsbald ward es von dem Erdkühlein eingelassen. Und das Erdkühlein sagte: »Wohlan, du darfst nichts tun, als mich des Abends und Morgens melken. Darnach issest du die selbige Milch von mir, so will ich dir Seiden und Sammet genug zutragen: davon mach dir schöne Kleider, wie du sie begehrest! Gedenk aber und siehe, daß du mich nicht verratest! Wann schon deine eigne Schwester zu dir kommt, so laß sie nicht herein, damit ich nicht verraten werd, daß ich an diesem End sei! Sonst hätt ich das Leben verloren.«

Dann ging es nach solchen Worten an seine Weide und brachte dem Maidlein des Abends, wann es heim kam, Seiden und Sammet, davon sich das gute Gretlein so schön kleidete, daß es sich wohl einer Fürstin hätte vergleichen mögen.

Als sie nun bis in das andere Jahr also beieinander gewesen waren, begab es sich, daß dem größern Maidlein, so daheim blieben war und das junge Gretlein, sein Schwesterlein, ohn alle Schuld hatte helfen in das Elend verjagen, in Gedanken darüber kam, wie es wohl seinem Schwesterlein gehen möge, das sie hatte helfen ins Elend verjagen; es hub kläglich an zu weinen und die große Untreu zu bedenken, die sie ihr ohn alle Schuld bewiesen hatte, kam in Summa in ein solche Reue, daß sie nicht mehr bleiben konnte oder mochte, sondern sehen wollte, ob sie doch irgendein Beinlein von ihrem Schwesterlein



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finden möchte, damit sie das selbige heim trüge und es in Ehren hielte.

Und eines Tags ging sie morgens früh hinaus in den Wald und suchte und trieb solch Suchen mit kläglichem Weinen so lang, bis sie sich im Wald ganz und gar verlaufen und verirret hatte und nun die finstere Nacht ihr auf dem Hals lag. Wer war da trauriger denn das Annelein? Da mußte es gedenken, daß es solches wohl an seiner Schwester verdient hatte, weinte kläglich, rief Gott um Gnad und Verzeihung an und bat. Doch war da nicht lang zu warten oder zu klagen, sondern sie stieg zunächst auf einen sehr hohen Baum, zu besichtigen, ob es doch irgendein Haus sehen möchte, darin es über Nacht bliebe, damit es nicht also jämmerlich von den wilden Tieren zerrissen würde. Und in solchem Umsehen ersah es einen Rauch aus dem Häuslein gehn, darin seine Schwester war; von Stund an ging sie dem Haus zu und meinte nicht anders, denn daß es eines Hirten oder Waldbruders Häuslein wäre.

Und als es zu dem Haus kam, klopfte es an; wo es bald von seiner Schwester, wer da wäre, gefragt ward. »Ei«, sprach das Annelein, »ich bin ein armes Maidlein und im Wald verirret und bitte, daß man mich durch Gottes Willen über Nacht behalte.« Das Gretlein sah durch ein Spältlein hinaus und erkannte, daß es seine untreue Schwester war, hub bald an und sprach: »Wahrlich, liebs Maidlein, ich darf dich nicht herein lassen; denn es ist mir verboten. Wann sonst mein Herr käm und ich jemand Fremdes hätte einher gelassen, so würde er mich schlagen. Drum ziehe fort.« Das arme Maidlein wollte sich nicht lassen abreden noch vertreiben, sondern lag mit Bitten seinem unerkannten Schwesterlein an, daß es ihm die Tür auftäte und es hinein ließ.

Und als es hinein kam, erkannte es seine Schwester, fing an heiß zu weinen und Gott zu loben, daß es sie noch lebendig gefunden hatte, fiel nieder auf seine Knie und bat sie, daß sie ihm verzeihen möge alles das, so es wider sie getan. Darnach bat sie freundlich, daß sie ihr doch sagen möge, wer bei ihr wär, daß sie so schön und wohl



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gekleidet ginge. Das gute Gretlein, dem verboten war, zu sagen, bei wem es wäre, erfand mancherlei Ausred; einmal sagte es, es wäre bei einem Wolf, das andermal, bei einem Bären. Welches alles das Annelein nicht glauben wollte und dem Gretlein, seinem Schwesterlein, süß zuredete, ihr die Wahrheit zu sagen. Und das Maidlein war nun auch (wie denn aller Weiber Brauch und Gewohnheit ist, daß sie mehr schwätzen, als ihnen befohlen ist) sehr geschwätzig und sagte zu seinem Schwesterlein: »Ich bin bei einem Erdkühlein. Aber lug, verrat mich nicht!«

Als solches das Annelein gehört, welches seiner Untreu an der Schwester noch kein Genügen getan hatte, sagte es: »Wohlan, führ mich wieder auf den rechten Weg, damit ich heim komme!« Das tat das Gretlein bald. Und da mein guts Annelein heim kam, sagte es seiner Mutter, wie sie ihre Schwester bei einem Erdkühlein gefunden hätte und wie die so köstlich gekleidet ginge. »Wohlan«, sprach die Mutter, »so wollen wir die zukünftig Wochen hinaus ziehen und das Erdkühlein samt dem Gretlein heim führen; so wollen wir das Kühlein metzgen und essen.«

Alles das wußt das Erdkühlein wohl, und als es des Abends spät heim kam, sagt es weinend zum Maidlein: »Ach, ach, mein allerliebsts Gretlein, was hast du getan, daß du dein falsche Schwester hast eingelassen und ihr gesagt, bei wem du bist? Und nun siehe, deine zernichte Mutter und Schwester werden die zukünftige Woche heraus kommen und mich und dich heim führen. Mich werden sie metzgen und essen, dich aber bei sich behalten, wo du übler gehalten werden wirst denn zuvor.«

Nach solchen Reden stellte sich das Erdkühlein so kläglich, daß das arme Maidlein anfing zu weinen und vor Traurigkeit zu sterben vermeinte und bitter bereute, daß es seine Schwester hatte eingelassen. Doch tröstete es das Erdkühlein und sprach: »Nun wohlan, liebs Maidlein, dieweil es je geschehen ist, so kann es nicht wieder zurückgetrieben werden. Darum tu ihm also: Wann mich der Metzger jetzt geschlagen hat, so stehe und weine! Wann er dich dann fragt,



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was du willst, so sprich: >Ich wollt gern meins Kühleins Schwanz.< Den wird er dir geben. Wann du den hast, so fang aber an zu weinen und begehre das eine Horn von mir! Wann du das selbige auch hast, so weine aber! Wann man dich dann fragt, was du willst, so sprich: >Ich wollt gern meins Kühleins Schühlein.<Wann du das hast, so geh hin und setz den Schwanz in die Erden, auf den Schwanz das Horn, und auf das Horn setz das Schühlein und geh nicht wieder hinzu bis an den dritten Tag! Und am dritten Tag wird ein Baum daraus worden sein; er wird Sommer und Winter die schönsten Äpfel tragen. Und niemand wird sie können abbrechen denn du allein, und durch den selbigen Baum wirst du zu einer großen mächtigen Frauen werden.«

Als man nun das Kühlem geschlachtet, stund das Margaretlein und begehret die Ding alle, wie ihm sein Kühlem befohlen hatte, und die wurden ihm auch gegeben. Und es ging hin, stecket's in die Erden, und am dritten Tag war ein schöner Baum daraus gewachsen. Nun begab es sich, daß ein gewaltiger Herr vorbei ritte; der selbige führte seinen Sohn mit sich, der das Fieber oder kalte Wehe hatte. Und als der Sohn die schönen Äpfel sah, sprach er: »Mein Herr Vater, lasset mir Äpfel bringen von diesem Baum; mir ist, ich würde gesund davon werden.« Von Stund an rief der Herr, man sollt ihm Äpfel bringen, er wollt sie teuer genug bezahlen.

Die ältere Tochter ging zunächst zum Baum und wollte Äpfel davon brechen. Da zogen sich die Äst alle zusammen in die Höhe, also daß sie keinen erlangen konnte. Da rief sie der Mutter und sprach, sie sollte Äpfel abbrechen und sie dem Herrn geben; als aber die arge Frau Äpfel abbrechen wollt, zogen sich die Äst noch viel höher auf. Der Herr hatte das alles wohl gesehen und verwunderte sich heftig. Und zuletzt kam das Margretlein zum Baum, Äpfel zu brechen, zu dem sich die Äste neigten und es willig Äpfel abbrechen ließen; das verwunderte den Herren noch viel mehr, und er meinte, sie wäre vielleicht ein heilige Frau, rief sie und fragte sie des Wunders. Dem erzählte die gute Tochter die ganze Handlung, was sich ihrer Mutter,



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Schwester und des Erdkühleins halber begeben hatte, von Anfang bis zu End.

Der Herr, als er die Sach vernommen hatte, fragte die Jungfrau, ob sie mit ihm davon wollte. Das war die gute Tochter wohl zufrieden, grub ihren Baum aus und setzte sich samt ihrem Vater auf den Wagen zudem Herrn; von dem wurden sie freundlich und ehrlich empfangen, fuhren hin und ließen ihr schalkhaftige Mutter und Schwester sitzen.


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