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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


27. Kabylenehen

Ein Ackerbauer, der sehr wohlhabend war, hatte einen einzigen Sohn, der durch Klugheit und Geschicklichkeit bekannt war. Eines Tages war der Vater selbst auf der einen Seite des Hügels auf seinem Felde beschäftigt, während die Arbeiter auf der entgegengesetzten tätig waren. Als mittags das Essen fertig war, sagte die Mutter zu dem Burschen: "Gehe dorthin und rufe den Vater, und dann gehe dahin und rufe die Arbeiter zum Essen." Der Bursche ging. Er tat wie ihm aufgetragen und rief zuerst den Vater zum Essen und kehrte dann zurück, um am Gehöft vorbei zu den Arbeitern auf der anderen Seite zu gehen und auch da seinen Auftrag auszurichten. Vor dem Gehöft hüpften aber gerade einige Vögel umher, und der Bursche verbrachte einige Zeit damit, daß er mit Steinen nach ihnen warf. Das sah die Mutter, wurde ärgerlich und rief: "Eil dich, damit die Arbeiter das Essen warm vorfinden." Der Bursche ärgerte sich darüber, daß seine Mutter ihn ärgerlich anredete und rief ihr einige Schimpfworte zu. Da nahm die Mutter ein brennendes Holzscheit aus dem Feuer und warf es nach dem Burschen.

Der Bursche fing das brennende Holzscheit mit der Hand auf und lief damit schnell zu den Arbeitern. Er gab es den Arbeitern und sagte: "Mein Vater läßt euch sagen, ihr sollt alles, was auf den Feldern ist und was von den Feldern kommt, verbrennen." Die Arbeiter sagten: "Das wollen wir schnell tun." Es war Sommer und alles sehr trocken. Sie zündeten die Felder und Hecken an mehreren Stellen an, warfen das Ackergerät in die Flammen und machten sich dann auf den Heimweg zum Essen. Sie setzten sich mit dem Vater um den Kuskusnapf. Einer der Arbeiter fand auf dem Boden einige Gerstenkörner. Er hob sie auf und warf sie in das Feuer. Der Bauer sah das, wurde ärgerlich und sagte: "Wir wollen das Korn, das uns ernährt und uns unser Brot gibt, achten. Wir wollen es nicht in das Feuer werfen." Der Knecht sagte: "Du hast uns doch aber soeben den Befehl geschickt, alles was auf den Feldern steht und von den Feldern kommt, zu verbrennen! Wir haben das andere verbrannt und wollen doch nun auch die letzten Gerstenkörner nicht übriglassen." Der Vater fuhr auf. Er sagte: "Was soll das heißen? Wer hat solchen Befehl geschickt?" Die Knechte sagten: "Du hast doch deinen Sohn mit dem brennenden Holzscheit zu uns geschickt!" Der Vater wollte den Sohn packen. Der Bursche sprang aber auf und rannte fort. Der Vater konnte ihn nicht erreichen. Der Bursche rannte und rannte.



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Der Bursche kam, nachdem er sehr weit gelaufen war, in ein anderes Dorf und da in ein Ti-mamurt (kabylisches Schulhaus). Er plauderte mit den Buben und fragte sie: "Wollen wir uns nicht eine Kuh stehlen und schlachten ?" Die Buben waren einverstanden. Der Bursche ging abends in eine Hürde. Er legte sich da zwischen die Beine einer Kuh. Als es Nacht war, schrie er: "Wollt ihr mir die zur Rechten oder die zur Linken geben?" Der Hirt wachte auf, sah überall nach, wo der Dieb sei, fand ihn nicht und legte sich wieder hin. Nach einiger Zeit rief der Bursche das gleiche. Der Hirt wachte wieder auf, suchte wieder überall und fand wieder nichts. Nachdem der Bursche das sechsmal wiederholt hatte, schlief der Hirt ganz fest ein und hörte nun nichts mehr. Da öffnete der Bursche die Hürde, trieb eine Kuh heraus und dahin, wo die Buben versammelt waren. Dort schlachteten sie die Kuh, und dann teilte der Bursche das Fleisch unter sie. Für sich behielt er nur die Bauchhaut. Mit der Bauchhaut machte er sich auf den Weg.

Nach einiger Zeit wickelte er sich in die Bauchhaut und legte sich so am Wege neben einem Gemüsefeld nieder. Es kam eine alte Frau vorbei. Die sah die Bauchhaut und sagte: "Da hat einer sein Schlachtfleisch in der Bauchhaut vom Esel verloren. Ich werde es mitnehmen." Sie nahm das Ganze, hob es mühsam auf, legte alles auf ihren Korb und ging ächzend unter der Last, aber froh über den Fund ihrem Dorfe zu. Als die alte Frau nun bei der Djemaa war, wo die Männer versammelt waren, schrie der Bursche plötzlich laut: "Die alte Frau hat die Bauchhaut der Kuh gestohlen." Die alte Frau erschrak, ließ den Korb mit dem Burschen und der Bauchhaut fallen und floh so schnell sie konnte von dannen. Der Bursche stand aber auf und ging weiter seiner Wege.

Der Bursche kam an ein Gehöft, in dem ein Bauer mit seiner Frau und seinen sieben Töchtern wohnte. Der Bursche trat herein und fragte den Bauern, ob er bei ihm zur Arbeit bleiben dürfe. Der Bauer sagte: "Wie willst du hierbleiben?" Der Bursche sagte: "Ich habe weder Vater noch Mutter. Du hast nun keinen Sohn, da kannst du mich vielleicht als Sohn annehmen, der für seine sieben Schwestern sorgt." Der Bauer sagte: "Du hast recht. Bleibe bei mir. Begleite meine Töchter, wenn sie im Busch Holz holen, und sei ihnen ein guter Bruder." Der Bursche sagte: "So ist es mir gerade recht."

Am anderen Tage sollte die älteste Tochter Holz sammeln und heimbringen. Der Bursche sollte sie begleiten. Das Mädchen wollte den gewöhnlichen Weg in den Wald nehmen. Der Bursche zeigte



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ihr aber einen steilen Berg und sagte: "Das Holz da oben ist viel besser." Er begleitete das Mädchen dann den Berg hinauf, und als sie oben war, gab er ihr einen Stoß. Sie glitt auf dem lehmigen Boden aus, rutschte den steilen Abhang herab, stürzte in den Abgrund und brach sich das Genick. Der Bursche ging dann nach Hause. Als er zu Hause ankam, fragte er: "Ist meine Schwester noch nicht wieder nach Hause gekommen ?" Niemand hatte die Schwester gesehen. Der Bursche sagte: "Wenn sie nur nicht mit einem Burschen fortgelaufen ist, mit dem sie sich treffen wollte." Die älteste der sieben Schwestern kam nicht wieder. Der Bauer sagte zu seiner Frau: "Unsere älteste Tochter ist mit einem Burschen fortgelaufen."

Am anderen Tage ging der Bursche mit der zweiten der sieben Schwestern fort, um ihr beim Holzsammeln behilflich zu sein. Er machte es genau so wie am ersten Tage. Der Bauer sagte am Abend dieses Tages: "Unsere zweite Tochter ist nun auch mit einem Burschen fortgelaufen." Ehe der Bursche am dritten Tage nun mit der dritten fortging, sagte er zum Bauer: "Höre Vater, ich glaube, meine Schwestern haben alle ihre Liebhaber; sage aber vorderhand nichts. Ich werde es schon herausbekommen." Dann ging er mit der dritten Tochter fort, und als er abends wieder allein nach Hause gekommen war, sagte der Vater zu seiner Frau: "Ich glaube fast, unsere sämtlichen Töchter haben ihre Liebhaber."

Der Bursche brachte auf die gleiche Weise alle sieben Töchter des Bauern ums Leben. Als er am siebenten Tage auch wieder allein nach Hause kam, sagte er zu dem Bauern: "Vater, sie waren also alle von der gleichen Art. Welches Glück, daß ich zu dir gekommen bin. Nun hast du wenigstens noch ein Kind, und das ist ein Sohn. Ich möchte nur wissen, von wem deine sieben Töchter diese Neigung zu Liebhabern gehabt haben. Du selbst bist doch ein ordentlicher Mensch." Abends sagte der Bauer zu seiner Frau: "Also alle unsere sieben Töchter haben von einem von uns beiden diese Neigung zu Liebhabern geerbt. Welches Glück, daß wir nun noch zu guter Letzt diesen Sohn gewonnen haben."Die Frau des Bauern sagte ärgerlich: "Was es mit diesem Sohn für eine Bewandtnis hat, werden wir ja sehen und dann auch herausbekommen, wie diese plötzliche Neigung meiner sieben Töchter zu Liebhabern entstanden ist. Ich werde morgen selbst hingehen, Holz zu sammeln und mich dabei von deinem Sohne begleiten lassen."

Der Bauer war damit einverstanden. Am anderen Tage ging die Frau des Bauern mit dem Burschen zusammen zum Holzsammeln.



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Der Bursche führte die Frau des Bauern auf denselben Berg. Die Frau des Bauern dachte bei sich: "Ich bin neugierig, ob ich nicht meine Töchter wiedersehen werde." Als sie oben war, gab der Bursche auch ihr einen Stoß, und sie stürzte tot zu ihren sieben Töchtern in den Abgrund. Der Bursche kam allein nach Hause. Der Bauer sah ihn allein kommen. Der Bauer sagte: "Du kommst allein nach Hause? Also hat meine Frau auch einen Liebhaber gehabt, mit dem sie fortgelaufen ist? Ich habe aber schon gestern gesagt, von wem wohl unsere Töchter diese Neigung zu Liebschaften geerbt haben. Nun ist es ganz klar." Der Bursche sagte: "Ja, mein Vater, es ist ganz klar. Sei glücklich, daß du mich noch hast. Ich will dir eine andere Frau suchen, die dir schnell ein behagliches und sorgenfreies Lebensende verschafft." Der Bauer sagte: "Ich danke dir, mein Sohn. Tue das!" Der Bursche machte sich auf die Suche nach einer anderen Frau für seinen Adoptivvater.

Der Bursche kam auf seiner Wanderung zu einer Frau, die war noch jung, aber sie war schon Witwe, denn ihr Mann war seit einiger Zeit gestorben. Der Bursche bat die junge Witwe um Unterkunft und um Essen, und sie gewährte es ihm. Nachdem er gegessen hatte, sagte er zu ihr: "Du bist noch zu jung, um lange unverheiratet zu bleiben." Die junge Witwe sagte: "Ich möchte schon wieder heiraten, ich weiß nur nicht einen Mann, der mich nimmt und der mir paßt." Der Bursche sagte: "Ich habe einen Adoptivvater, der ist ein wohlhabender Bauer, und außerdem ist er auch Witwer. Er ist ein guter Mann. Ich meine, das wäre das Richtige." Die junge Witwe sagte: "Weshalb soll ich nicht noch einmal heiraten?! Ich will nur nicht in die Hände eines Mannes kommen, der mich schlecht behandelt." Der Bursche sagte: "Dafür laß mich nur sorgen. Wenn wir beide uns gut verständigen, dann ist alles in Ordnung." Am andern Tage machte der Bursche sich auf den Rückweg.

Der Bursche kam zu seinem Adoptivvater zurück und sagte: "Vater, ich habe eine junge, schöne und sehr gutartige Witwe gefunden, die auch bereit ist, dich zu heiraten. Sie kann dir ein schnelles Glück bereiten." Der Bauer war erfreut. Er machte sich am andern Tage mit dem Burschen auf den Weg. Der Bursche brachte ihn in das Haus der Witwe. Der Bauer aß bei der Witwe. Nach dem Essen sprach er mit ihr. Die Witwe erklärte sich einverstanden. Der Bauer heiratete die Witwe.

Der Bauer war mit seiner neuen Frau noch nicht lange verheiratet. Die beiden lebten sehr zufrieden und einträchtig miteinander. Der



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Bursche sagte aber bei sich: "Wenn dies so weitergeht, bringe ich es zu nichts Rechtem, und außerdem wird es Zeit, daß ich mich selbst gut verheirate." Eines Tages sagte er zu der jungen Frau seines Vaters: "Ich bin neugierig, wie lange du es bei meinem Vater aushalten wirst!" Die Frau sagte: "Weshalb das? Mit deinem Vater ist doch sehr gut auszukommen!" Der Bursche sagte: "Zuerst ist immer sehr gut mit ihm auszukommen. Seine vorige Frau und seine sieben Töchter hat er aber umgebracht!" Die Frau sagte: "Was, er hat sie umgebracht?" Der Bursche sagte: "Ja, er hat sie umgebracht. Er hat überall in der Gegend erzählt, seine Frau und seine sieben Töchter wären mit Liebhabern fortgelaufen. Du kannst jedermann in der Gegend fragen, ob er das nicht erzählt hat. In Wahrheit sind seine Frau und seine sieben Töchter aber umgebracht." Die Frau erschrak. Die Frau fragte beim Wasserholen andere Frauen: "War mein Mann schon einmal verheiratet und hatte er Töchter?" Die Frauen sagten: "Gewiß war er schon einmal verheiratet, und er hatte auch sieben Töchter. Aber eine nach der andern verschwand." Die junge Frau fragte andere Frauen. Alle Frauen sagten ihr das gleiche. Die junge Frau begann sich sehr zu ängstigen.

Die junge Frau kam zum Burschen und sagte: "Was du gesagt hast, ist wahr. Nun ängstige ich mich sehr und habe Furcht davor, daß ich auch eines Tages verschwinden könnte. Wir wollen meinen Mann töten, ehe er mir ein Leid zufügt." Der Bursche sagte: "So tue es!" Die Frau sagte: "Wie soll ich ihn aber töten?" Der Bursche sagte: "Ich werde dir ein Messer geben, mit dem kannst du ihn töten." Die junge Frau ließ sich das Messer geben. Sie tötete den Bauern nachts. Sie grub mit dem Burschen im Hof ein Loch. Da hinein legten sie den toten Bauern. Am anderen Tage kamen andere Leute und fragten nach dem Bauer. Die Frau sagte: "Mein Mann ist seit einiger Zeit verreist." Die Leute gingen. Die Frau sagte nach einigen Tagen zu dem Burschen: "Was sollen wir nun machen. Wir können doch hier nicht gut bleiben! Die Leute werden immer wieder kommen und nach meinem Manne fragen." Der Bursche sagte: "Das ist ganz richtig. Wir wollen aber nicht so in die Welt hinauslaufen. Bleibe du zunächst hier. Du bist noch sehr jung und sehr schön. Ich will sehen, ob ich dich nicht an einen besseren Mann verheiraten kann." Die junge Witwe war einverstanden. Der Bursche machte sich wieder auf die Wanderschaft und fragte überall in den Dörfern nach einem alten wohlhabenden Witwer, der eine Tochter habe. Eines Tages hörte er auf dem Männerplatze, daß im



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Nachbardorfe der und der Mann ein älterer wohlhabender Witwer mit einer schönen Tochter sei.

Der Bursche ging zu dem Dorfe. Er ließ sich den Mann zeigen. Er setzte sich auf dem Männerplatze zu ihm und sprach mit ihm sehr freundlich. Der ältere Mann hatte sein Wohlbehagen in der Unterhaltung mit dem Burschen. Nach einiger Zeit fragte er ihn: "Kennst du jemand hier im Dorfe ?" Der Bursche sagte: "Nein, ich kenne niemand." Der ältere Mann sagte: "Dann komm mit zu mir und iß mit mir daheim!" Der Bursche bedankte sich und ging mit. Im Hause des älteren Mannes trug eine schöne junge Frauensperson das Essen heran.

Als die junge schöne Frauensperson gegangen war, fragte der Bursche: "Ist das deine Frau gewesen?" Der ältere Mann sagte: "Nein, es war meine Tochter; ich bin Witwer." Der Bursche sagte: "Weshalb bleibst du Witwer? Du bist jung und kräftig." Der ältere Mann sagte: "Eine junge schöne Frau will mich nicht, und eine alte und häßliche mag ich nicht!" Der Bursche sagte: "Als mein Vater jüngst starb, hinterließ er eine junge, schöne Frau, die nun allein steht und außer mir jungem Burschen keine Verwandte hat. Willst du sie nicht nehmen ?" Der ältere Mann sagte: "Weshalb soll ich sie nicht nehmen? Ich bin sehr gern bereit. Kann sie nicht einmal hier in die Gegend kommen ?" Der Bursche sagte: "Das will ich einrichten." Der Bursche blieb über Nacht und machte sich am andern Tage auf den Rückweg zur Witwe seines Adoptivvaters.

Der Bursche erzählte der jungen Witwe alles, was er erlebt hatte, und sagte: "Hier werden die Leute dich immer nach deinem verstorbenen Manne fragen. Dort wirst du gut verheiratet sein." Er machte sich mit der jungen Witwe auf den Weg. Er kam mit ihr bei dem älteren Manne an. Der ältere Mann fand sein Gefallen an der jungen Witwe. Er heiratete sie und war sehr zufrieden. Er sagte zu dem Burschen: "Ich danke dir, daß du mir diese junge Witwe zugeführt hast, mit der ich sehr glücklich bin. Nun will ich dir auch meine Tochter zur Frau geben." So heiratete der Bursche die Tochter des wohlhabenden älteren Mannes und war sehr glücklich mit ihr. Der Vater war erfreut über das Glück, das in seinem Hause blühte, und als der Sohn ihn eines Tages bat, ihn als Erben einzusetzen, damit später für seine Tochter gut gesorgt sei, da tat er es.

Der wohlhabende ältere Mann, seine jung verheiratete Tochter und der Bursche waren glücklich. Die junge Frau des wohlhabenden



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älteren Mannes war aber nicht zufrieden. Sie kam eines Tages zum Burschen und sagte zu ihm: "Mein Mann gefällt mir nicht. Ich bin jung und kräftig, er aber ist alt und schwach. Komm also mit mir, wir wollen fortlaufen und einen anderen Mann für mich suchen." Der Bursche sagte: "Das wird nicht gehen, denn ich bin mit seiner Tochter verheiratet, und ich habe seine Tochter sehr lieb, so daß ich sie nicht verlassen will. Sie wird aber nicht mit uns fortlaufen wollen. Also müssen wir hierbleiben." Die junge Frau sagte: "Dann wollen wir meinen Mann töten, so wie wir meinen vorigen Mann, deinen Adoptivvater, getötet haben!" Der Bursche sagte: "Wenn du das durchaus willst, so tue es." Die junge Frau ließ sich vom Burschen den Dolch geben. Als ihr Gatte nachts eingeschlafen war, stieß sie ihm das Messer in den Bauch. Der ältere Mann starb sogleich. Am andern Tage wurde er begraben.

Am andern Tage kamen aber auch die Brüder des Gestorbenen und wollten die Erbschaft in Anspruch nehmen. Der Bursche sagte: "Ihr irrt euch. Euer Bruder hat mich zum Erben eingesetzt, damit ich für seine Tochter gut sorgen kann." Die Brüder begannen den Streit. Der Streit kam zu dem Amin. Der Amin hörte alle und sagte: "Es ist wahr, was der Bursche sagt. Der Verstorbene hat mir selbst gesagt, daß er den Mann seiner Tochter zum Erben einsetzen wolle, damit für seine Tochter gesorgt sei." Die Brüder des Toten murrten. Sie mußten das Erbe und das Gehöft aber dem Burschen überlassen.

Der Bursche lebte mit seiner jungen Frau sehr glücklich. Die junge Witwe kam aber alle Tage zum Burschen, quälte ihn und sagte: "So komm doch mit mir und sorge, daß ich einen anderen Mann bekomme. Ich bin noch zu jung, um unverheiratet zu sein. Hilf mir! Komm mit mir in ein anderes Dorf!" Der Bursche sagte: "Es wird Zeit, daß ich diese Frau beiseite schaffe." Eines Nachts sprach der Bursche mit seiner jungen Frau und sagte zu ihr: "Ich glaube, die junge Witwe hat deinen Vater gewaltsam ums Leben gebracht."

Am anderen Tage lief die junge Frau zu dem Amin und sagte: "Ich glaube, die junge Witwe hat meinen Vater gewaltsam ums Leben gebracht." Der Amin ließ die junge Frau packen. Er fragte sie: "Hast du deinen Mann getötet?" Die junge Frau sagte: "Nein, ich habe es nicht getan." Der Amin ließ die junge Frau an den Füßen aufhängen und peitschen, damit sie die Wahrheit sage. Die junge Witwe schrie, aber sie sagte die Wahrheit nicht. Der Amin ließ sie abnehmen und laufen. Er sagte: "Diese Sache ist nicht zu entscheiden." Die junge Witwe wurde wieder in Freiheit gesetzt.



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Die junge Frau war in Freiheit, aber sie wußte, daß sie eines Tages in diesem Orte von einem Bruder ihres Mannes getötet werden würde, weil alle Welt an ihre Schuld glaubte. Deshalb floh sie eines Nachts von dannen. Sie kam in einen anderen Ort, und da sie hübsch war, fand sie bald einen Mann, der sie heiratete. Dieser Mann war jung und stark und sehr roh. Er schlug seine junge Frau alle Tage, so daß sie ganz unglücklich wurde, und da sie nicht fliehen konnte, weil sie zu sehr beobachtet wurde, sandte sie eines Tages an den Burschen eine Botschaft und ließ ihm sagen: "Komm zu mir und hilf mir!" Als der Bursche die Nachricht empfing, sagte er bei sich: "Diese Frau wird nicht eher zufrieden sein, ehe es mit ihr selbst ein schlimmes Ende genommen hat." Er ließ der Frau sagen: "Ich werde dann und dann zu Gaste kommen." Der Bursche machte sich an dem verabredeten Tage auf den Weg. Er kam zu der Frau. Die Frau sagte: "Hilf mir, mich von diesem Manne zu befreien, denn er schlägt mich alle Tage, und wenn er auch sonst mir gut ansteht, so läßt er mir doch keine freie Zeit, ich kann nie ausgehen. Er beobachtet mich immer und überall. Er schlägt mich stets, sowie ich ihm nicht augenblicklich zu Willen bin, und raubt mir jede Freiheit. Ich bitte dich, hilf mir, ihn zu töten." Der Bursche sagte: "Du wirst mit keinem Gatten mehr zufrieden sein. Ich will dir nun nicht mehr beistehen." Die Frau wurde zornig und sagte: "Laß mich nicht im Stich. Ich werde dir schaden, wenn du mir nicht hilfst, und du wirst es nicht so gut vertragen, an den Beinen aufgehängt zu werden." Der Bursche sagte: "Dann nimm also den Dolch hin."

In der kommenden Nacht stieß die Frau ihrem Manne den Dolch in den Leib. Sie rief den Burschen herbei. Beide vergruben ihn in der Farm. Die Frau begleitete dann den Burschen zurück in das Dorf, in dem er mit seiner jungen Frau glücklich lebte. Einige Tage blieb die Witwe im Gehöft des Burschen. Einmal aber wurde sie von einem Verwandten ihres früheren Gatten gesehen, und sie merkte das. Da sagte sie zum Burschen: "Ich bin hier nicht sicher. Die Verwandten meines früheren Mannes werden mich noch töten. Komm du mit deiner jungen Frau mit in das Gehöft, in dem mein letzter Mann getötet ist." Der Bursche sagte: "Meine junge Frau wird nicht von hier fort wollen." Die Witwe sagte: "Frage sie, und wenn sie nicht gutwillig gehen will, werden wir sie tragen." Der Bursche fragte seine junge Frau, ob sie mit der Witwe und ihm in das andere Dorf ziehen wollte. Die junge Frau weigerte sich aber



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und erklärte, im Gehöft ihres verstorbenen Vaters bleiben zu wollen.

Als der Bursche das der Witwe berichtete, sagte diese: "Wenn sie nicht gutwillig will, werden wir sie mit Gewalt mitnehmen." Die Witwe gab der jungen Frau eines Abends ein Schlafmittel, das schwer betäubte, und lud die Betäubte dann auf einen Maulesel und führte ihn hinüber nach dem anderen Dorfe. Die junge Frau erwachte am anderen Tage im anderen Dorfe. Sie sagte erst nichts, wenn sie die Wanderung in die neue Gegend auch nicht verstand. Sie beobachtete aber die Witwe, in deren Haus sie jetzt lebte, eine Zeitlang.

Eines Tages rief sie den Burschen beiseite und sagte: "Ich habe die Frau, die deinen früheren Vater geheiratet hatte, die also deine Mutter ist, nun einige Tage beobachtet. Ich weiß, was sie meinem eigenen Vater angetan hat. Sie hat ihn getötet, wenn sie es auch nicht eingestand, als der Amin sie an den Füßen aufhängen ließ. Ich sehe, daß sie auch den Mann, der früher in diesem Hause ihr Gatte gewesen ist, getötet haben muß, denn sie wird unruhig, wenn man über dessen Verschwinden spricht. Diese deine Mutter hat mir, um mich hierherzubringen, ein schweres Betäubungsmittel gegeben, so daß ich einschlief und mit Schmerzen erwachte. Diese Frau, deine Mutter, wird dich und mich immer zwingen wollen, das zu tun, was sie will und sie zu schützen. Diese Frau wird nicht davor zurückschrecken, dich oder mich zu töten. Deshalb ist es besser, wir töten sie. Wir wollen sie die kommende Nacht töten." Der junge Mann sagte zu seiner Frau: "Es mußte so kommen, wie es nun kommen wird. Du hast vollkommen recht. Wir wollen sie in der nächsten Nacht töten."

In der nächsten Nacht töteten der junge Ehemann und seine junge Frau die Witwe und begruben sie auf dem Acker. Dann kehrten sie in ihr Dorf zurück und lebten von da an sehr glücklich.


Copyright: arpa, 2015.

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