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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Das Kloster Sankt Gallen

Das Kloster Sankt Gallen stand unter dem österreichischen Kaiser, und dieser kam jedes Jahr einmal und machte dem Kloster einen Besuch, durchging die Bücher und gab einige Ratschläge, damit er etwas zu befehlen habe.

Einmal, als er auf Besuch kam, zeigte es sich, daß die Patres gut lebten. Sie waren alle wohlgenährt, und vor allem der Obere, der Abt, hatte das Aussehen einer Lärche und einen Bauch wie ein Butterfaß. Der Kaiser dachte bei sich: >Dich sollte ich schon ein wenig magerer werden lassen!<Der Besuch ging zu Ende, und er machte Anstalten, um wieder wegzugehen. Und dann sagte er zum Abt: »Heute in einem Jahr komme ich wiederum, und dann müßt Ihr mir Antwort geben auf drei Fragen, und das sind folgende: Wieviel bin ich wert, wenn ich als Kaiser auf meinem Thron sitze, mit Krone und Szepter, aber genau, nicht mehr und nicht weniger?

Die zweite Frage: Wie lange habe ich, um mit meinem Pferd um die Erde zu reiten, aber auf die Minute genau, weder fünf (Minuten) zuviel noch zuwenig?

Die dritte: Ihr müßt meinen Gedanken kennen, und der darf nicht die Wahrheit sein. Jetzt habt Ihr ein Jahr Zeit, nachzudenken. Und gebt Ihr mir genau Antwort, so ist's gut, sonst lasse ich Euch rücklings auf einen Esel setzen, des Esels Schwanz halten und auf der ganzen Erde herumführen. Jetzt habt Ihr ein ganzes Jahr Zeit, nachzudenken, genau nach einem Jahr komme ich die Antwort holen.«

Der Kaiser kehrte dann heim, und der Abt begann nachzudenken. Bei der ersten Frage brachte er nichts heraus (kam er nicht darauf)! Er nahm die zweite, und es ging ebenso. Und bei der dritten auch. Er dachte dann: >Nun, binnen einem Jahr werde ich wohl die rechte Antwort finden.< Das plagte ihn aber so, daß er ganze Nächte nicht schlafen konnte. Er erzählte es dann den Patres, um zu sehen, ob der eine oder der andere die Fragen lösen könnte, die eine oder die andere. Sie beteten alle zusammen, damit der Heilige Geist ihnen das Rechte eingabe. Aber sie kamen zu keinem Ergebnis. Sie ließen gelehrte Männer herbeikommen, die Träume auslegen, und solche, die Rätsel lösen konnten. Auch diese brachten gar nichts heraus.

Der Abt aber konnte nie schlafen, hatte keinen Appetit und wurde selbstverständlich magerer. Je näher der Jahrestag rückte, um so mehr magerte sein Körper ab. Ungefähr eine Stunde vom Kloster entfernt besaßen sie Weiden und Wald, und dort hütete ein Bruder fünf- bis



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sechshundert Schafe, und der wohnte draußen, und nur am Samstagabend zog er nach Hause. Am Sonntagmorgen kehrte er wiederum zu seiner Herde zurück. Ungefähr drei Tage vor dem Tag, da der Kaiser kommen sollte, wanderte der Abt übers Feld. Der Schäfer sah den Abt kommen, ging ihm entgegen und sagte: »Mein Herr und Meister, ich habe nie gehört, daß Ihr schwer krank gewesen wäret, und doch habt Ihr ein Aussehen, als ob Ihr eine schwere Krankheit durchgemacht hättet.« —»Ich bin nicht krank gewesen«, sagte der Abt, »aber ich habe etwas anderes, das mich altern läßt.« — »Nun, so sagt mir, was Euch fehlt«, meinte der Hirt. Der Abt wollte es nicht sagen und dachte bei sich: >Du bist doch nur ein armer Tölpel. Wenn die Gelehrten es nicht herausbrachten, was will denn ein solcher Dummkopf es besser wissen?< Und dennoch überlegte er: >Teile ihm die Sache nur mit! Wenn er sieht, daß man mich auf einem Esel in der Welt herumführt, so weiß er, warum.<Und er erzählte ihm die ganze Geschichte. Der Hirt lachte nur: »Deswegen würde ich mir kein schweres Blut machen, dem wollte ich schon Antwort geben.« — »Du«, meinte der Abt, »könntest ihm Antwort geben?« —»Jawohl!« sagte der Hirt, »wenn Ihr dafür sorgt, daß jemand anders an jenem Tag die Schafe hütet, und Ihr mir Euren Rock, Eure Kutte mit dem Brustkreuz gebt, werde ich schon mit dem Kaiser sprechen.«Der Abt dachte: >Nun gut, gehe es, wie es wolle, jetzt ist es doch soweit.< Und er versprach dem Hirten, seinen Wunsch zu erfüllen.

Anderntags kam ein anderer Bruder zu den Schafen heraus und erklärte dem Hirten: »Du mußt es mir überlassen, die Schafe zu hüten, und zeige mir, wo du sie nachts hintreibst. Du mußt ins Kloster, der Abt will, daß du nach Hause kommst.« Am Tage darauf erschien dann der Kaiser. Der Schäfer war als Abt verkleidet, ein großer, spindeldürrer Mann. Einige der älteren Patres standen vor dem Hause, um den Kaiser zu empfangen. Inzwischen versammelten sich die übrigen mit dem neuen Abt im Saal, der neue Abt auf seinem roten Stuhl. Der alte Abt drückte sich auch im Hintergrund in eine Ecke, damit ihn niemand sehe. Da erschien der Kaiser mit den Patres im Saal, erblickte den Abt auf seinem Stuhl und dachte bei sich: >Es hat geholfen, der Bauch ist nicht mehr so groß, und die Farbe hat auch gewechselt.<Dann sagte er zum Abt: »Nun, wie steht's mit den Fragen?« Der Abt antwortete: »Oh, ich glaube, es ist in Ordnung.« —»Nun, so wollen wir beginnen«, meinte der Kaiser. »Die erste lautet: Wieviel schätzt Ihr mich als Kaiser ein, nicht mehr und nicht weniger?« Der Abt entgegnete: »Unsern Herrgott haben sie für dreißig Denare verkauft, und mehr als der Herrgott



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wollt Ihr doch wohl nicht wert sein!« — »Diese Antwort ist sehr gut«, sagte der Kaiser. »Die zweite Frage: Wie lange brauche ich, um mit meinem Pferd um die Erde zu reiten?«Der Abt erklärte: »Ihr müßt am Morgen früh Euch aufs Pferd setzen, und sobald die Sonne sich zeigt, müßt Ihr zu reiten beginnen und immer die gleiche Linie mit der Sonne einhalten, dann habt Ihr genau vierundzwanzig Stunden um die Erde zu umreiten!« — »Auch diese Antwort ist gut. Nun kommen wir zur dritten Frage, diese ist schwerer«, meinte der Kaiser. Und der Abt sagte: »Nein, diese ist die leichteste!« — »Das kann nicht sein«, erwiderte der Kaiser, »Ihr müßt wissen, was ich gerade jetzt denke, und das darf nicht die Wahrheit sein.«Und dann sagte der Abt: »Ihr denkt jetzt, ich sei der Abt von Sankt Gallen, aber das ist nicht wahr, ich bin nur sein Schafhirt!«

Und dann sagte der Kaiser: »Jetzt sind wir am Ende. Auch ich habe über die Fragen nachgedacht und konnte nicht eine lösen. Ihr aber müßt mit mir kommen, Euch nehme ich mit mir nach Hause.« Und dann zeigte sich der alte Abt und sagte: »Er muß sein Leben lang hierbleiben. Wenn Ihr das eine oder andere Mal einen guten Rat wollt, so kann man ihn Euch geben, aber der Bruder muß hierbleiben.«


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