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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Der Geist, der den Barbier spielt

Es war ein sehr reicher Kaufmann. Er hatte einen Buben, der zwei Jahre alt war, als die Mutter starb. Er nahm dann eine ältere Magd, und dieser übertrug er die Erziehung seines Kindes. Sie möge nicht zu streng mit ihm sein, es sei genug, daß das Kind keine Mutter habe. Im Hause, im Erdgeschoß hatte er sein Büro, und dort hatte er einen Kassierer, ebenfalls einen älteren, getreuen, ehrlichen Mann. Der Herr war viel abwesend, auf Reisen, wo er meist gute Geschäfte machte. Der Knabe wuchs heran, hörte auf, zur Schule zu gehen, und wenn die Magd oder die Lehrer klagte er sei nicht gehorsam, er habe nur Narrheiten im Kopf, so gefiel das dem Vater, und er sagte: »So, das gibt mal einen tüchtigen Mann, ein Junge muß Leben haben.«Wenn die Magd oder der Schreiber ihn strafen wollte, dann sagte er: »Ich sag's meinem Vater!« Der Schreiber sagte öfters: »Dein Vater wird von dir auch den Lohn erhalten!« Der Vater gab dem Knaben schon in den ersten Jahren, da er zur Schule ging, Geld, und mit diesem machte der Junge Narrheiten, kaufte allerlei unnütze Sachen. Und später, als er mit den Knaben ging, lud er Jünglinge und Mädchen ins Wirtshaus ein, zu Tanz und Trunk, soviel es gefallen mochte. Einmal bestellte er sogar eine Kutsche mit vier Pferden, und er und einige Kameraden und Mädchen zogen weiter weg in ein anderes Dorf, tranken, aßen und tanzten, alles auf seine Rechnung. Wenn man im Dorf dem Vater sagte, wie sich der Sohn aufführe,



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so hatte er große Freude. Er hatte dadurch auch Kameraden, Freunde und Freundinnen genug, alles wollte mit ihm gut Freund sein.

Und so kam es, daß der Vater krank wurde. Er schickte ihn in das Spital, wo es viel kostete. Der Vater starb dann, und der Sohn machte sich nicht viel daraus. Solange er Geld fand im Schreibpult des Vaters, fehlte ihm nichts. Und als es dort nichts mehr zu nehmen gab, mußte er aufhören mit seinen Narrheiten, ging auch nicht mehr ins Gasthaus. Der Wirt nebenan sagte ihm dann: »Warum kommst du nie mehr zu mir her?« Und er sagte: »Ich habe kein Geld, ich kann nicht mehr ins Wirtshaus gehen.« —»Oh, deshalb komm du nur, ich bewirte dich weiterhin. Du bist mir gut genug. Auf dein Haus gebe ich dir soviel du willst.« Und er ging dann wiederum ins Wirtshaus, glaubte, daß es ewig ausreiche. Nun begannen von allen Seiten Schulden einzulaufen, er hätte zahlen sollen und wußte nicht wo (Geld) hernehmen. Der Schreiber zahlte, solange er was zum Zahlen hatte, und dann kündigte er ihm an, daß nichts mehr da sei. Der Wirt, der hatte viel aufgeschrieben im Buch und jedenfalls auch vieles, das nicht genossen worden war. Kameraden sagten zu ihm, er solle die Magd gehen lassen, er könne ins Wirtshaus essen gehen, und die Arbeit, die der Schreiber mache, sei er auch imstande zu leisten. Und er glaubte, auf diese Weise ein gutes Stück zu ersparen. Der Schreiber war so hinterlistig gewesen und hatte für sich und für die Magd den Lohn für ein Jahr auf die Seite gelegt. Der Jüngling, da er gar nichts mehr hatte, denn der Wirt hatte ihm gesagt: »In drei Tagen mußt du hinaus aus deinem Haus, dieses gehört mir, mit allem, was drin ist«, ging auf die Diele zu einem Schrank mit Büchern und schaute diese durch und fand in einem Buch, daß sein Vater einem Mann in einem andern Dorf 600 Gulden gegeben hatte. Ein Teil des Zinses war bezahlt worden, und dann nichts mehr. (Zwei Jahre waren bezahlt.) Der Zins hatte sich zum Kapital geschlagen. Von allen übrigen Guthaben stand entweder im Buch geschrieben, daß es bezahlt sei, oder dann hatte er eine Quittung. Nur bei dieser Schuld war nichts vermerkt. Er nahm das Buch zu sich und dachte: >Nun gehe ich diese Schuld einziehen.< Am Abend ging er im Dorfe herum. Geld, um sich ein Nachtessen zu kaufen, hatte er keines, und von so vielen Kameraden und Kameradinnen, die er gehabt, hätte ihm keiner eine Tasse Kaffee gegeben, alles mied ihn. Am Abend fand er in einem Baumgarten einen Apfel, und das war sein Nachtessen. Er mußte warten, bis es dunkel war, damit er heimlich in eine Scheune steigen und auf einem Bündel Stroh schlafen konnte. Schlafen konnte er die ganze Nacht nicht. Sein Leichtsinn und seine jungen Jahre, das Leben, das er geführt, ließen ihn



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nicht schlafen. Am andern Morgen machte er sich auf den Weg in jenes Dorf, um sein Guthaben einzuziehen. Geld hatte er gerade so viel daß er zu Mittag eine Suppe essen konnte.

Gegen Abend kam er in jenem Dorf an. Er fragte nach jenem Mann, und man zeigte ihm, wo jener wohnte. Er trat ein, als sie gerade am Nachtessen waren, Vater und Mutter, drei Buben und ein Mädchen. Er sagte, wer er sei und warum er gekommen. Der Vater sprang auf wie ein Löwe, da er zu kommen wage, um die Schuld zu erlangen, die schon lange bezahlt sei. Er sagte: »Diese ist nie bezahlt worden; wenn Ihr mir zeigen könnt, daß sie bezahlt ist, so bin ich zufrieden; aber anstatt zu bezahlen, ist die Schuld größer geworden, dadurch, daß man so viele Jahre hindurch nicht bezahlte.« Und der Vater sagte: »Nun ist dein Vater gestorben, und nun glaubst du, du könntest kommen und von mir verlangen, was schon lange mit deinem Vater geordnet wurde.« »Mein Vater«, sagte der Jüngling, »hätte es schon gestrichen oder aufgeschrieben, daß es bezahlt sei, wenn es der Fall gewesen wäre!« Dann sagte der Vater: »Nun gut, so wollen wir denn bezahlen.« Er stand auf und ging zur Türe hinaus und kehrte zurück mit einem Strick in der Hand und sagte zu den Jungen: »Jetzt, Buben, kommt mit dem, den wollen wir schon meistern.«Sie banden ihm die Hände auf den Rücken, packten ihn und schleppten ihn die Kellertreppe hinunter und warfen ihn in einen ganz dunklen Keller. »Nun bleib da und zähle deine Schuld nach«, sagte der Vater. Und sie gingen weg. Einer der Jungen aber machte ihm die Hände frei. Und sie gingen hinaus, schlossen die Türe und überließen den Gefangenen sich selbst. Er tappte herum, ob er etwas finde, aber es war nichts, keine Bank, kein Brett und überhaupt nichts, wo er sich hätte niederlegen und ausruhen können. Die Angst und die Mühen und der Hunger zwangen ihn auf die Erde. Dieser Keller hatte hoch oben ein kleines Fenster, und an diesem war ein eisernes Gitter. Inzwischen wurde es dunkle Nacht, und wie alles ruhig war auf der Gasse und überall, kam jemand an dieses Fenster und sagte: »Ich lasse dir ein Seil mit einer Zange hinunter. Suche heraufzukommen und das Gitter wegzunehmen. Ich will dir helfen, soviel ich kann. Trachte zu entkommen, denn es könnte schlimm mit dir gehen.« Er faßte das Seil, kam in die Höhe, band sich am Seil fest und versuchte, mit der Zange das Gitter loszumachen. Das gab nicht viel Mühe. Das Holz, an dem das Gitter befestigt war, war halb verfault. Er zog sich selbst hinauf und entkam ins Freie. Er glaubte hier jemand zu finden, dem er danken könnte, aber da war kein Mensch zu sehen. Er kam hinauf in einen Garten, und das Seil war an einem Obstbaum festgemacht. Um



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so schneller machte er sich auf und davon und ging auf die Straße, um so rasch wie möglich aus dem Dorf zu entweichen.

Er lief, daß die Beine zitterten, so daß er kaum weitergehen konnte. Zum Glück ging der Mond auf, denn er kam bald in einen Wald. Die Straße führte durch einen Wald. Als er aus dem Wald heraustrat, kam er in ein Tal. Ein großer Wasserlauf stürzte herab und floß unter der Straße durch. Und das Wasser floß neben der Straße weiter und machte ein gewaltiges Geplätscher. Von weitem sah er Licht. Er ging auf dieses zu und meinte, eine Musik zu hören. Er war nicht ganz sicher, ob das Wasser diese Musik mache oder ob es wirkliche Musik sei. Und wie er näher kam, da war er überzeugt, daß es Klarinetten und Bässe waren.

Er kam zu einem einsamen Haus, einer großen Wirtschaft und einem Stall, und da herrschte ein großes Treiben. Er ging in die Gaststube und fand kaum Platz, um sich zu setzen. Der Wirt kam und fragte, was er bringen dürfe. Und er sagte: »Um Himmels willen, gebt mir etwas zu essen, ich habe schon zwei Tage nichts gegessen. Und nun bin ich aus einem Gefängnis geflohen.« Und er sagte ihm, wie er im Gefängnis gewesen war, und er möchte nun hier übernachten. »Ein Nachtessen will ich Euch schon geben, aber übernachten, dafür ist nirgends Platz. Ihr seht, daß da alles voller Leute ist, alle Zimmer sind besetzt.« Und er sagte: »Ich bin zufrieden, nur auf einer Bank zu liegen.«Und der Wirt sagte: »Nicht einmal eine Bank ist mehr frei, ich kann Euch nicht da bleiben lassen.« Und der Jüngling sagte: »Wenn ich hinaus muß, so muß ich auf dem Weg sterben.« Inzwischen hatte er das Nachtessen eingenommen, und der Wirt sagte zu ihm: »Ihr habt vielleicht auf der andern Seite des Wassers ein altes Schloß gesehen. Auch dieses gehört mir, und niemand wohnt darin. Und wenn Ihr dort hinüber wollt, so findet Ihr ein schönes, sauberes Bett, aber ich muß Euch sagen: soviele auch schon am Abend hinübergegangen sind, keiner ist am Morgen zurückgekehrt. Was geschieht, das weiß ich nicht.« Der Jüngling sagte: »Gut, ich gehe hinüber, gebt mir ein Licht und eine Flasche Wein.«Der Wirt ging und kehrte mit einer Kerze, einer Flasche Wein und dem Schlüssel des Schlosses zurück. »Dieser Schlüssel ist für das große Tor, und wenn Ihr drinnen seid, kommt Ihr zu einem Zimmer ohne jegliche Möbel. Ihr geht durch dieses Zimmer zu einer Türe, schließt auf, tretet ein, durchschreitet drei solcher Zimmer, und erst das vierte hat dann Möbel und das Bett.«

Er kam in dieses Zimmer und hatte jedesmal von innen die Türe eines jeden Zimmers verschlossen. Er zog die Schuhe und den Rock aus,



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nahm noch einen Schluck Wein und ging ins Bett, ließ aber die Lampe brennen.

Da hörte er die Uhr die zweite Stunde schlagen, und er hörte dann die eisernen Riegel des Schloßtores stoßen. Und es kam immer näher und näher, eine Tür öffnend und die andere schließend, bis es dann zu seiner Tür kam. Es trat ein kleines Männlein herein, mit einem schönen, runden Gesicht, mit einem Samtkleide, schwarzen Hosen, grünem Rock, weißen Strümpfen, Halbschuhen und einem Hut mit drei Ecken, weißen Haaren bis auf die Schultern hinab, unterm Arm eine große Schachtel. Es kam herein, setzte die Schachtel auf den Tisch, zündete die große Lampe an, die über dem Tisch hing, machte die Schachtel auf, nahm einen Spiegel heraus und setzte ihn auf den Tisch, nahm alles heraus, was zum Rasieren notwendig ist. Es schlug Seifenschaum, zog das Messer auf, und dann zog es einen Stuhl unterm Tisch heraus und bedeutete dem, der im Bett lag, heranzukommen und auf diesem Stuhl zu sitzen. Auf den ersten Blick ging er nicht. Der Mann ging bis zur Türe, schaute zurück, und der andere machte einen Sprung aus dem Bett und setzte sich auf den Stuhl. Da kam jener, nahm den Kamm, kämmte die Haare, machte einen Scheitel von der Stirne bis hinunter ins Genick und schnitt mit der Schere die Haare bis auf den Schädel zurück. So machte er es auch mit den Augenbrauen. Nur eine Augenbraue schnitt er ab und auf der andern Seite den Schnauz, und dann nahm er das Messer und rasierte dort, wo er mit der Schere geschnitten hatte. Er reinigte und wusch ihn dann, ließ ihn in den Spiegel schauen, und da dieser sah, wie er dreinschaute, wurde er wütend wie ein Bösewicht. Beide sprachen kein Wort. Der Alte legte alles wieder in seine Schachtel, nahm diese unter den Arm und ging bis zur Türe. Der andere war mit einem Sprung auf den Füßen und bedeutete ihm ganz energisch, er solle herkommen und sich auf den Stuhl setzen. Der Jüngling machte mit dem Alten genau das gleiche, was dieser mit ihm gemacht hatte. Und als er ihn mit der Serviette abgetrocknet hatte, stand der Alte auf und sagte: »Nun bin ich erlöst. Ich habe Euch schwer beleidigt, ich sehe, daß Ihr erzürnt seid, aber ich mußte das tun. Auf diesem Schloß wohnte vor Jahren ein sehr wohlhabender Junker, und ich und noch ein anderer Bursche waren seine Bedienten. Wir hatten an vielen Tagen wenig oder nichts zu tun.

Der Junker, ein wenig leichtsinnig, hatte es gern lustig und befahl uns zweien, daß alle, die ins Schloß kamen, sich von uns dieser Arbeit, die ich an dir gemacht habe, unterziehen lassen müßten. Und da kamen viele Wanderer, die bei uns übernachteten, und wenn sie am Morgen



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hinaus mußten vor die Leute, so lachten die Leute sie aus, und das war für unsern Dienstherrn und für uns eine große Belustigung. Einmal traf es sich, daß ein Kapuzinerpater hier übernachtete, und wir machten mit ihm das gleiche. Dieser aber verfluchte uns und wünschte, daß wir dableiben müßten und noch nach dem Tode diese Arbeit machen, bis einer komme, der mit uns das gleiche mache. Mein Gefährte hat bald einen gefunden, der mit ihm das gleiche machte, und ich bin schon mehr als zwanzig Jahre tot, und du bist der erste, der den Mut hat, auch mit mir so zu tun. Und nun würdest du einen großen Lohn verdienen, aber ich bin nur ein Geist und habe nichts, um ihn dir zu geben. Aber im Herbst, an dem Tag, da Tag und Nacht gleich lang sind, ist im Dorf K ein großer Markt. Durch dieses Dorf zieht ein großer Fluß, ein Wasser, und eine Brücke verbindet die eine Seite mit der andern. Auf dieser Brücke wird dir gesagt werden, was du tun sollst, um zu Reichtum zu kommen.«Und dann fragte der Jüngling den alten, was mit jenen geschah, die ihre Arbeit nicht verrichteten. »Diese wurden getötet und in eine Zisterne hinuntergeworfen. Und nun ist das Schloß frei, es kann kommen, wer will, es geschieht nichts Böses.«

Und der Geist verschwand. Der andere ging ins Bett, konnte aber lange nicht schlafen.

Irgendwie schlief er aber ein, und als er erwachte, war's heller Tag. Er kleidete sich an und ging ins Gasthaus hinüber. Ein Teil der Leute, die getanzt hatten, waren immer noch dort. Und da er in die Wirtsstube trat, zeigte alles mit dem Finger auf ihn und lachte. Der Wirt fuhr auf und sagte, niemand dürfe diesen Mann auslachen, er wolle zuerst schauen, wie es stehe. Die beiden -der Wirt nahm den Mann beiseitesetzten sich allein an einen Tisch. Er ließ zu essen und zu trinken bringen, und der Mann mußte alles, was geschehen war, erzählen. Der Wirt fragte, ob er für die Befreiung des Geistes bezahlt worden sei. Und er sagte: »Nein!«Daß er auf jenen Markt gehen sollte, sagte er nicht und verschwieg es. Er sagte nur, daß von nun an das Schloß sicher sei. Der Wirt war sehr zufrieden, daß er noch viele Leute zum Übernachten in das Schloß hinüberschicken könne. »Bleib du nur hier bei mir, bis Haare und Bart wieder gewachsen sind, das kostet dich nichts.« Und er blieb, half das Feld bearbeiten, und da der Tag kam, da Tag und Nacht gleich lang waren, wollte er wegziehen. Der Wirt wollte ihn nicht gehen lassen, das habe keine Eile. Aber er sagte nicht, warum er gehen wolle. Der Wirt gab ihm noch ein schönes Stück Geld für die Arbeit, die er geleistet hatte. Und mit diesem Geld konnte er Kleider beschaffen und weiterreisen. Am andern Tag, gegen Abend, kam er in



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jenes Dorf, übernachtete in einem Gasthaus. Am Morgen früh verlangte er das Frühstück und ging auf jene Brücke.

Er war nicht lange dort, da kam ein Mann mit einem Holzbein. Dann kamen Marktleute, die über die Brücke gingen. Einige grüßten ihn, und die meisten sagten nichts und gingen vorüber. Der mit dem Holzbein bat um Almosen. Da es Mittag wurde, wagte es der Mann nicht, von der Brücke wegzugehen, und schickte einen Knaben um eine Flasche Bier, Brot und Käse, damit ja der richtige Augenblick nicht verlorengehe. Am Abend, da alles weg war und er nur mehr mit dem Mann mit dem hölzernen Bein dort war, sagte dieser zu ihm: »Sag mir, warum hast du heute den ganzen Tag auf dieser Brücke gestanden? Ich bin auch da gestanden und habe weder gekauft noch verkauft, aber ich habe um Almosen gebettelt, und du hast das nicht gemacht, nicht einmal dich getraut, zum Mittagessen zu gehen.« Der Mann, indem er dachte, der Geist hätte ihn betrogen, war ganz erzürnt und sagte zu dem Armen: »Ich habe in einer Nacht geträumt, daß ich heute auf diese Brücke kommen sollte, und da würde ich mein Glück machen.« Der Bettler sagte: »Ach, auf Träume kann man nichts geben, wenn ich auf Träume horchen würde, so wäre ich der reichste Mann, den es gibt. Ich habe in einer Nacht geträumt, ich sollte ins Dorf D gehen. Das ist ungefähr sieben Stunden von hier entfernt. Und bevor man zu diesem Dorf komme, treffe man ein großes Gut, Haus und Stall, und zwischen Haus und Stall eine große Scheune mit einem Tor oben und unten, so daß man mit dem Wagen auf einer Seite hinein und auf der andern Seite hinaus kann. Hinter einem dieser Tore seien ein Pickel und eine Schaufel. Ich sollte das nehmen und zum andern Tor hinaus in den Hof gehen, zwanzig Schritte vorwärts, und da sei ein Rosenstock mit weißen Rosen. Zwölf Schritte davon nach rechts sei ein großer Birnbaum, und vor diesem sollte ich zu graben beginnen, und ich würde bald auf eine Kiste Geld stoßen. Aber das«, sagte der Arme, »das sind Träume, und auf Träume kann man nicht achten.«Der andere behielt alles im Sinn, was der Arme gesprochen hatte, und am andern Tag ging er an diesen Ort. Vor Einbruch der Nacht kam er zu jenem einsamen Haus, und dieses war leer, niemand wohnte darin. Er ging hinzu und trat in jene Hütte hinein und fand Pickel und Schaufel. >Nun, ganz falsch ist es nicht<, meinte er. Er wartete noch ein wenig, bis es dunkler war, und ging hinaus und grub an dem bestimmten Orte. Als er die Grasdecke weggenommen, fühlte er mit dem Pickel, daß mehr als nur Erde unten war. Er deckte ganz sachte ab und griff mit der Hand hinunter, da war's ein eisernes Kistchen. Er griff hinein und nahm dann eine Handvoll Geld heraus,



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ohne es zu zählen. Dann machte er die Kiste wieder zu und legte den Rasen so gut er konnte wieder hin, stellte die Werkzeuge an ihren Ort und begab sich ins Dorf.

Beim ersten Gasthaus kehrte er dann ein, ließ sich zu essen bringen und verlangte zu übernachten. Er fragte dann den Wirt, ob niemand da draußen in diesem Haus wohne. Und dieser sagte: »Nein, schon mehrere Jahre nicht. Das gehörte einem großen Kaufmann, und dieser hatte dem Besitzer dieses Haus geliehen. Der Mann war nicht imstande, das Geld zurückzugeben, und der andere nahm das Haus, Stall und noch das umliegende Land. Dieser Kaufmann hatte auch einen Sohn gehabt, aber man hat nie etwas von diesem gehört. Der Kaufmann ist schon viele Jahre tot, und man weiß nicht, ob der Sohn lebt und wo er ist. Der jeweilige Dorfpräsident verwaltet allemal die Sache. Man sollte an Haus und Scheune große Ausbesserungen vornehmen, und das Land müßte man etwas instand stellen. Aber da es sozusagen niemandem gehört, so macht niemand etwas.« Der Jüngling ließ den Wirt nichts merken, daß er der Betreffende sei, und sagte zum Wirt, ob er meine, daß man das Gut zu kaufen bekomme. Und der Wirt sagte dann: »Ja, das mein' ich wohl, nicht mal so teuer.« Und der Jüngling sagte: »Mir würde das sehr gut gefallen.« Der Wirt sagte: »Dann gehe ich morgen mit Euch zum Präsidenten, und Ihr könnt dann trachten, mit ihm handelseinig zu werden.«

Am andern Tag gingen sie dann und brachten das Gespräch auf dieses Gut. Und der Wirt war bereit, es zu verkaufen. Der Jüngling sagte dann: »Aber wenn ich vielleicht der Sohn dieses Kaufmanns wäre?« Er nahm seine Schriften aus der Tasche hervor, und sie mußten sich überzeugen, daß er wirklich Erbe jenes Kaufmannes sei. Und dann war der Kaufvertrag bald gemacht. Er kehrte zurück mit dem Wirt und blieb dort bei ihm: er bleibe ein paar Tage bei ihm, wenn er bleiben könne. Der Wirt sagte: »Gern behalte ich dich bei mir. Du hast wahrscheinlich im Sinn, nach Hause in deinen Heimatort zu gehen.« Und er sagte: »Nein, irgendwann gehe ich dann, aber noch lange nicht. Ich möchte nun einen Haushalt gründen. Wenn Ihr mir eine tüchtige Frau zur Hand geben könntet, so wäre ich Euch dankbar. Frauen aus meinem Ort, die kenn' ich, und von diesen möchte ich keine.« Der Wirt sagte: »Ich wüßte schon eine, sie hat nur einen Fehler, und der ist, daß sie arm ist. Es ist ein sehr schönes, arbeitsames, sauberes, sparsames und in jeder Beziehung rechtes Mädchen.« Der Jüngling sagte dann zum Wirt: »Könntet Ihr vielleicht dieses Mädchen einen oder zwei Tage zu Euch kommen lassen, um gewisse Arbeiten zu verrichten, damit ich sie



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kennenlernen könnte?« Da sagte der Wirt: »Ja, das wollen wir machen.« Und er ließ sie kommen und im Hause reinigen, waschen und nähen. Dann sagte der Wirt, sie könnte auch die Zimmer oben besorgen, kehren und die Betten machen. Dann besorgte sie auch das Zimmer des Jünglings. Am Abend des dritten Tages sagte der Wirt dann zu ihr: »So, für eine Weile hätten wir Ruhe. Wenn du andere Arbeit hast, dann kannst du schon gehen, um sie zu verrichten, sonst gibt es bei mir immer etwas zu tun.« Das Mädchen sagte: »Zwei Tage habe ich dem Dorfpräsidenten versprochen, seine Frau hat Wäsche, ich sollte waschen helfen.« Der Wirt sagte dann unter anderem zum Mädchen: »Hast du auch schon mit dem Jüngling gesprochen, der bei mir im Hause ist?« Und sie sagte: »Wenige Worte, aber es scheint ein tüchtiger, guter Jüngling zu sein, er hat wirklich eine feine Art. Das wäre auf jeden Fall ein wackerer Mann.« Und der Wirt sagte dann: »Würde er dir gefallen?«Und das Mädchen sagte: »Ja, aber das hat keinen großen Sinn, nur mit einer Armen, wie ich bin, die einen Tag hier, den andern dort arbeiten muß, läßt es dieser nicht genug sein.« Der Wirt sagte: »Gut, ich will dafür sorgen, daß ihr zwei zusammenkommt. Du gefällst dem Jüngling sehr gut, und nur auf seinen Wunsch ließ ich dich zu mir arbeiten kommen.«Dann ließ er sie zusammentreffen, und sie sprachen miteinander und versprachen sich gegenseitig. Der Jüngling sagte: »Ein halbes Jahr müssen wir noch warten mit Heiraten, ich muß vorher das Haus herrichten lassen. Da braucht's Schreiner und Maler, eine neue Frau lasse ich nicht hinein, wie es gerade jetzt aussieht.« Er führe das aus, und nach einem halben Jahr heirateten sie, zogen ins Haus und waren sehr glücklich.

Einmal nahm er dann die Frau und fuhr mit ihr in der Kutsche in sein Heimatdorf. Er sagte nicht, wer er sei. Einem aber verriet er dann, wer er sei, und dann wußte es bald das ganze Dorf. Er ging ins Gasthaus. Und der Wirt fragte ihn, ob er das Haus zurückkaufen wolle, denn er steckte bis zum Hals in Schulden. Und er sagte: »Nein, nein, dieses Haus hat dir kein Glück gebracht, du hast es auch so irgendwie an dich gebracht.« Andere gaben sich als Freunde aus und sagten: »Weißt du noch jenes Mal?«Und andere Mädchen sagten: »Erinnerst du dich des Tages, da wir in der Kutsche fuhren?« — »Ja, ich erinnere mich schon noch an das, und ich erinnere mich auch, daß, als ich arm auf der Gasse stand, ihr ins Haus flohet, statt mir eine Tasse Kaffee zu geben. Ein Apfel war mein Nachtessen und ein Bündel Stroh mein Bett, während ich ein großes Gut für euch verschleuderte. Und wenn jemand mir eine gute Mahnung gegeben hätte, so hätte ich mich auch anders einstellen



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können. Aber solange von mir etwas zu nehmen war, hat alles nur genommen.« «Er beschämte viele an jenem Tag und kehrte mit seiner Frau nach Hause und war in jenem Ort ein sehr geachteter Mann.

Eines Tages sagte dann der Dorfpräsident: »Jetzt wollen wir zu jenem gehen, der dich in den Keller gesteckt hatte.« Sie stellten jenen und sagten: »Wir wollen Euer Alter berücksichtigen und Ihr bezahlt die Schuld, die Ihr zu bezahlen habt, sonst stecken wir Euch für ein paar Jahre ins Gefängnis, wie Ihr diesen Mann behandelt habt.« Da sagte er nicht, er sei nichts schuldig, und er versprach zu bezahlen, sobald er könne.


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