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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Reinhold, das Wunderkind

Ein Graf hatte drei Töchter. Die älteste hieß Adelheid, die zweite Luise und die dritte Elise. Durch schlechtes Haushalten kam der Graf in eine schlimme Lage, so daß er nichts mehr hatte. Und arbeiten, das wollte er nicht, er war zu vornehm. Sonst aber hatte er nichts zum Leben. Da dachte er, er wolle auf die Jagd gehen, das täten auch die Vornehmen (Adeligen)!

Eines Tages ging er in einen Wald. Den ganzen Tag aber fand er keinen Schwanz. Am Abend machte er sich auf den Heimweg. Es wurde Nacht. Kurz bevor er den Wald verließ, kam ein Bär daher, hielt ihn auf und sagte, er müsse ihm sofort etwas versprechen, sonst fresse er ihn auf. Da fragte er, was er ihm denn versprechen müsse. Da meinte der Bär, das müsse er versprechen, ohne daß er wisse, was. Und der Graf hatte Angst vor dem Bären und versprach es. Da eröffnete ihm der Bär, er hätte ihm seine Tochter Adelheid versprochen, die älteste, und in drei Tagen werde er sie holen. Der Graf ging heim, indem er nachdachte, was das doch für ein kurioser Bär sei. Zu Hause angekommen, erzählte er, es sei so und so gegangen. Er habe den ganzen Tag kein einziges Tier gesehen. Und am Abend sei er einem Bären begegnet, der ihn gezwungen habe, etwas zu versprechen, ohne zu wissen, um was es sich handle, sonst würde er ihn auffressen. Er hätte dann die Sache versprochen, und der Bär habe ihm bedeutet, nun hätte er ihm seine Tochter Adelheid versprochen. In drei Tagen werde er sie holen. Aber er sagte nichts, weder woher er komme noch wer er sei. Nun, sie warteten die drei Tage lang, nachdenkend, was geschehen könnte. Am dritten Tag, nachmittags, kam plötzlich eine Kutsche gegen das gräfliche Schloß gefahren. Und sie dachten: >Ja, was soll das sein, daß da plötzlich eine Kutsche kommt.< Sie hatten schon längst keine Besuche mehr gehabt. Die Kutsche hielt an, und es trat ein Jüngling heraus, ging hinauf und in die Stube, nahm Adelheid unter den Arm und verschwand mit ihr, mir nichts, dir nichts, zur Tür hinaus. Anfänglich waren sie ganz erstaunt, dann aber rannten sie ihnen nach, um sich nach dem Wie und Warum zu erkundigen, aber die Kutsche war schon weg. Nun begannen die Eltern und Schwestern zu weinen und zu klagen. Dann aber fanden sie hinter der Haustür einen Sack voll Geld. Da dachten sie: >Nun wollen wir das Geld nehmen und Gastmähler feiern und von da und dort her Herrschaften einladen.<Dann würden sie vielleicht eher herausfinden, wo das Mädchen wäre und was für ein Herr das sei, der mit dem Mädchen auf und davon gegangen war. Aber es



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kam niemand, der sagen konnte, wo das Mädchen sei. Und das Geld ging zur Neige. Da dachte der Vater: >Nun, mit der Zeit muß ich halt doch wieder auf die Jagd gehen.<Und er begann, in den Wald hineinzugehen, um zu sehen, ob er die Tochter fände. Den ganzen Tag über sah er wieder kein einziges Tier. Am Abend, bevor er nach Hause ging, erschien ein Adler und sagte, er müsse ihm, ohne zu wissen, was es sei, sofort etwas versprechen, sonst steche er ihm die Augen aus. Dem Grafen fuhr es augenblicklich durch den Kopf: >Wer weiß, ob es eine deiner drei Töchter wäre<, und er entgegnete, ohne zu wissen, um was es sich handle, könne er nichts versprechen. Der Adler aber meinte, wenn er nicht sofort das Versprechen gebe, so steche er ihm die Augen aus. Nun, der arme Mann wollte sich nicht gerade die Augen ausstechen lassen und dachte: >Na, irgendwie will ich mich diesmal wohl vorsehen, daß er nicht die Tochter stehlen kann, ohne daß ich weiß, wohin er geht und wer er ist.< Und er tat das Versprechen. Da eröffnete ihm der Adler, er habe ihm seine zweite Tochter, die Luise, versprochen, und in fünf Tagen werde er sie holen. In Gedanken versunken ging der Graf heimwärts. Sobald er heimkam, fühlten die Seinen, die Mutter und die Töchter, sofort, daß ihm etwas fehlte. Er aber wollte nicht sofort mit der Sprache herausrücken. Doch letzten Endes mußte er es sagen und erzählte, es stehe so und so. Er habe seine zweite Tochter versprechen müssen, um sich nicht die Augen ausstechen zu lassen. Und das Mädchen meinte, da habe er recht gehabt, denn ohne Augen hätte er ja doch nichts mehr tun können, und diesmal wollten sie doch schauen, daß niemand sie hole. Sie waren aber doch alle die fünf Tage hindurch recht traurig. Am Nachmittag des fünften Tages schlossen sie die Türe ab, damit niemand hereinkönne, und warteten. Auf einmal hörten sie wiederum eine Kutsche mit wunderbarem Geschell vor dem Hause halten. Ein Jüngling entstieg dem Wagen, klopfte an die Türe, diese öffnete sich, und der Jüngling trat ein, nahm Luise unter den Arm und ging auch mit ihr fort. Die Eltern und die andere Tochter begannen zu schreien, sprangen ihm nach, aber das Mädchen war schon fort und verschwunden. Sie fanden wiederum einen Sack voll Geld, noch mehr als das letzte Mal. Sie wurden wieder einig, Feste und Gastmahle und Bälle zu veranstalten und alle möglichen Adeligen und Herren einzuladen, aus allen Nationen, um daraufzukommen. Aber das Geld ging zu Ende, und von den Töchtern wußte niemand Nachricht zu geben.

Der arme Mann mußte nun wiederum auf die Jagd gehen. In jenen Wald aber, sagte er sich, gehe er nicht mehr. Und er ging in einer anderen Richtung. Gegen Abend kam er zu einem See. Er hatte den ganzen



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Tag nichts gefunden und ging nun diesen See entlang und dachte, es könnte vielleicht eine Wildente oder ein Vogel oder irgendein Fisch auftauchen, die er schießen könnte, aber er fand nichts. Gerade da er heimkehren wollte, erschien ein unheimlich großer Fisch und eröffnete ihm, wenn er nicht sofort etwas verspreche, so verschlinge er ihn lebendig. Der Graf dachte sofort: >Das ist dein drittes Töchterlein< und wollte fliehen. Aber der Fisch rief: »Versuche nur nicht zu fliehen, denn ich halte dich; wenn du mir nicht sofort das Versprechen gibst, so verschlinge ich dich!« Der arme Mann konnte nichts anderes tun, als das Versprechen abgeben, und er erkundigte sich, was er denn versprechen müsse. Das müsse er tun, ohne zu wissen, um was es sich handle, meinte der Fisch, und zwar augenblicklich, sonst würde er verschlungen. Da versprach es der arme Graf. »Gut«, meinte der Fisch, so habe er ihm seine dritte Tochter Elise versprochen, und in sieben Tagen werde er sie holen.

Ganz traurig zog der Vater heimwärts. Doch dachte er: >Ein Fisch kann ja nicht ans Land kommen.< Sobald er heimkam, merkten die Mutter und die Tochter sogleich, daß ihm etwas fehlte. Er wollte nichts sagen, aber schließlich dachte er: >Das nützt alles nichts, ich muß es bekennen.< Und er erzählte, daß vor der Heimkehr das und das vorgefallen sei. Ein Fisch sei gekommen und habe gesagt, wenn er nicht das und das verspreche, so verschlinge er ihn sofort bei lebendigem Leibe. Er habe schon gedacht, daß das seine dritte Tochter sein werde, was er versprechen müsse, aber sich einfach verschlingen lassen, habe er doch nicht wollen. Und der Fisch habe gesagt, in sieben Tagen werde er die Tochter holen. Er, der Vater, habe das Versprechen nicht gern gegeben, aber er sei dazu gezwungen gewesen. Und das Mädchen sagte: »Nun, da hast du recht gehabt, dich einfach so verschlingen zu lassen, davon hättest du ja doch nichts gehabt. Und ich werde irgendwie schon loskommen!« Sie warteten nun zwei, drei Tage und begannen dann das Schloß verriegelt zu halten. Sie verschlossen Fenster und Läden, um glauben zu machen, es sei niemand da. Die Tore verriegelten sie mit Ketten. Ja, zuletzt wagten sie nicht einmal mehr, Feuer zu machen, damit man nicht merke, daß jemand im Hause sei, der Feuer mache. Und doch dachten sie: >Ein Fisch kommt nicht ans Land<, und hatten doch noch Hoffnung. Am siebenten Tage waren sie ganz traurig, denn sie wußten nicht, was eintreten werde. Plötzlich hörten sie einen Wagen mit noch viel schönerem Geschell als der frühere vorfahren. Sie hörten drei Schläge an der Türe, und darauf trat ein Jüngling herein, nahm Elise unter den Arm und fort mit ihr. Die Eltern waren in heller Verzweiflung,



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aber das Mädchen war weg. Sie fanden wiederum, daß er einen Haufen Geld zurückgelassen hatte, noch viel mehr als die beiden andern. Da dachten die Eltern, es nütze nichts, Feste zu veranstalten, die Mädchen würden doch nicht mehr zum Vorschein kommen, und mit dem Geld könnten sie beide noch etliche Jahre leben.

Da bekamen die beiden plötzlich noch einen Knaben, den sie Reinhold nannten. Es war ein wunderschönes Knäblein, und alle Leute staunten, was das für ein schönes Knäblein war. Der Knabe wuchs heran, begann in die Schule zu gehen und hatte ein ganz außerordentliches Talent. Er übersprang alle Klassen, und alles wunderte sich ob des Talentes und ob der Schönheit des Knaben, und man begann ihn »Reinhold, das Wunder« zu nennen. Nach Beendigung der Volksschule begann er auf höhere Schulen zu gehen, und auch hier übersprang er die Klassen. So kam er ins Alter von siebzehn, achtzehn Jahren. In den Ferien kam er nach Hause und merkte bald, daß Vater und Mutter irgendwie nicht ganz zufrieden waren. Er begann zu fragen, ob sie nicht zufrieden seien, ob er zuwenig studiere oder ob er zuviel Geld brauche oder was ihnen denn fehle. Die Eltern sagten: Nein, nein, ihnen fehle nichts, sie seien schon zufrieden. Um ihm keine Sorgen zu machen, wollten sie ihm nichts sagen und erzählten ihm nichts von seinen drei Schwestern. Und auch die andern Leute, niemand sagte etwas. Er zog wiederum zur Schule nach Abschluß der Ferien, war fleißig und sparte, was er konnte. Als er wieder heimkehrte, waren sein Vater und seine Mutter immer noch nicht zufrieden. Das merkte er, denn er war jetzt auch älter geworden.

Er begann sich wiederum zu erkundigen und meinte, es müsse ihnen sicher etwas fehlen. Aber sie wollten nicht heraus mit der Sprache. Da begann er andere Leute zu fragen, aber niemand sagte ihm etwas. Alles meinte, seine Eltern seien schon zufrieden. Er zog wiederum zur Schule. Alles liebte ihn, Lehrer, Professoren und Schüler. Niemand verursachte ihm Ärger. Da kehrte er wieder heim und sah, daß sein Vater und seine Mutter nicht zufrieden waren. Wiederum begann er zu fragen und meinte, er sehe, daß ihnen etwas fehle. Nun mußten sie endlich doch mit der Sprache heraus und sagten, er habe drei Schwestern gehabt, die gestohlen worden seien, und niemand wisse etwas von ihnen. Dann wolle er sie suchen gehen, entgegnete Reinhold, er müsse sie finden. Vater und Mutter begannen sofort, ihm das abzuraten, und warnten ihn: Das solle er nicht tun, sonst komme er vielleicht auch ums Leben, und dann hätten sie gar niemand mehr. Er aber beharrte auf seinem Plan und rief: Doch, doch, er gehe, er ziehe zwar nicht allein los,



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denn er finde schon Gefährten, die mit ihm kämen. Und jetzt sei er zwanzig Jahre alt und wisse sich schon zu verteidigen. Und er ging und fragte noch neun seiner Mitschüler, ob sie nicht mit ihm kämen, um seine Schwestern zu suchen. Er erzählte ihnen, wie die Sache stehe, und wahrhaftig, alle neun gingen mit ihm. Er sei ein guter Kamerad, meinten sie, und sie kämen gerne mit, um zu helfen, seine Schwestern zu suchen.

Sie machten sich auf den Weg zum Walde, wo die älteste Tochter war. Alle waren zu Pferd. Sie brannten darauf zu sehen, ob sie den Bären bezwingen könnten. Den ganzen Tag durchstreiften sie den Wald, nachdem sie sich verabredet hatten, sich an einem bestimmten Ort wiederzutreffen. Am Abend, als sie zusammentrafen, um unverrichteterdinge wieder heimwärts zu ziehen, erschien der Bär und überfiel sie. Einer floh auf diese, ein anderer auf die andere Seite. Und Reinhold geriet statt aus dem Wald immer tiefer in diesen hinein. Seine Kameraden flohen, um dem Bären zu entgehen. Reinhold ritt ein Stück in den Wald hinein und kam auf einen Fußweg. Er ritt auf diesem Weg weiter und kam zu einem Garten, neben dem sich eine Höhle befand. Er schritt zu dieser Höhle hin und rief hinein: »Meine liebe Schwester Adelheid, wenn du da drin bist, so komm heraus, denn da ist dein Bruder Reinhold, das Wunder, der dich suchen geht!« Da kam eine Frau aus der Höhle und sagte: »Was, du mein Bruder, der Sohn des Grafen Soundso?« —»Ja!« sagte er. Und die Schwester rief: »Dann fliehe um Himmels willen, denn wenn mein Mann kommt, heute abend ist er noch Bär und frißt dich auf. Wenn du morgen gekommen wärest, dann wäre er Mann gewesen.« Da fragte Reinhold: »Ja, wohin soll ich denn fliehen, ich weiß nicht wo ein und wo aus.« — »Dann fliehe auf jene Seite, so findest du eine Hütte, und dorthin will ich versuchen, ihn heute abend nicht gehen zu lassen«, riet ihm die Schwester. Kaum war er weg, so erschien der Bär. »Adelheid, hier ist jemand, den muß ich noch verspeisen!« rief er. »Ach, was kommt denn dir in den Sinn? Ich bin nun mehr denn zwanzig Jahre hier und habe nie einen Menschen gesehen, und du behauptest, hier seien Leute. Diesen Geruch wirst du sonstwie in deiner Nase haben. Du wirst heute wohl genug im Walde herumgestreift sein und Menschen beraubt haben. Komm jetzt zum Nachtessen, das ich schon längst bereitet habe. Ich bin müde und habe heute viele Hausgeschäfte verrichten müssen.« So sprach seine Frau, und der Bär meinte: »Und ich bin auch müde, ich mußte heute abend einen Trupp Reiter bekämpfen und habe alle versprengt.« — »Siehst du«, sagte Adelheid, »dann hast du ebendiesen Geruch in der Nase und



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im Fell.« Der Bär ging nun ganz beruhigt zum Nachtessen und legte sich dann schlafen.

Am andern Morgen sagte Adelheid, sobald sie aufgestanden waren: »Mein lieber Mann, verzeih mir, denn gestern abend habe ich dich angelogen.« — »Was, gelogen hast du?« rief der Mann. »Das ertrage ich nicht, dann könnte es dir schlimm ergehen.« Und die Frau erzählte: »Ja, das ist nun so. Gestern abend war ein Jüngling da und sagte, er sei mein Bruder, und ich habe ihn nie gesehen und habe ihn nicht erkannt.« Da erwiderte er: »Nun, da hast du recht gehabt; wo ist er denn?« —»Ja, ich habe ihn in jene Hütte geschickt«, meinte sie. »Dann hol ihn her, und die drei Tage, da ich Mensch bin, kann er hier bei uns bleiben.« Sie gingen hin und riefen den Bruder und sahen, daß es ein sehr schöner Jüngling war. Und der Bär sagte ihm, die drei Tage, da er Mann sei, könne er bei ihnen bleiben; denn er sei drei Tage Mann und drei Tage Bär. Reinhold wurde sehr gut gehalten während dieser drei Tage. Die zwei erkundigten sich nach Vater und Mutter und fragten, wie es gehe. Am Ende des dritten Tages sagte der Bär am Nachmittag: »Nun, mein lieber Jüngling, mein lieber Schwager, nun mußt du fort, denn morgen bin ich wiederum Bär, und ich müßte dich zerreißen, so weh es mir auch täte.« Sie begleiteten ihn ein Stück weit des Weges. Nach einer Weile sagte der Bär, er müsse zur bestimmten Stunde zu Hause sein, und sie nahmen Abschied. Vor der Trennung gab der Bär dem Reinhold drei Haare und sagte: »Nimm diese drei Haare, und für den Fall, daß du in Gefahr kommen solltest, reibe diese drei Haare, so werde ich dir zu Hilfe eilen.« Der andere nahm die drei Haare, steckte sie in seine Brieftasche und sagte: »Das könnte vielleicht noch von Nutzen sein!«, denn, sagte er, er wolle die drei Schwestern suchen, und bis er nicht alle drei gefunden habe, gehe er nicht heim, und nun suche er die beiden andern. Dann nahm er Abschied und ging. Er zog weiter. Die andern trugen ihm noch auf, Vater und Mutter zu grüßen und ihnen zu sagen, es gehe ihnen gut.

Am nächsten Tag kam Reinhold zu einem großen Baum und sah, daß in diesem Baum ein großes Nest war. Er dachte: >Wer weiß, ob da oben nicht deine Schwester Luise ist.< Da schrie er hinauf: »Meine liebe Schwester Luise, wenn du da oben bist, so komm herab, denn da ist dein Bruder, Reinhold, das Wunder, der dich suchen geht!«Darauf erschien eine Frau am Nestrand, schaute herunter und sagte: »Was, du mein Bruder, Sohn des Grafen Soundso? Dann fliehe um Himmels willen, denn heute abend ist mein Mann noch Adler, und wenn er dich erwischt, dann hackt er dir die Augen aus. Morgen, wenn du gekommen



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wärest, dann wäre er Mann gewesen.« Und Reinhold meinte: »Ja, wohin soll ich denn fliehen? Ich bin hier ganz verloren in diesem Wald und weiß nicht wo ein und aus.« — »So fliehe auf jene Seite«, rief die Schwester, »da findest du eine Hütte, und dahin will ich versuchen, ihn heute abend nicht hingehen zu lassen.« Und Reinhold floh, kam zu dieser Hütte und blieb dort über Nacht.

Kaum war er weg, so flog der Adler herbei. »Luise, ich rieche, daß hier jemand in der Nähe ist, ich muß noch gehen und dem die Augen aushacken!« rief der Adler. »Was kommt denn dir auch in den Sinn?« meinte seine Frau, »ich bin nun schon mehr denn zwanzig Jahre hier und habe nie einen Menschen gesehen. Komm du lieber zum Nachtessen, ich hab's schon längst zubereitet und bin müde.« —»Ah«, entgegnete der Adler, »ich riech' einfach, daß jemand da ist, dem muß ich noch die Augen auskratzen.«Und die arme Frau sagte immer wieder: »Nein nein, komm nur, hier ist niemand«und begann ihm die Federn zu streicheln und ihn zu bitten, er möchte doch kommen. Langsam ging dann der Adler zum Essen, und sie gingen zu Bett.

Am Morgen, sobald sie wach waren, sagte sie: »Mein lieber Mann, gestern abend sagte ich dir eine Lüge.« — »Nun, Lügen sage keine«, erwiderte er, »das ertrage ich nicht, sonst könnte es dir schlimm ergehen.« »Nun«, meinte sie, »gestern abend erschien hier ein Jüngling und sagte, er sei mein Bruder, und ich wollte ihm nicht die Augen ausstechen lassen und habe ihm gesagt, er solle in jene Hütte fliehen, da du ja heute Mensch bist.« —»Nun, so hole ihn her«, entgegnete der Adler, »die fünf Tage, da ich Mann bin, kann er bei uns bleiben.« Sie ging weg und kehrte mit Reinhold zurück. Da meinte der Adler: »Das wäre doch schade gewesen, wenn ich diesem schönen Jüngling hätte die Augen heraushacken müssen. Und nun, die fünf Tage, die ich Mann bin, kannst du hier bei uns wohnen.« Reinhold blieb dort und erzählte, wie es zu Hause gehe bei Vater und Mutter. Dann erzählte er auch, wie es ihm ergangen sei und daß er Adelheid gefunden habe. Er wurde sehr gut gehalten, wie ein guter Gast, während dieser fünf Tage. Am fünften Tage sagte der Adler: »Nun, mein lieber Junge, nun mußt du weg, denn morgen bin ich wiederum Adler, und wenn ich dich hier finden würde, müßte ich dir die Augen aushacken, obwohl ich wüßte, daß du mein Schwager bist.«Reinhold machte sich auf den Weg. Sie begleiteten ihn ein Stück weit, sagten, er solle Vater und Mutter grüßen, wünschten gut Glück, und vor der Trennung gab ihm der Adler drei Federn und sagte: »Hier hast du drei Federn, wenn du in eine Gefahr kommen solltest, so reibe diese drei Federn zusammen, so werde ich dir zu Hilfe



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eilen.«Der andere nahm die Federn und steckte sie zu den Bärenhaaren in die Tasche. Dann machte er sich auf den Weg, um weiterzuziehen und die dritte Schwester zu suchen.

Am andern Tag kam er zum See. Er ging um den See herum, um zu schauen, wo die Schwester sein könnte. Da kam er auf einem Weg, der direkt in den See hineinführte. Er schritt auf dieser Straße und sah im See einen Stein mit einem Loch. Da dachte er: >Wer weiß, ob da drin deine Schwester Elise ist.< Er rief: »Meine liebe Schwester Elise, wenn du da drin bist, so komm heraus, denn hier ist dein Bruder Reinhold, das Wunder, der dich suchen geht!« Da erschien eine Frau an jener Höhle und sagte: »Was, du mein Bruder, der Sohn des Grafen Soundso? Dann fliehe um Himmels willen, bevor mein Mann kommt, denn heute abend ist er noch Fisch, und wenn er dich hier vorfände, so würde er dich ganz und gar verschlucken.«

»Ja, wohin soll ich denn fliehen?«meinte Reinhold. »Ich bin hier verloren in diesem Wald und weiß nicht wo ein und aus!«Und die Schwester sagte: »So flieh auf jene Seite, dort findest du eine Hütte, und ich will schauen, daß er heute nacht nicht dorthin kommt.« Kaum war er fort, so erschien der Fisch und rief: »Elise, hier ist jemand in der Nähe, den muß ich noch verschlingen!« — »Was denkst du nur«, entgegnete die Frau, »ich bin schon mehr als zwanzig Jahre hier und habe nie einen Menschen gesehen.« Doch der Fisch wollte es nicht glauben und rief: »Nein, ich rieche, daß jemand in der Nähe weilt, und den möchte ich noch verschlingen.« Da begann sie seine Flossen zu streicheln und bat und bettelte, aber es machte ihr Mühe, ihn zum Nachtessen zu locken. Schließlich gelang es ihr doch, ihn zu beruhigen und ihn zum Nachtessen und ins Bett zu schicken.

Am Morgen, kaum waren sie aufgestanden, sagte sie: »Sei mir nicht böse, aber gestern abend habe ich dich angelogen.« —»Lügen solltest du nicht, sonst könnte es dir schlimm ergehen!« meinte der Mann. Doch die Frau antwortete: »Gestern abend erschien hier ein Jüngling und sagte, er sei mein Bruder, und ich hab' ihn nie gesehen und nie gekannt. Und da ich wußte, daß du heute Mann bist, habe ich ihn da und da hin fliehen lassen.« —»Nun, so hole ihn«, meinte er, »und während der Tage, da ich Mensch bin, kann er hier bei uns bleiben.«Sie ging und rief den Bruder. Und der Fisch meinte: »Es wäre beinahe schade gewesen, einen so schönen Jüngling zu verschlingen, da hast du recht gehabt, zu lügen und zu sagen, es sei niemand hier.« Und zu Reinhold sagte er: »Nun, die sieben Tage, da ich Mann bin, kannst du hier bei uns bleiben, denn ich bin sieben Tage Mensch und sieben Tage Fisch.« Reinhold



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blieb die sieben Tage dort und erzählte, wie es ihm ergangen sei. Er berichtete, er hätte die beiden andern Schwestern gefunden, und nun, da er alle gefunden habe, wolle er heimkehren und Vater und Mutter berichten, wie es ihnen gehe. Es ging ihm gut bei der Schwester und ihrem Mann, er hatte gutes Essen und feine Sachen zu trinken. Am siebenten Tage sagte der Fisch: »Nun, mein lieber Junge, nun mußt du gehen, denn morgen bin ich wiederum Fisch, und wenn ich dich hier finden würde, müßte ich dich verschlucken, auch wenn ich wüßte, daß du mein Schwager bist.« Ein Stück weit begleiteten sie ihn. Bevor sie Abschied nahmen, zog der andere drei Flossen aus und sagte: »Hier hast du drei Flossen, und im Falle, daß du in Gefahr kommen solltest, so reibe diese drei Flossen zusammen, so werde ich dir zu Hilfe eilen.« Reinhold legte die Flossen zusammen mit den Federn und den Haaren in seine Brieftasche, nahm Abschied und zog weiter.

Plötzlich kam er zu einer Straße, auf eine schöne breite Straße. Auf dieser Straße schreitend, kam er zu einem großen Felsen, der wie ausgemeißelt war. Reinhold schaute zu diesem Felsen hinauf und blickte sich um. Auf einmal schoß ein Wolf daher und wollte ihn packen. Er jagte sein Pferd gegen einen Baum und schwang sich auf den Baum hinauf, denn er merkte, daß der Wolf ihn und nicht das Pferd wollte. Der Wolf aber stand unter dem Baume und kratzte daran, um ihn umzuwerfen, damit er herunterfalle und er ihn packen könne. Plötzlich fielen Reinhold die Haare, die Federn und die Flossen ein, und er nahm sie heraus und rieb alle diese Sachen zusammen. Und im gleichen Augenblicke waren die drei Tiere da. Der Bär sprang hinzu und zerriß den Wolf in Stücke. Aus dem Leib des Wolfes flog eine Taube und flog über den See hin. Ober dem See ließ sie ein Ei fallen. Der Fisch sprang hin und fing das Ei auf, bevor es ins Wasser fiel, denn wäre es ins Wasser gefallen, dann hätte er es nicht mehr gefunden. Der Fisch übergab das Ei dem Adler. Dieser zerbrach das Ei und nahm einen Schlüssel heraus, den er Reinhold übergab. Darauf verschwanden die drei.

Reinhold kletterte vom Baum herunter, betrachtete diesen Schlüssel und sagte: »Was mag nur dieser Schlüssel bedeuten!«Er blickte um sich und sah statt des Felsens ein großes Schloß. Da dachte er: >Wer weiß, ob dieser Schlüssel für das Schloß ist<, ging zum Tor hin und richtig, der Schlüssel paßte. Nun ging er ins Schloß, schaute herum und dachte: >In diesem Schloß wirst du wohl jemand finden.< Er fing an zu rufen, durchschritt alle Zimmer, öffnete alle Türen, aber da war niemand. Er begann wieder zu rufen. In einem Zimmer, das er schon gesehen hatte, fand er nun einen Vorhang. Er ging hin und zog diesen Vorhang zurück



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und dachte: >Ob vielleicht jemand da hinten ist?< — Da lag ein wunderschönes Mädchen und schlief. Reinhold dachte: >Die wird wohl wach werden.< Dann schritt er im Zimmer auf und ab, hustete, schritt fest. Nichts. Er schaute wiederum und fragte sich: >Schläft sie oder ist sie tot?< Sie atmete ganz ruhig. Wiederum schritt er im Zimmer auf und ab. Auf einmal erblickte er an der Wand eine Tafel (Bild). Er wollte schauen, was auf dieser Tafel geschrieben stehe, aber er konnte kein Wort lesen. Da dachte er: >Was ist denn das, ich bin doch zur Schule gegangen, habe so viele Schulen besucht, so daß mich niemand mehr etwas lehren konnte, und nun, da ich die erste Inschrift lesen will, bringe ich kein Wort heraus.<Er war etwas aufgeregt und auch wütend, weil er nichts lesen konnte, und ergriff sein Schwert und führte einen Streich gegen die Tafel. Diese fiel -kling, kling -in tausend Stücke auf den Boden.

Daraufhin erwachte das Mädchen und kam herzu und sprang ihm um den Hals und rief: »Mein teurer Retter, mein teurer Retter!« Da vernahm er Lärm von außen, hörte schießen und spielen und jauchzen. »Was bedeutet denn das?« meinte er. Da aber kamen auch schon die drei Brüder, seine drei Schwäger mit den Schwestern zur Türe herein und riefen auch: »Mein lieber Retter, mein lieber Retter!« — »Ja, wie ist denn das, wie?«erkundigte er sich. »Nun schau, du hast uns befreit, schau nun zum Fenster hinaus«, riefen sie ihm zu. Reinhold schaute hinaus und erblickte statt des Waldes Dörfer und Städte und Land und fast keinen Wald mehr. Es war ganz eine andere Gegend. »Was ist denn das?« staunte Reinhold. Und da sagten die Brüder: »Das wollen wir dir erklären. Wir waren drei Brüder und eine Schwester. Da erschien ein Magier -das ist einer, der mit dem Teufel paktiert hat - und erbat unsere Schwester zur Braut. Die Schwester aber wollte nicht, und auch wir wollten sie ihm nicht geben. Da sagte er, er verwünsche uns mit samt dem Königreich für sieben Jahre. Wir drei Brüder müßten einer drei Tage Mann und drei Tage Bär, der andere fünf Tage Mann und fünf Tage Adler und der letzte sieben Tage Mann und sieben Tage Fisch sein, und unsere Schwester müßte sieben Jahre lang schlafen, ohne zu erwachen. Und sieben Jahre waren wir so verwünscht.

Nach sieben Jahren kam er wieder und rief uns alle vier zu sich. Wiederum erbat er unsere Schwester zur Braut. Wir weigerten uns wieder, noch energischer als das andere Mal. Da mußten wir nochmals sieben Jahre die gleiche Strafe erdulden. Dann kam er wieder. Und wir weigerten uns nochmals ganz und gar. Da verwünschte er uns zum dritten Mal. Und in diesen sieben Jahren ist er verendet. Und seither durften



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wir einen Menschen bei uns haben, und das waren deine drei Schwestern. Unsere Schwester aber mußte immerfort schlafen. Und indem du diese Tafel zerschlagen hast, wurde der Zauber gebrochen. Und nun, weil du uns gerettet hast, so gehört das ganze Reich dir, und wir geben dir, wenn du willst, unsere Schwester.« Da antwortete Reinhold: »O ja, euere Schwester, wenn sie mich will, werde ich sie freien, aber das Königreich will ich nicht, das könnt ihr in vier Teile zerlegen, ein jeder nehme seinen Teil.« Und damit waren die drei Brüder zufrieden. »Gut!«sagten sie, »nun wollen wir aber nach Hause gehen und Hochzeit feiern, damit Vater und Mutter wissen, daß wir noch am Leben sind.«Und auch die drei Brüder wollten richtige Hochzeit feiern, denn bis anhin hatten sie die Frauen nur gestohlen. Sie teilten das Königreich mit der Bedingung, daß, wenn einer Krieg beginnen wollte, er zuerst den Reinhold um Erlaubnis fragen mußte, jener mußte entscheiden. Und dann zogen sie heim und feierten Hochzeit. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch, daß man für sie die Totenglocke geläutet hätte, habe ich nicht gehört.


Copyright: arpa, 2015.

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