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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Der Hahn und die Henne

Frau Mengia hatte einen schönen Hahn mit wundervollen Federn. Diese glänzten in allen Farben. Er hatte auch einen schönen Doppelkamm. Er war ziemlich alt, sieben Jahre hatte er als guter Hirte seine Hennen gehütet, auf allen Wiesen herumgeführt, bis nach Plattas hinauf, wenn der Sperber nicht zu sehen war. Aber auch die Gluckhenne war eine gute Legerin gewesen in ihrer Jugend, das heißt als junge Henne. Nun war sie auch älter geworden, hatte viele Hähnchen ausgebrütet, aber noch mehr Hühnchen, und hatte so ihrer Herrin viele und schöne Hennen verschafft, ohne daß diese Küklein kaufen mußte. Darum konnte sich Frau Mengia nicht entschließen, weder das eine noch das andere abzutun, aus reiner Anerkennung. Und der Hahn machte den andern Hähnen jetzt noch Respekt, wenn sie kamen und in den Gärten herumschwatzten. Oberhaupt, unsere beiden Alten waren sozusagen Pensionäre, arbeiteten nicht mehr, genossen ihre Tage, indem sie an der Sonne lagen und an die schönen vergangenen Tage und Jahre dachten.

»Ich hätte eine große Lust, weißt, nach was?« sagte eines Tages die Gluckhenne. »Was du nicht sagst! Vielleicht, einen Tanz zu machen in deinen alten Tagen, überspannt genug wärst du schon?« — »Nein, aber noch einmal nach >Fuora da Uorch<hinaufgehen und Haselnüsse essen.« »Gut, gut, vorläufig sind diese noch lange nicht reif, und bis dahin haben die Buben alle abgerissen, so daß du nur Schalen ohne Kern essen kannst.« — »An mein Plätzchen gehen sie sicher nicht, mein Haselnußstrauch ist so sehr in den Bäumen versteckt und von Dorngestrüpp umgeben, daß sie nicht wagen, sich hineinzuzwängen. Aber wer weiß, ob er noch steht?« — »Für jetzt rechne nicht mehr, hinaufzugehen, später, gegen Ende September, wenn du deine Neugierde befriedigen willst und wenn es schönes Wetter ist, können wir den Ausflug immer noch unternehmen.«

Und richtig, eines schönen Tages, es war wirklich gegen Ende September, machte sich unser gutes Paar auf den Weg gegen »Fuora da Uorch«. Sie gingen über die Wiese, über die Kirchgegend hin und die Halde hinauf. Zu den Erlen hinaufgekommen, ziemlich müde, machten sie eine Pause, um zu verschnaufen. Das war ein schwerer Aufstieg gewesen. Dann gingen sie nach »Fuora da Uorch« hinunter in die Haselnüsse. Und da fanden sie auch jenen Haselnußstrauch der guten Henne unversehrt, voller Haselnüsse, Büschel von vier bis fünf Nüssen, beinahe braun und fast losgelöst von der Hülse. Das war eine Lust. Sie ließen



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es sich wohl schmecken, pickten den schönen großen Kern heraus und hatten bald ihren Kropf gefüllt. Das war ein Mahl. Nun machten sie eine Pause. Sie legten sich in die dürren Blätter nieder, unterhielten sich, indem sie Dummheiten machten, mit den Flügeln um sich schlugen und Witze erzählten: »Erinnerst du dich, als wir in Gesellschaft heraufkamen? Was für Zänkereien und Pickereien es da gab. Und wir Hennen mochten lachen und gifteln. Und dann, bevor's nach Hause ging, machtet ihr als höfliche Jungen die kleinen Wägelchen, um uns nach Hause zu ziehen. Und wir schmückten die Wagen mit Grün und Blumen. Das waren schöne Zeiten.« —»Ja, ja, tempi passati!« —»Du kannst vielleicht heute noch ein Wägelchen machen? Das wäre fein, im Wagen da hinunterzufahren.« —»Oho, so vergeßlich und unnütz bin ich denn doch nicht«, sagte der Hahn ganz beleidigt und begann sofort Räder, Sitz und Deichsel herzurichten. Und die Henne begann den Wagen mit Lärchenzweigen zum Dach zu schmücken, mit Ästchen voll Blättern und Blüten und mit Moos für den Sitz. Nun hieß es, den Wagen aus dem Gesträuch herauszubringen und hinaufschaffen zu den Erlen. Das ging schwer, aber dennoch brachten sie ihn hinauf. Und sofort setzte sich unsere Henne auf den Sitz und sagte: »Nun, mein Lieber, spann dich ein, daß wir gehen können, die Sonne geht bald unter, und es wird dann auch bald dunkel für uns.« — »Oha!« sagte der Hahn, »ist das so gemeint! Ich, der ich ein alter Mann bin, kann nicht so eine große Mühe ertragen, nein, nein, das glaube ja nicht, meine Liebe.« —»Ja, wer soll ihn denn ziehen, etwa ich, die ich eine alte Frau bin?«

Sie begannen nun zu streiten und zu gackern, so daß eine Gans, die gerade von Guarda herunterkam, nichts anderes glaubte, als daß der Hühnerkrieg ausgebrochen wäre. Sie stammte aus Guarda, wohnte aber in Susch. Sonntag für Sonntag kam sie her, um Neuigkeiten und Klatschereien zu sammeln, und sie machte dann reichlich Gebrauch davon, meist zum Schaden der anderen. Man nannte sie »Panflana«. Ganz Neugierde, hielt sie an und lachte: »Aber meine Lieben, ereifert euch nicht, gehen wir zusammen da hinunter, wenn es auch für mich Platz gibt. Unser Hahn als Kavalier zieht uns wohl, nicht wahr!« Der Hahn hätte am liebsten die Panflana über die Felsen hinuntergeschickt. »Glaubt Ihr, ich sei Euer Knecht, elende Schwätzerin, ich will Euch Mores lehren. Sofort kommt Ihr her an die Deichsel, Ihr seid jung und stark. Vorwärts ohne Umschweife.«Gesagt, getan, unser Hahn machte eins, zwei, packte sie an einem Flügel und - an die Deichsel. Alles Sträuben nützte nichts, er nahm eine biegsame Weidenrute, setzte sich mit einem Sprung auf den Sitz neben seine Gluckhenne, und vorwärts



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ging's. Unsere Gans, »nolens, volens«, mußte gehorchen, wenn sie nicht die Rute fühlen wollte.

Als sie zum Brunnen kamen, wollte sie anhalten, aber der Hahn schlug ihr eins um die Ohren, und vorwärts mußte sie. Weiter unten, neben dem Tuffelsen, sahen sie ein weißes Ding fliegen, aber sie erkannten niemand, es war schon etwas dunkel. »Wer kann das sein?«

Da sie näher kamen, erblickten sie eine kleine Eule auf einem Stein sitzend, die rief: »O laßt mich hinten aufsitzen, ich kann nicht mehr weiter, meine Füße brennen mir wie Flammen.« Die Gluckhenne und die Gans wollten nichts davon wissen und sagten: »Wahrscheinlich ist das wenig Gutes, wir wollen diese Gesellschaft nicht.« Der Hahn hingegen sagte ganz ritterlich: »Aber ja, mein liebes Jüngferchen, kommt nur herauf, aber nicht hinten, daß Ihr herunterfallen könntet. Hier ist Platz zwischen mir und meiner Frau. Ihr nehmt nicht viel Platz ein, schaut nur, daß Ihr uns nicht auf die Füße tretet, meine Frau hat Hühneraugen. Wenn Ihr der Frau auf die Füße tretet, werfe ich Euch den Abhang hinunter. Und nun vorwärts, Panflana, ohne Zögern, wir wollen wach nach Hause kommen.«

Sie kamen in die Ebene hinunter, da läutete die Abendglocke. Nun machten sie rasch. Panflana schrie vor Wut: »Wer weiß, wann ich nach Hause komme?«Aber auch unser altes Paar dachte: >Bevor wir ins Dorf hinunterkommen, haben sie das Türchen geschlossen, und dann?< Am Dorfeingang hielten sie an, um zu beraten. Nun war's ganz dunkel, und sie beschlossen, in den Hühnerstall von Frau Leta, der gewöhnlich offen stand, zu gehen, um zu übernachten. Und so machten sie es. Das Wägelchen warfen sie über den Hang des Herrn Jon St: . Panflana setzte sich auf einen Abfallhaufen, der Hahn und die Henne setzten sich auf die Deichsel der Egge, und die Eule hockte auf einem Pfosten. Bald waren alle in tiefem Schlaf.

Am Morgen vor Tagesanbruch erwachte der Hahn, der immer früh auf war, machte eine Untersuchung, ob die Gans vielleicht ein Ei gelegt hätte. Diese Ärmste hatte wirklich ob der großen Strapazen ein unreifes Ei gelegt, aber er hob es weg, ohne Panflana, die tief und fest schlief, zu wecken. Dann rief er seiner Gluckhenne ins Ohr, und fort hinaus über die Wiese. Und sie kamen gerade nach Hause, da Uorschla das Türchen öffnete. Sie gingen rasch ins Haus, froh, daß sie wegeilen konnten, ohne daß Panflana wußte, wer sie waren, sonst hätte sie ihnen keine Ehr mehr gelassen. Und die arme Eule? Allein wird sie sich nicht vom Pfosten losgemacht haben können. Sie wird noch dort sein.


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