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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


26. Die Wohlhabenheit

Ein sehr reicher und vornehmer Mann hatte einen Sohn, der war erwachsen. Da wählte der Vater ein Mädchen aus einer anderen ebenfalls sehr wohlhabenden und reichen Familie und schlug es seinem Sohne zur Ehe vor. Der Sohn sagte: "Ich will es mit ihm versuchen." Der Sohn wurde mit dem Mädchen verheiratet. Als sie in der Brautkammer waren, fragte der junge Mann die junge Frau: "Was denkst du nun, das wir anfangen, wenn das Geld meines Vaters zu Ende ist?" Die junge Frau lachte und sagte: "Zunächst. haben wir noch genug Geld. Über diese Frage nachzudenken wird Zeit werden, wenn wir das vorrätige verbraucht haben." Am andern Tage sandte der junge Mann die junge Frau zu seinem Schwiegervater zurück und ließ ihm sagen: "Ich kann deine Tochter nicht gebrauchen."

Der Vater des jungen Mannes war erstaunt über diese energische Erklärung und verheiratete ihn nach einiger Zeit wieder mit einem jungen Mädchen aus einer wohlhabenden, vornehmen Familie. Der junge Mann legte dieser aber, just wie der ersten, die Frage vor: "Was denkst du nun, das wir anfangen, wenn das Geld meines Vaters verbraucht ist?" Die junge Frau antwortete wie die erste: "Zunächst haben wir noch genug Geld. Über diese Frage nachzudenken wird Zeit werden, wenn wir das vorrätige verbraucht haben." Der junge Mann sandte diese aber wie die erste junge Frau am anderen Tage seinem Schwiegervater zurück und ließ sagen: "Ich kann deine Tochter nicht gebrauchen."

Der Vater des jungen Mannes war sehr betrübt über diese zweite, ihm unverständliche Ehescheidung. Er verheiratete seinen Sohn mit einem dritten, mit einem vierten, mit einem fünften, mit einem sechsten und mit einem siebenten Mädchen aus wohlhabender und angesehener Familie, und immer sandte der Sohn die junge Frau am andern Tage dem Schwiegervater zurück und ließ ihm sagen: "Ich kann deine Tochter nicht gebrauchen."

Als sich das nun zum siebenten Male wiederholt hatte, wurde der Vater des jungen Mannes sehr zornig und schwur: "Das nächste Mal werde ich dich mit dem ersten besten Mädchen, das mir auf der Straße begegnet, verheiraten, und es soll mir gleich sein, wenn sie auch aus noch so erbärmlicher Familie stammt." Der Vater hielt seinen Schwur. Als er am nächsten Tage aufstand und sein Gehöft verließ, begegnete er der Tochter eines Lederarbeiters (= acherass,



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eine bei den Kabylen sehr wenig geachtete Kaste). Er rief das Mädchen heran, ging mit ihm zu dessen Vater, sprach mit ihm und verheiratete sie noch am gleichen Tage mit seinem Sohne.

Wie vordem war die erste Frage, die der junge Mann seiner Frau vorlegte: "Was denkst du nun, das wir anfangen, wenn das Geld meines Vaters zu Ende ist?" Die junge Frau sagte: "Dann wollen wir arbeiten. Wir wollen das aber nicht erst abwarten, sondern schon vorher arbeiten." Über diese Antwort war der junge Mann sehr glücklich und gewann seine Frau sogleich sehr gerne. Am andern Morgen erwartete der Vater des jungen Mannes nun, daß sein Sohn auch diese junge Frau an seinen Schwiegervater zurückschicken würde. Das geschah aber nicht. Der junge Mann behielt seine Frau und zeichnete sie augenscheinlich mit der größten Aufmerksamkeit aus.

Der Vater war erst erstaunt. Dann wurde er ärgerlich und sagte: "Du hast die jungen Frauen aus vornehmen Familien wieder ihrem Vater zurückgeschickt. Ich hoffe, daß du diese Frau aus niederer Familie nicht lange in meinem Gehöft läßt." Der Sohn sagte: "Mein Vater, ich werde diese junge Frau behalten, denn ich liebe sie sehr." Da wurde der Vater zornig und sagte: "Dann mach, daß du mit deiner Frau zusammen aus dem Gehöft herauskommst." —

Der Vater wies den Sohn und dessen junge Frau aus dem Hause. Der junge Mann und seine junge Frau zogen von dannen und aus dem Dorfe. Sie zogen erst die Hügel hinab und kamen dann in einen Wald. Durch den Wald hatte kurz vorher ein Schäfer seine Herde getrieben. Die Schafe hatten alle ihre Wolle an den Ästen und Zweigen hängen gelassen. Während der junge Mann mit seiner Frau durch den Wald kam, sammelte sie überall die hängengebliebene Wolle. Es kam aber ein gutes Bündel zusammen.

Jenseits des Waldes kamen sie an ein Gehöft fremder Leute, bei denen sie unbekannt waren. Der junge Mann fragte, ob er Arbeit erhalten könne. Der Bauer stellte ihn sogleich beim Schneiden des Kornes an. Während der junge Mann derart auf dem Felde durch Arbeit verdiente, spann und verwebte seine junge Frau daheim einen Sack (asigeriss, Plur.: isigrass oder isijraess). Als er vollendet war, verkaufte ihn der Mann, und da er ausgezeichnet gelungen war, bekam er einen hohen Preis dafür und außerdem Bestellungen auf mehr Arbeit. Der Mann, der den ersten Sack dieser Art kaufte, stellte aber den jungen Mann gleichzeitig bei sich auf dem Hofe an, so daß seine eigene Einnahme auch wuchs.



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Der junge Mann und seine Frau arbeiteten und waren bald durch ihre Gründlichkeit und Tüchtigkeit im ganzen Kreise bekannt. Sie verdienten immer mehr und wurden nach einigen Jahren wohlhabende Leute mit eigenem schönen Besitz. Danach starb dann einer der Vornehmen (achari, Plur.: echereijen). Die Leute, die sämtlich gern die Stellung gewinnen wollten, und von denen keiner sie dem andern gönnte, erwählten zuletzt den jungen Mann, der mit der fleißigen jungen Frau aus der Fremde zugezogen war, zum Achari, und so gewann dieser mehr und mehr an Einfluß und Macht.

Dem Vater des jungen Mannes erging es nun, nachdem er seinen Sohn und dessen junge Frau aus seinem Gehöft gewiesen hatte, nicht gut. Er verbrauchte mehr und mehr von seinem Gelde. Er verlor erst alles, was die Familie erspart hatte, und dann nach und nach alle Äcker und das Gehöft. Eines Tages besaß der Vater nichts mehr. Er mußte als Bettler sein Dorf verlassen und ernährte sich, indem er bettelnd von einem Gehöft zum andern zog. Der bettelnde Vater kam auch zu dem Dorf, in dem sein Sohn Achari geworden war, und er trat in dessen Gehöft und Kammer und bettelte. Sein Sohn war in der Kammer. Der Vater erkannte ihn jedoch nicht. Wohl aber sah der Sohn sogleich, wer da bei ihm bettelte. Er hieß seine Frau für den Bettler ein gutes Essen bereiten. Die Frau tat es, und der Vater verzehrte es. Der Vater bedankte sich und wollte gehen. Der Sohn sagte: "Bleibe noch für einige Worte! Sage mir einmal, alter Mann, weißt du, wer das Essen bereitet hat, das du eben genossest ?" Der Vater sagte: "Es hat wohl deine Frau bereitet?" Der Sohn sagte: "Sehr wohl, kennst du meine Frau nicht?" Der Vater sagte: "Ich sah sie vorhin, aber ich kenne sie nicht." Der Sohn sagte: "Dann will ich dir sagen, daß es die Frau war, die du deinem Sohne im Zorn als achte Frau gabst, nachdem er die ersten sieben weggeschickt hatte. Hätte dein Sohn eine der ersten sieben Frauen behalten, so wäre dein Besitz noch eher zerstört gewesen, als es so schon geschehen ist. Indern dein Sohn aber eine Frau nahm, die zu arbeiten versteht, schuf er einen neuen Besitz und erwarb er ein neues Gehöft, auf dem du nun die letzten Jahre deines Lebens in Gemächlichkeit verbringen kannst. Denn ich bin dein Sohn."


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