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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Der Wahrsager Grille

Zu der Zeit, als die Frauen noch spannen, gab es einmal einen Mann, der Grille hieß. Er war ein großer Freund eines Gläschens, und seine Frau war ganz versessen auf einen leckeren Hütsepott. Grille mußte jede Woche das Garn seiner Frau auf den Markt bringen. Wenn er auf dem Heimweg seine Taler in Bier umsetzte und sich



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manchmal auch um den Verstand trank, so sagte seine Frau doch kein Wort, brachte er ihr nur einen guten Hütsepott mit.

Einmal hatte Grille viel Geld für sein Garn bekommen, so daß er sehr fröhlich war und immerzu in die Hosentasche griff, um die Taler klimpern zu hören. >Diesmal gönne ich mir ein tüchtiges Glas<, dachte er, und so ließ er keine einzige Schenke aus. Aber allmählich schmolzen seine Groschen zusammen, so daß ihm kaum noch etwas übrigblieb. Grille fühlte, daß er einen richtigen Rausch hatte.

Während er nach Hause wankte, tastete er in seine Tasche und war sehr erstaunt, nur noch fünf Pfennige zu finden. Er zählte und zählte und mußte zu guter Letzt seinen Augen glauben. Das schlimmste war, daß er den Hütsepott für seine Frau vergessen hatte! Nachdenklich und murrend ging er weiter und kehrte, ohne es zu wissen, in die nächste Schenke ein. Und im Nu war er auch sein letztes Geld los. Da überkam ihn der Schlaf. Er legte den Kopf auf den Tisch und schnarchte wie ein Walroß.

Als er aufwachte, war er wieder nüchtern und überlegte, was er nun tun sollte. Nach Hause zu gehen getraute er sich nicht, denn ohne den Hütsepott würde ihn seine Frau nicht gerade freundlich empfangen, dessen war er sicher. Was also anfangen? Und siehe da! Der Wirt erzählte ihm, daß der Gräfin auf dem benachbarten Schloß ein Diamantring gestohlen worden sei. Und er mußte von großem Wert sein, denn die reiche Dame hatte dem Finder hundert Kronen versprochen. >Du lieber Himmel<, überlegte Grille, während er sein leeres Glas betrachtete, >das wäre etwas für mich! Wenn ich den Dieb entdecke, habe ich mein Glück gemacht.<Und ohne ein Wort zu sagen, stand er auf, ging zu der Gräfin auf das Schloß und gab sich dort für einen berühmten Wahrsager aus. Die Dame versprach ihm hundert Kronen, falls er binnen drei Tagen den Dieb entdecke; wenn nicht, würde man ihn mit Schimpf und Schande davonjagen.

Am ersten Tag suchte Grille alle Ecken und Winkel des Schlosses ab —vergebens! Als er die Diener beieinanderstehen und tuscheln sah, ging er gebückt an ihnen vorbei und beobachtete sie mit einem scheuen Blick von der Seite. Kaum hatte er ihnen den Rücken zugewandt, als einer dem anderen ins Ohr flüsterte: »Man könnte meinen, daß er es auf uns abgesehen hat, wir wollen auf der Hut sein.«

Inzwischen suchte Grille weiter den Boden ab und stöberte unter Blättern und Sträuchern. Aber es half alles nichts!

Das währte bis in den späten Abend. Da befahl die Gräfin einem ihrer Diener, den Fremden auf seine Schlafkammer zu bringen. Grille hatte



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allen Mut verloren, weil schon einer von den drei Tagen vorüber war, und sank mit einem tiefen Seufzer auf den Stuhl. Und er murmelte: »Ja, ja, Grille, das ist nun der erste!« Als der Diener das hörte, erschrak er sehr und rannte mit Riesenschnelligkeit zu seinen Kameraden: »Wir sind verloren! Der fremde Kerl weiß alles!« Und er erzählte ihnen, was er gehört hatte. Von da an getrauten sie sich kaum noch, Grille unter die Augen zu treten.

Am zweiten Tage untersuchte Grille die Sölder und Keller des Schlosses, aber der Ring war und blieb verschwunden. Nun schickte die Gräfin an diesem Abend einen anderen Diener mit Essen auf seine Schlafkammer. Ganz entmutigt sank Grille auf sein Bett und murmelte: »Ja, ja, das ist nun schon der zweite!«

Der Diener, der beide Ohren gespitzt hatte, erzählte das sogleich seinen Spießgesellen. »Kein Zweifel«, sagte er, »der Kerl hat alles entdeckt. Ich wette meinen Kopf, daß er uns morgen der Gräfin verraten wird. Dann sind wir unsere Stelle los und können unser Leben lang hinter Schloß und Riegel sitzen!«

Sie überlegten lange und fanden es schließlich ratsam, dem Wahrsager alles zu bekennen und einen Kniefall vor ihm zu tun. Damit er sie der Gräfin nicht verriete, wollten sie ihm ihr ganzes Spargeld schenken. Sie besprachen sich also mit Grille und gaben ihm den Ring und ihr erspartes Geld. »Ihr seht«, sagte Grille, »daß alles herauskommt! Seit der ersten Stunde, die ich hier bin, kannte ich eure Schelmerei. Für diesmal will ich schweigen. Aber hütet euch vor dem nächsten Mal!«

Nun holte der Schlauberger ein Klümpchen Teig, steckte den Ring hinein und warf ihn einigen Truthähnen und Gänsen vor. »Ik-kik! Ikkik!« «machte ein großer Truthahn, und schwupp! hatte er den Teig verschluckt. Dann ging Grille die Gräfin rufen: »Gnädige Frau«, sagte er, »Sie brauchen gegen keinen von Ihren Dienern einen Argwohn zu hegen, denn der Dieb Ihres Diamanten ist dieser schwarze Truthahn.« Das Tier wurde gefangen und geschlachtet.

Ihr könnt euch vorstellen, wie erstaunt alle waren, als der Ring zum Vorschein kam. Grille glaubte, daß er nun gleich seine versprochenen hundert Kronen einstreichen könne, aber da hatte er sich verrechnet. Die Gräfin schien zu zweifeln, ob er nicht doch ein Betrüger sei, und wollte ihn deshalb ein zweites Mal auf die Probe stellen. »Ich kann diese Geschicklichkeit nicht genug bewundern«, sagte sie freundlich, »und bitte dich, nicht weiterzuziehen, bevor du mir nicht noch einen Beweis deiner Kunst gegeben hast.«

Grille begriff, worauf das hinauslief, und so wurde ihm sehr unbehag



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lich zumute. »Sie brauchen nur zu sprechen, gnädige Frau, auf einmal mehr oder weniger kommt es mir nicht an!«

Da ließ die Gräfin ein paar Teller bringen, die ineinandergesetzt waren.

»Höre«, sagte die Gräfin, als die Teller auf dem Tisch standen. »Wenn du mir sagen kannst, was dazwischensitzt, bekommst du noch fünfzig Kronen. Weißt du es aber nicht, so setze ich dich vor die Tür, und du erhältst soviel Stockschläge, als Kronen zu verdienen sind.«

Grille machte ein dummes Gesicht. Er war wie von der Hand Gottes geschlagen und wußte nicht, wie er sich aus der Schlinge ziehen sollte. Er wagte nichts zu sagen, weil er falsch zu raten fürchtete. Wenn ihm die Stockschläge und seine Frau einfielen, fühlte er, wie sein Mut in die Schuhe sank, und er begann Blut und Wasser zu schwitzen vor Beklommenheit.

»Ach, arme, arme Grille!« seufzte er.

Da rief die Gräfin: »Ich bin verloren! Ich bin verloren! Du bist ein großer Zauberer!« Sie nahm den obersten Teller weg, und es lag eine tote Grille darunter.

Die Freude unseres Wahrsagers kannte keine Grenzen. Er ließ sich die hundertfünfzig Kronen sogleich auf den Tisch zählen und rannte damit nach Hause. Und da taten sie eine ganze Woche nichts anderes als trinken und Hütsepott essen, weil doch Grille so fein gewahrsagt hatte!


Copyright: arpa, 2015.

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