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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Die schmutzige Liese

Es war einmal ein König, der hatte zwei Töchter. Die älteste war zum Stehlen schön und die jüngste zu häßlich, um donnern zu helfen. Der König verachtete seine jüngste, häßliche Tochter. Sie mußte alle schmutzige Arbeit verrichten, so daß sie schlimmer dran war als die Geringsten seiner Knechte und Mägde.

Die älteste und schönste Tochter dagegen wurde sehr verwöhnt, fast so sehr wie des Königs Esel, und den liebte er über alles. Das hatte natürlich seinen Grund. Der Esel legte Gold, Gold in großen Haufen, tagtäglich einen ganzen Trog voll. So wurde der König mit jedem Tag reicher, und jeder reichere Tag brachte der ältesten Prinzessin mehr Glück und der jüngsten mehr Kummer. Das mußte sich ändern, wie alles in der Welt sich ändert. Was heute auf dem Gipfel prangt, liegt morgen unten.

Nun war der Prinz aus dem Nachbarland großjährig geworden, und seine Mutter dachte daran, ihn zu verheiraten. Ihre Läufer reisten in alle Länder der Welt, um diese Nachricht den heiratsfähigen Mädchen zu verkünden. Es war merkwürdig, daß die künftige Gemahlin keine Prinzessin zu sein brauchte, sondern nur das schönste Mädchen, das sich finden ließ. Die älteste Tochter des Königs legte alles darauf an, die Braut des Prinzen zu werden. Sie putzte sich prächtig heraus. Alle Höflinge mußten ihr helfen. Das war den ganzen Tag ein Auswählen und Anprobieren!

Die jüngste, häßliche Tochter sah das, und sie flehte und betete zu Gott, daß er sie doch auch so schön mache wie ihre Schwester.

Da geschah es, daß eine alte Zauberhexe, die manchmal aufs Schloß gerufen wurde, um dem König die Karten zu legen, eines Morgens den beiden Prinzessinnen im Park begegnete, zunächst der älteren, schönen, dann der jüngeren, häßlichen.

Die schöne Prinzessin lief davon, als sie die Zauberhexe kommen sah, und rief so laut, daß es jeder hören konnte: »Die alte Hexe hat mir wieder den Tag vergällt!«

Da wurde die Zauberhexe wütend wie eine Schlange und verwünschte die Prinzessin: »Dein Leben soll vergällt sein von dieser Stunde an. Du sollst kein Wort sprechen, oder es werden Kröten und Nattern aus deinem Munde springen.«

Nun kam die häßliche Prinzessin des Weges. Sie wußte nicht, was mit ihrer Schwester geschehen war, und sagte freundlich zu der Alten: »Guten Tag, Mütterchen. Da ich sehe, daß dir das Laufen schwer fällt,



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wünsche ich dir die Schnelligkeit und Geschmeidigkeit deiner zwanzig Jahre!«

»Ich danke dir, Prinzessin, und wünsche dir, daß du die Schönste aller Frauen wirst. Und so wird es geschehen!«

»So wird es einmal sein«, fuhr sie dann fort. »Höre gut zu, denn alles, was ich nun sage, mußt du genau ausführen. Hier ist ein Ring. Wenn du ihn am Finger trägst, wirst du die Schönste von allen sein, und wenn du sprichst, werden dir Perlen und Diamanten wie Tautropfen vom Munde fallen.«

Und sie sprach weiter: »Aber das ist noch nicht alles. Zu dem Prinzen, den du dir erträumst, mußt du mit einer Mütze gehen, die aus dem Fell des Esels geschnitten ist, der alle Tage Gold legt. Dein Vater muß das Tier sogleich schlachten. Und noch eines: Deine Schönheit wird nur solange dauern, als du den Ring am Finger trägst. Wenn dir aber der Prinz den Brautkuß gibt, wird sie nicht mehr vergehen. Geh nur geschwind und schau in deinen Spiegel, wie schön du bist.«Die häßliche Prinzessin lief fort. Vor dem Spiegel steckte sie sich den Ring an den Finger, und sie konnte nicht glauben, daß die bildschöne Prinzessin, die da vor ihr stand, ihr eigenes Bildnis sei.

»Wache oder träume ich?«fragte sie sich. Bei diesen Worten fielen ihr Perlen und Diamanten aus dem Mund, und daran erkannte sie, daß sie wach war. Auch das hatte ihr die Zauberin ja prophezeit.

Nun lief sie zu ihrem Vater, ohne den Ring vom Finger zu nehmen, und sie strahlte vor Schönheit, wie der Mond strahlt in der Nacht. »Vater«, rief sie, »sieh nur, wie schön ich bin! Und sieh einmal, welche Gabe mir die Hexe verliehen hat!«

Bei diesen Worten fielen ihr Perlen und Diamanten aus dem Mund. »Nun bitte ich dich um eine Gunst, nämlich daß du das goldlegende Eselchen tötest! Aus seinem Fell muß ich mir eine Mütze schneidern lassen, um den Prinzen zum Gemahl zu gewinnen.«

Der König sah sie gar nicht an und hörte auch nicht auf ihre Worte. Und so konnte er nicht wissen, welche Schätze bei den Worten aus ihrem Munde fielen. Aber die Höflinge und Pagen sahen es und griffen mit vollen Händen nach den Kostbarkeiten.

»Schlachte den Esel denn und mache aus seinem Fell, was du willst! Was nützt mir Gold, wenn mein liebstes Kind unglücklich ist«, sagte der König.

So wurde der Esel geschlachtet, und aus seinem Fell ließ sich die Prinzessin von dem besten Schneider der Stadt eine Mütze nähen, und mit dieser Mütze auf dem Kopf und dem Ring an einer eisernen Kette um



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den Hals machte sie sich auf den Weg ins Nachbarland, wo der Prinz wohnte.

Aber dort wagte sie den Palast des Königs nicht zu betreten. Da sie jedoch gehört hatte, daß der König eine Schweinemagd wolle, bot sie sich bei dem Verwalter an. Sie wurde angenommen, hütete die Schweine und schlief mit den anderen Mägden im Schweinestall.

Alle lachten über sie und nannten sie Eseismütze oder schmutzige Liese, nicht weil sie schmutzig, sondern weil sie so abschreckend häßlich war. Sie fühlte sich sehr unglücklich und vergoß dauernd bittere Tränen. Manchmal glaubte sie, ihre Hexe habe sie angeführt, zumal sie weder König noch Prinzen jemals zu Gesicht bekam. Einmal wollte sie, als sie im Schweinestall war, die Kraft des Ringes von neuem erproben. Sie nahm ihn von der Eisenkette und steckte ihn an den Finger. Im gleichen Augenblick fielen ihr die Lumpen vom Leibe, und sie war gekleidet in weißem Samt und Seide. Da konnte sie sich nicht länger bezwingen und wollte ihre Schönheit mit eigenen Augen sehen. Es war aber kein Spiegel im Schweinestall, und sie lief hinaus, um ihr Bild im Weiher zu betrachten.

Ja, sie war so schön wie damals, als sie sich in ihres Vaters Haus im Spiegel gesehen hatte.

»Wird der Prinz mich denn niemals zu Gesicht bekommen?« seufzte sie, und bei den Worten fielen ihr Perlen und Diamanten aus dem Mund ins Wasser. Als sie aufblickte, stand der Prinz auf der anderen Seite des Weihers und sah sie verzückt an. Darüber wurde sie so verwirrt, daß sie in den Schweinestall zurücklief, den Ring vom Finger zog und wieder im armseligen Rock der Schweinemagd mit der Eselsmütze auf dem Kopf dastand.

Der Prinz war in den Palast geeilt, um seiner Mutter, der Königin, zu erzählen, was er am Weiher gesehen hatte.

»Das schönste Mädchen, das es auf der Erde gibt«, rief er. »Es spiegelte sich im Wasser und ist vor mir in den Schweinestall geflohen. Komm, Mutter, wir gehen es holen. Ich will es zur Frau nehmen!«

Ein paar Augenblicke später kam der Prinz mit seiner Mutter in den Schweinestall, aber außer der schmutzigen Liese mit der Eseismütze war niemand zu sehen.

Die Königin jagte sie fort.

»An die Arbeit, schmutzige Liese!« rief sie.

Der Prinz suchte überall und fand keine Spur von der schönen Prinzessin. Das tat ihm sehr leid. Da fielen seine Blicke über dem Suchen auf ein blinkendes Ding, das im Stroh lag. Es war der Ring der Prinzessin,



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den sie in der Eile hatte fallen lassen, bevor sie ihn wieder an die eiserne Kette hatte legen können.

Der Prinz hob den Ring auf, bewunderte ihn und sprach: »Sieh, Mutter, das muß der Ring der schönen Prinzessin sein. Sie wird ihn beim Weglaufen verloren haben. Wenn ich sie nicht wiederfinde, werde ich nur das Mädchen heiraten, dem der Ring paßt.«

Und die Läufer des Königs verkündeten diesen Entschluß sogleich in allen Ländern.

Und von überallher kamen die Prinzessinnen, aber keiner paßte der Ring. Sie hatten viel zu dicke und plumpe Finger. Dann wurden die Töchter der Höflinge herbeigerufen, doch denen paßte er noch weniger. Da mußte man schließlich die Mädchen aus dem Volke fragen, ob ihnen der Ring paßte. Und man begann bei den Mägden am Hofe. Sie kamen eine nach der anderen, aber auch ihnen paßte der Ring nicht. »Ich habe die Schweinemagd mit der Eseismütze noch nicht gesehen«, rief der Prinz schließlich.

»Die schmutzige Liese«, sagte die Königin, »der paßt der Ring am allerwenigsten.«

»Erst versuchen, dann urteilen«, antwortete der Prinz. Die Schweinemagd kam in ihrem Arbeitskleid und der Eseismütze. Sie nahm den Ring und schob ihn so leicht auf den Finger, als sei er für sie geschmiedet. Da stand nun die schmutzige Liese mit der Eselsmütze vor dem Prinzen und war die schönste Prinzessin, die ihr euch vorstellen könnt!

»So habe ich dich am Weiher gesehen«, rief der Prinz überglücklich. »Du wirst meine Braut!«

Und der Prinz küßte die Prinzessin auf beide Wangen. Und von dem Augenblick an war ihre Schönheit beständig.

»Das alles ist mir geweissagt worden«, sagte die Prinzessin. Und während sie das sagte, fielen Perlen und Diamanten aus ihrem Mund auf den Boden. Das war das Wunderbarste! Die Königin und der Prinz trauten ihren Augen nicht. Am nächsten Tag wurde die Hochzeit gefeiert. Es war das schönste Fest, das je begangen wurde, ein Fest für die schönste Prinzessin, die es je gegeben hat. Und nach der Hochzeit hatte sie viele Kinder, wohl zwanzig, wohl hundert! Die waren so schön! Die ganze Welt hat sie bewundert!


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