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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Das Männlein Elend

In alten Zeiten wohnte das Männlein Elend an der Straße von Brüssel nach Antwerpen in einem kleinen Häuschen mit Garten davor, der noch keine Schürze groß war. Dort stand ein großer Apfelbaum. Der hing jeden Herbst voll rotbäckiger Apfel, und die Zweige ragten über das Dach und über die Hecke auf die Landstraße.

Den Schlingeln von der Gasse stachen die rotwangigen Apfel in die Augen. Aber auch die großen Leute versuchten dann und wann, wenn sie vorüberkamen, einen Apfel zu erwischen. Die Gassenbuben kletterten in ganzen Scharen auf den Baum. So konnte es vorkommen, daß zur Erntezeit kein einziger Apfel mehr an den Ästen hing, und darüber



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ärgerte sich das Männlein Elend gewaltig. Eines Abends klopften zwei Männer bei ihm an und baten um eine Bleibe für die Nacht.

»Warum nicht«, sagte Männlein Elend. »Kommt nur herein! Ich will gern mit euch teilen. Ich habe zwar nicht viel.«

»Was man aus Liebe gibt, verdient Dank«, sagten die beiden Männer. Das Männlein trug auf, was es für sein eigenes Abendmahl bestimmt hatte, trockenes Roggenbrot und Buttermilchsuppe. Die Männer aßen, daß ihnen der Wanst dick und rund wurde, denn die karge Speise schmeckte ihnen wie Festtagsbraten.

Kaum hatten sie alles hineingelöffelt und waren mit dem Essen fertig, da sanken sie auch schon zu beiden Seiten des Ofens hin und schliefen. Und sie schnarchten wie zwei glückliche Seelen. Am anderen Morgen wachten sie beim ersten Hahnenschrei auf. Sie mußten weiterwandern und bedankten sich für alles, was ihnen das Männlein Gutes getan hatte. »Aber«, sagten sie schließlich, »wir wandern nicht weiter, ohne deine Freundlichkeit zu vergelten. Wünsche dir etwas! Gleichgültig, was es ist, wir werden es dir erfüllen.«

»Dann wünsche ich nur dies eine: Daß jeder, der auf meinen Apfelbaum klettert, daran kleben bleibt und ohne mich nicht wieder herunterkommt, und wäre es der König, der Tod oder der Teufel selber.« »Dein Wunsch ist erfüllt«, sagten die Männer und zogen ab.

Als nun im Sommer die Früchte reiften, kletterten die Buben wieder auf den Baum. Aber keiner konnte herunter. Als sie das bemerkten, heulten und jammerten sie wie Besessene.

Ihr könnt euch denken, daß das Männlein Elend sich darüber ins Fäustchen lachte. Aber es kam noch besser! Die Väter und Mütter kamen gelaufen und wollten ihre Kinder vom Baum herunterholen. Das ging natürlich nicht. Denn sie blieben auch kleben, mit Haut und Haaren und allem, was sie in den Händen hielten. Und der Bürgermeister kam mit seinem Hund und der Flurschütz mit dem Säbel und die Polizisten mit Gewehren. Auch sie wollten die Verhexten befreien, aber im Handumdrehen hingen sie mit daran und machten noch mehr Spektakel als die Kinder und ihre Eltern. So klebten sie eine Zeitlang zum großen Spaß der Leute, bis das Männlein Elend sie herunterließ.

»Jetzt werden sie meine Äpfel wohl hängen lassen«, sagte er.

Und er behielt recht. Die Kinder und die Leute des Dorfes ließen seitdem den Apfelbaum in Ruhe, und das Männlein Elend konnte seine Äpfel in Frieden essen. Nach langen Jahren, im Frühling, als der Apfelbaum noch in Blüte stand, klopfte es an Männlein Elends Haus. Er rief »Herein!«' und Pietje Krakeling mit der großen Sense stieß die Tür auf.



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»Jetzt ist die Zeit da, um Abschied zu nehmen, Freund. Deine Uhr hat geschlagen. Mach dich bereit!«

Da verlegte sich das Männlein aufs Bitten und Betteln. Pietje möge ihn doch noch ein wenig auf Erden lassen. »Nur ein paar Monate noch bis zum Herbst, damit ich ein letztes Mal meine Apfel essen kann«, flehte er. »Es sind Apfel, wie du noch nie welche gegessen hast. Ich will dir auch ein paar schenken.«

Da sagte Pietje Krakeling: »Gut denn! Es ist zwar nicht meine Gewohnheit, eine Daumenbreite nachzugeben, aber ich will im Herbst wiederkommen. Einmal ist keinmal, und Ausnahmen schaden in der Regel nicht.« Und damit war er fort.

Aber in den ersten Tages des Herbstes stand er wieder da. Die Apfel hingen noch auf dem Baum, und das Männlein Elend, das den gefährlichen Gast seit einigen Tagen erwartete, fing an zu husten und zu wimmern, als es das knöcherne Tacken gegen die Tür hörte. »Herein!« Das war Pietje.

»Du weißt, weshalb ich gekommen bin!«

»Das weiß ich allerdings«, sagte das Männlein Elend. »Aber du besinnst dich doch auf unsere Abmachung, nicht wahr?«

»Du durftest erst noch einen Apfel von deinem Baum essen, das hast du gewiß getan!«

»Nein, das hab ich nicht. Ich bin zu krank und hinfällig, um hinaufzuklettern.

»Ta, ta, ta«, sagte der Tod.

»Warum ta, ta, ta! Wir haben abgemacht, daß ich erst noch einen Apfel essen darf. Und du sollst auch einen haben. Weil ich zu schlapp bin, sie zu pflücken, mußt du es tun.«

»Gut, das werde ich besorgen!«

Im Handumdrehen saß Pietje Krakeling im Baum, aber ihr könnt von hier aus schon sehen, wie er hängen bleibt und sich zwischen den Zweigen festklemmt, als wäre er ein Fuchs in der Falle.

Da kam das Männlein Elend vor die Tür gerannt und rief ihm hinauf: »Da hängst du gut, was? Meinetwegen kannst du hängen bleiben bis ans Ende der Welt!«

Was Pietje Krakeling auch unternahm, es gab kein Herunterkommen. Er saß da wie angeschraubt, und als er nicht loskam, begann er zu betteln und zu flehen. Er jammerte: »Lieber Freund, laß mich doch herunter! Ich gebe dir, was du verlangst. Was soll in der Welt werden, wenn ich meine Arbeit nicht mehr tue! In der halben Stunde, seit ich hier sitze, ist kein Mensch mehr gestorben.«



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»Was geht das mich an!«rief das Männlein Elend. »Aber sage, was gibst du mir, wenn ich dich laufen lasse?«

»Das ewige Leben für dich und deinen Hund.«

Ja so, ich hatte euch zu erzählen vergessen, daß das Männlein Elend einen Hund hatte. Der war sein einziger Kamerad.

»Einverstanden«, rief das Männlein und ließ den Tod laufen. Und wie rannte Pietje! Er war blaß geworden vor Scham, daß das Männlein ihn so angeschmiert hatte.

Und das Männlein lachte sich ins Fäustchen. Aber seit jenem Tage haben die Menschen ein Kreuz mehr auf der Welt: das Elend, das ewig bis zum allerletzten Tag unter ihnen wohnen bleibt.


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