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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Vom schlauen Barbier und der schönen, stolzen Königstochter

Es war einmal ein Königssohn, dessen Vater regierte über ein ganz kleines Reich im Lande Trippentrappen. Es war kaum ein paar Tagereisen groß, und seine Bewohner waren ein paar hundert Fischer und Bauern, gerade genug, um ein Dorf zu bevölkern.

Dieses kleine Reich -ich glaube, es hieß Zehnbündnerland - war nach allen vier Windrichtungen von einem sehr, sehr großen Königreich eingeschlossen. Darin regierte ein mächtiger König, der nur ein Kind hatte, eine Tochter von so wunderbarer Schönheit, daß die Söhne der größten Fürsten um ihre Hand anhielten.

Nun hatte die schöne Prinzessin aber einen Fehler: sie war sehr eitel, und kein Prinz der Welt dünkte ihr gut genug, ihr Gemahl zu werden. Ein Kaisersohn wäre ihr noch zu gering gewesen.

Als nun der Kronprinz aus dem Zehnbündnerland zum Jüngling herangewachsen war, schickte ihm der Nachbarkönig einen Spiegel. Sooft man hineinblickte, sah man nicht sein eigenes Antlitz, sondern das Bild der schönen Prinzessin.

Und seitdem hatte er nur noch einen Wunsch, die schöne Prinzessin zur Gemahlin zu haben. Er ließ ihr durch einen Abgesandten einen langen Brief überreichen, darin flehte er sie an, ihm ihre Hand zu schenken, und er fügte hinzu, wenn sein eigenes Königreich auch winzig sei, so sei doch die Liebe, die er für sie im Herzen trage, viel, viel größer als das größte Reich der ganzen Welt. Als der Abgesandte nach ein paar Tagen zurückkehrte, wagte er die Antwort der Prinzessin kaum mitzuteilen. Nach langem Zögern fand er sich endlich bereit, sie dem alten König und seinem Sohn kundzutun.

»O König«, sagte er, »vergib deinem alten, treuen Diener, wenn er hier die Worte wiederholt, welche die Prinzessin ohne Scheu vor dem versammelten Hof ausgesprochen hat . . . Als ich ihr den Brief des Prinzen, deines Sohnes, vorgelesen hatte, brach sie in ein langes, gellendes Lachen aus und antwortete: >Sag dem eingebildeten Prinzlein, daß ich den Sohn eines Kaisers abgewiesen habe . . . Er aber wäre mir nicht einmal als Schuhputzer gut genug.«

Der junge Prinz war von dieser frechen Rede enttäuscht und beleidigt. Er stand einen Augenblick, als ob ihn die Hand Gottes geschlagen hätte. Doch dann ermannte er sich und beschloß, der stolzen Königstochter ihre hochnäsige Antwort heimzuzahlen. Ohne jemand seine wahren Absichten zu verraten, zog er nach ein paar Tagen im einfachen Wams eines Handwerksburschen in die Hauptstadt des Königreiches



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Trippentrappen und trat als Lehrjunge bei einem Barbier in Dienst, auf dessen Aushängeschild zu lesen stand:

Hier wohnt Pieter Callebalt.
Der schert am Königshofe
Jung und alt!

Der Prinz, der einen klugen Kopf hatte, machte so schnelle Fortschritte in der Kunst des Barbierens und Haarschneidens, daß der Meister ihn schon nach ein paar Wochen seine vornehmsten Kunden bedienen ließ. Und so schickte er ihn auch mit dem Auftrag an den Hof, die Königstochter, die abends einen glänzenden Hofball besuchen sollte, zu frisieren. Als sie nun vor dem Spiegel saß und der Prinz aus dem Zehnbündnerland, die weiße Schürze vorgebunden und den Kamm in der Hand, hinter ihr stand, sah sie, daß der Barbierjunge sich vor Lachen schüttelte.

»Weshalb lachst du?«fragte sie unzufrieden.

»Achtet nicht darauf, Hoheit«, antwortete er. »Ich lache nur, weil ich mit dieser Schürze und diesem Kamm eine drollige Figur mache. Ich werde aber, wenn Euch mein Lachen ärgert, bei der Arbeit ein paar Liedchen singen. Vielleicht findet Hoheit es dann weniger unangenehm, von einem so niedrigen Lehrjungen frisiert zu werden.« Und er begann zu trällern und zu singen, daß es eine Art hatte, und die Königstochter gar nicht bemerkte, wie er zwei- oder dreimal die Flechten wieder losmachte, als ob er eine Freude daran fände, ihr schönes, seidenes Haar zu fühlen. Ein Liedchen gefiel ihr vor allem. Das endete mit dem Kehrreim:

»Das Land ist so klein,
Die Herzen so groß.
Man haßt und liebt dort
Bis in den Tod.«

»Was für ein merkwürdiges Lied ist das«, fragte die Prinzessin. »Wo hast du es gelernt?«

»Ach, das hat nicht viel auf sich«, antwortete er. »Ich bin ein armer Junge aus dem benachbarten Königreich. . . Ihr könnt Euch denken, daß man in einem so winzigen Land keine schönen Lieder lernt.« Inzwischen hatten seine Lieder und seine Stimme die Prinzessin so bezaubert, daß niemand anderer ihr mehr die Haare machen durfte. Ja, es kam schließlich so weit, daß sie den jungen Barbiergehilfen an einem Tage zwei- oder dreimal an den Hof entbieten und sich von ihm frisieren ließ, nur um ihn singen zu hören.

Eines Abends, als wieder eine ihrer Dienerinnen den Barbiergehilfen



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holen wollte, sah sie aus seinem Stubenfenster einen wunderbaren Glanz strahlen, während ihr eine fast himmlische Musik entgegenklang. Als sie seine Stube betrat, saß der schöne Jüngling auf einem Hocker und spielte Geige, und auf seinem Kopfe trug er eine Samtmütze, worauf, von einem goldenen Band gehalten, ein Diament leuchtete. Natürlich hatte die Dienerin der Prinzessin ihre Entdeckung längst mitgeteilt, ehe der Barbierjunge im Palast angekommen war. Die Prinzessin brannte vor Verlangen, die Geige zu hören und den Diamanten zu sehen, und als sich der Junge gerade mit Kamm und Schere auf den Weg gemacht hatte, kam ihm die gleiche Jungfer schon wieder entgegen und sagte, ihre hohe Herrin wünsche, daß er die Geige und den Diamanten mitbrächte.

Jan, so hieß der Königssohn, kam ihrer Bitte nach, und daß er an diesem Abend keine Flechten machte und Löckchen drehte, werdet ihr wohl begreifen. Die Prinzessin fand so viel Gefallen an seinem wunderbaren Geigenspiel und an dem prachtvollen leuchtenden Stein, daß der Junge noch keines ihrer Haare hatte anrühren dürfen, als man sie schon das fünfte Mal zum Fest holen kam.

Als sie nun doch endlich frisiert war und Jan sich entfernen wollte, konnte sie nicht länger an sich halten und fragte, ob er ihr den Diamanten nicht verkaufen wolle.

»Verkaufen? Nein, verkaufen nicht«, antwortete der Barbierjunge. »Aber vielleicht schenken. Ich meine, Hoheit, daß ich wohl tauschen würde!«

»Und wogegen würdest du ihn tauschen?«

»Für eine Kleinigkeit«, antwortete er. »Für einen einzigen Kuß Eures schönen, kleinen Prinzessinnenmundes.«

Die Prinzessin blickte verlegen auf und fühlte sich gedemütigt, daß so ein gewöhnlicher Barbierjunge es wagte, ihr diesen Vorschlag zu machen. Doch der Diamant war so schön, und sie hätte so gern an diesem festlichen Abend damit geprunkt, daß sie eine List ersann und dem Jungen statt eines Kusses von ihrem schönen roten Prinzessinnenmund ein halbes Dutzend Küsse von ihrer ersten Dienerin anbot. Diese war dem kleinen Barbier gut gesinnt und opferte sich gern für ihre Herrin. Aber der Junge wollte von neuen Bedingungen nichts wissen. Nur von der Prinzessin nahm er den Kuß, sonst behielt er den Stein, und alles blieb wie zuvor.

Da sandte die Prinzessin ihre Jungfern in den Festsaal, um dem König mitzuteilen, daß seine Tochter gleich kommen werde, und ehe sie noch zurückkehrten, war Jan schon über alle Berge mit seiner Geige und dem



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süßen Kuß von dem schönen Prinzessinnenmund. Anderen Tages sandte die Prinzessin wieder ganz früh am Vormittag eine ihrer Damen mit einer Botschaft zu dem Barbier, und siehe da! — als sie zurückkehrte, wußte sie von einem zweiten Diamanten zu erzählen, den Jan auf seiner Mütze trug und der noch viel schöner und größer war als der erste. Auch den mußte Jan zum Palast mitbringen, und als die Prinzessin ihn sah, wollte sie ihn besitzen, koste es, was es wolle.

Diesmal verlangte der Junge den doppelten Lohn . . und da sie zufällig allein waren, sträubte sie sich nicht lange. Jan bekam zwei noch viel süßere Küsse, und die Prinzessin behielt den Diamanten.

Als sie nun am Tag darauf noch einen dritten und zehnmal größeren Stein bekommen und dafür ein halbes Dutzend Küsse gegeben hatte, sah die Prinzessin plötzlich, daß sie mit den Küssen von ihrem Munde auch ihr Herz weggegeben hatte.

Sie bemerkte, daß sie ohne den Barbierjungen nicht länger leben konnte. Aber einen Jüngling so niederer Abkunft ihrem Vater als Gemahl vorzustellen, nachdem sie so viele Königssöhne abgewiesen hatte, das ging nicht! Und so ging sie auf den Vorschlag des armen Jungen ein und floh mit ihm in das Zehnbündnerland.

Jan heiratete die Prinzessin, ohne ihr zu verraten, wer er war. Nicht weit vom Palast seines Vaters mietete er ein Häuschen und über die Tür ließ er die Worte malen:

Hier wohnt Jan, der Fiedelmann,
Er schert Bürger und Edelmann!

Damit seine Frau, die von Arbeit und Haushalt wenig verstand, auch ein paar Groschen verdiene, richtete er in seinem Hause eine Schenke ein. Bei Tage ließ er sie allein und gab vor, daß er seine Kunden aufsuchen und barbieren müsse, in Wirklichkeit verbrachte er die Zeit aber am Hof und bei seinen alten Eltern, denen er sein Abenteuer erzählt hatte. Die Prinzessin liebte er wohl von ganzem Herzen. Er wollte sie jedoch, ehe er sie als seine Gemahlin vorstellte, von ihrem früheren Hochmut und Stolz heilen.

Deshalb stellte er sie einigemal auf die Probe. Zunächst weigerte er sich, so inständig sie auch bitten mochte, ihr eine Wirtsmagd zu geben, die statt ihrer die grobe Arbeit in der Schenke verrichtete. Er sagte, dazu habe er kein Geld, und erklärte, daß er dann noch lieber eine Haushälterin als Zapfmädchen nehmen würde, da sie ja doch, wenn's um den Haushalt ging, von Tuten und Blasen keine Ahnung habe. So mußte sie denn von morgens früh bis abends spät als einfache Wirtin hinter dem Schanktisch stehen und zapfen, bedienen und Gläser spülen, und



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dabei arm und reich mit dem gleichen freundlichen Gesicht Rede stehen.

Eines Tages schickte er einen von seines Vaters Höflingen. Der mußte es dahin bringen, daß ein paar Soldaten, nachdem sie stundenlang in der Schenke gezecht hatten, zu raufen anfingen und alles, was in der Stube war -, Gläser, Flaschen, Kannen, Krüge, ja selbst die Stühle und Tische - in tausend Stücke schlugen. Als er abends heimkam, fand er sie mit verweinten Augen, aber sie murrte und klagte nicht. Nun gab er zu, daß sie zur Wirtin nicht passe, und da er selber inzwischen einen ordentlichen Stüber verdient hatte, schlug er ihr vor, einen Glas- und Porzellanladen aufzumachen.

Das gefiel der Prinzessin besser. Sie fand es angenehmer, zwischen Gläsern und Schüsseln vor der Tür in der frischen Luft zu sitzen, als in der stickigen Wirtsstube dem Geschwätz haibtrunkener Soldaten und Matrosen zuhören zu müssen.

Aber es waren noch keine vierzehn Tage vergangen, da wurde ihre Geduld abermals auf eine harte Probe gestellt. Jan bezahlte einen Fuhrmann, der mußte mit Pferd und Wagen quer durch die Auslage reiten. Aber der Verkäuferin durfte nicht das geringste Leid geschehen.

Als er heimkam und sie, obwohl sie betrübt dreinschaute, doch mit keinem Wörtlein bedauerte, daß sie seinen Rat befolgt hatte und hier ein so kümmerliches Leben führen mußte, bekam der Prinz Mitleid und beschloß, sie schnell in sein Geheimnis einzuweihen.

So kam er nach ein paar Tagen frohgemut nach Hause. »Fasse Mut, liebe Frau«, rief er. »Jetzt haben wir uns genug abgerackert! Nach dem Graubrot werden wir nun endlich Weißbrot bekommen. Stell dir vor, was für ein Glück mir in den Schoß gefallen ist. Der König vom Zehnbündnerland hat mich zu seinem Leibbarbier ernannt. Morgen machst du deinen Laden zu. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn es mir nicht gelänge, meine Frau als Hofdame bei der Königin anzubringen!«

Und nach ein paar weiteren Tagen sagte er, auf seine untertänige Bitte habe der König sie seiner Gemahlin empfohlen. Am nächsten Tage würde sie bei Hofe erwartet. Und obendrein hätten die Majestäten ihm erlaubt, einen Bogenschuß vom Palast ein schönes Haus zu beziehen. »Du siehst, liebe Frau, daß sich die Dinge zum Guten gewendet haben. Das wird nun ein Leben wie im Schlaraffenland. Wenn wir beide bei Hofe sind, brauchst du nicht mehr an Kochen und Stochern zu denken. Das einzige, was dir noch zu tun bleibt, ist, daß du abends meine



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Schuhe blitzblank putzt. Du wirst zugeben, daß das keine schwere Arbeit ist!«

Die neue Hofdame wurde von der Königin mit Auszeichnung behandelt. Sie bezeugte ihr sogar eine große Vorliebe und lobte ihre feinen Manieren und ihre gewählte Sprache, ohne aber durchblicken zu lassen, daß sie wisse, wen sie da zur Dienerin habe. Jan hatte seiner Frau weisgemacht, daß er sie für die Tochter eines Höflings aus ihres Vaters großem Königreich ausgegeben habe.

Nun machte nach einiger Zeit die Königin ihre Hofdame darauf aufmerksam, daß ihre Fingernägel immer so schwarz und ihre Hände so verarbeitet aussahen. Und als die Prinzessin erklärte, daß sie die Schuhe putze, weil ihr Mann keine Dienstboten im Hause habe, da befahl ihr die Königin, den Barbier zu warnen. Sie, die Königin, verlange, daß die Hofdame keine erniedrigenden Arbeiten mehr zu verrichten brauche. »Gut, es sei«, antwortete Jan, als sie ihm erzählte, wie es ihr mit den schwarzen Fingernägeln ergangen war. »Du brauchst die Arbeit nicht mehr länger zu tun. Jedoch von einer Dienstmagd will ich jetzt ebensowenig hören wie früher. Laß einfach ausrufen, daß ein guter Schuhputzer hier abends eine halbe Stunde Arbeit findet.«

Und so geschah es. Aber - was tat unser Hofbarbier? Gegen Abend, als er seine Frau zu Hause wußte, begab er sich in seinem strahlenden Prinzengewande mit allen Höflingen seines Vaters und mit Musikanten und Fackeiträgern zu seinem Haus, klopfte an und fragte mit verstellter Stimme, ob es wahr sei, daß die Frau des Hofbarbiers Jan, des Fiedelmannes, einen Schuhputzer verlange. Sie erkannte ihn nicht in seinem prächtigen Gewande und begriff auch nicht, warum alle die großen Herren, die sie bis auf einen kannte, sich um eine so nichtige Sache kümmerten. Und so antwortete sie stotternd und bleich vor Erregung: »Ja. . . Herr, ich. . . Mein Mann wünscht jemandem zum Schuheputzen!« Da nahm der strahlende Unbekannte seinen Hut vom Kopf, beugte vor ihr ein Knie bis zur Erde und sagte: »Schöne Prinzessin, dem Prinzen aus dem kleinen Zehnbündnerland wird es eine Ehre sein, jeden Tag selber die Schuhe zu putzen, die Euer schönes, zierliches Füßchen kleiden. . .

Nun erkannte sie ihn endlich. Sie entsann sich der hochmütigen Antwort, die sie ihm ein Jahr zuvor auf seinen Antrag gegeben hatte, brach in Tränen aus und bat um Verzeihung.

»Verziehen habe ich dir längst«, sagte der Prinz. »Doch nun komme mit an den Hof meines Vaters . . Morgen wird unsere Vermählung öffentlich verkündet, und du wirst die Kronprinzessin des kleinen Reiches,



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wovon ich dir damals gesungen habe, als ich zum erstenmal dein schönes, seidenes Haar kämmte:

Das Land ist so klein,
Die Herzen so groß.
Man haßt und liebt dort
bis in den Tod.«


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