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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Lange Wapper


1

Eines Abends wurde Pitje an die Docks geschickt, um eine Botschaft für seinen Herrn auszurichten. Da zog ein Wetter herauf.

Um den Weg abzukürzen, ging er auf dem Rückweg am »Kraanenhoofd« vorbei. Und plötzlich sah er Lange Wapper dastehen. Er ragte mit dem Kopf in die Wolken, und die eine Hand stützte er auf den großen Kran.

Pitje erschrak und bog aus. Aber er sah noch gerade, wie Lange Wapper sich zur Erde beugte. Es schien, daß er etwas aufhob und in die Scheide warf. Und während es durch die Luft flog, erkannte der erschrockene Piet, daß es ein Mensch war, wie ihr und ich. Lange Wapper hatte ihn geschnappt und ins Wasser geschleudert.

Und daß er sich nicht getäuscht hatte, bestätigten die Zeitungen am



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nächsten Morgen. Ein Schiffer war die Nacht nicht an Bord zurückgekehrt. Drei Tage später wurde seine Leiche aufgefischt.


II

Lange Wapper stand wieder am großen Kran. Die Fischer kamen, einer nach dem andern vom nächtlichen Fang zurück, da plötzlich ein tobendes Unwetter hereingebrochen war. Sie waren froh, gleich mit ihren Booten im Hafen zu landen, und neben sich froh die Hände. Aber sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Plötzlich blies Lange Wapper, legte die hohlen Hände an den Mund und blies, als wollte er die ganze Welt wegpusten mit allem, was darauf und daran ist. Die Boote fegten durcheinander wie Papierschiffchen und alle Fischer ertranken. Die Leute, die an der Reede wohnten, haben hinter der Gardine gesessen und es beobachtet. Aber sie waren mehr tot als lebendig und getrauten sich nicht vor die Tür. Und wenn es auch schon lange her ist, die Antwerpener erzählen noch mit Schrecken von dieser Nacht.


III

Eines Abends spät polterte Lange Wapper in eine Kneipe an der Kipdorpbrücke. Er sah aus wie ein Hausierer. Und daß er ein Krämer sei, das glaubten wahrhaftig die drei Herren, die um den großen Tisch saßen und auf den vierten Mann zum Skat warteten. Lange Wapper fragte, ob er nicht mitspielen solle, bis der vierte Mann käme. Die drei waren einverstanden, und im Nu war das Spiel im Gange. Eine Partie folgte auf die andere, Lange Wapper verlor, verlor, soviel man nur verlieren konnte. Plötzlich warf er seinem Nachbarn vor, er betrüge. Es fielen grobe Worte, und bald war eine Prügelei im Gange. Wütend warf Lange Wapper die drei Kartenbrüder einen nach dem andern in die Ecke, kratzte das Geld, das auf dem Tisch liegen geblieben war, zusammen und sprang aus dem Fenster.

Als die drei das sahen, sprangen sie ihm nach und rannten hinterdrein. »Haltet den Dieb!« riefen sie durch die stillen Gassen.

Lange Wapper lief Straße ein, Straße aus zur Schelde. Und hinter ihm die drei Skatspieler. Am Brouwersvliet hatten sie ihn fast eingeholt. Da blieb Lange Wapper stehen. Und je näher sie kamen, um so gewaltiger wuchs Lange Wapper in den Himmel. Im Handumdrehen stand er da, hoch wie der Liebfrauenturm.



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Zu spät sahen die drei, daß sie Lange Wapper vor sich hatten. Der schlang sie in seine langen Arme und warf sie in das Fleet.


IV

In der Lei stand der Freßhof. Der hieß so, weil dort eine gefräßige Frau wohnte. Wie Lange Wapper sie eines Tages abfing, als er im Bauernkittel mit Eiern hausieren ging, das sollt ihr jetzt hören.

Die gierige Spinne, die bei jedem Eierkauf, und wenn die Eier noch so groß und frisch waren, herunterhandelte, versuchte das auch bei Lange Wapper.

»Gut«, sagte er schließlich, »ich lasse sie Euch billiger.« Da rannte die geizige Frau die Treppe hinauf, um ihren Geldbeutel zu holen. Aber Lange Wapper rief ihr nach: »Dein Geldbeutel soll mit jedem Schritt 1000 Pfund schwerer werden.«

Das war eine grausame Beschwörung. Denn als die Frau die erste Stufe heruntertrat, schien es ihr, daß der Beutel in wunderbarer Weise an Gewicht zunahm. Er fiel ihr fast aus den Händen, so schwer war er geworden. Beim zweiten Schritt wurde es noch ärger. Sie begriff nicht, was das war. Beim dritten Schritt stürzte sie die Treppe hinunter und der Beutel wälzte sich ihr auf den Leib und drückte sie platt. Lange Wapper verschwand, und die ganze Lei hallte wider von seinem höhnischen Gelächter. Und die Menschen, die es hörten, schlossen sich mehr tot als lebend in ihren Häusern ein.


V

Auf eine Quissel (Betschwester) war Lange Wapper schlecht zu sprechen. Er ärgerte sie, wo er nur konnte. Und wenn sie noch so sehr auf der Hut waren, es verging kein Monat, ohne daß er der einen oder der andern einen Streich gespielt hätte, zur großen Freude aller Welt.

Da wohnte auch in der Keizerstraat eine Quissel, die vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit einem Rosenkranz in der Hand und einem Gebetbuch unterm Arm in die Jakobskirche lief. Sie hatte ein böses Mundwerk und jammerte wie alle Quisseln immerzu über die Verderbtheit der Jugend und die Schlechtigkeit der Männer. Eines Tages erschien ein feiner Herr bei ihr. Er sah aus wie der junge Baron aus der Nachbarschaft, der neulich Witwer geworden war. Aber ihr habt gewiß schon erraten, daß der feine Herr niemand anders als Lange Wapper war. Er fragte die Quissel, ob sie seine Frau werden wolle.



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»Mit tausend Freuden«, rief sie sogleich.

»Welch ein Glück für mich«, antwortete der Baron. »Aber eins mache ich zur Bedingung: ich wünsche natürlich, daß Ihr genau wie ich Eure Christenpflicht ernst nehmt. Aber den ganzen Tag in der Kirche hocken und mit einem dicken Gebetbuch herumlaufen, kann ich nicht ausstehen! Ich mag Übertreibungen nicht!«

Und schrumm, packte die Quissel das Gebetbuch und warf es hinter den Schrank. »Seht nur, da fliegt es schon«, rief sie.

Darauf hatte Lange Wapper gewartet. Er riß die Tür auf und stürzte lachend aus der Stube. Und auf der Straße wurde er groß wie ein Haus und schrie, daß alle Nachbarn es hören konnten: »Du verrückte Quissei! Wenn sie einen Mann hat, ist alles gut.«


VI

Der Riese von Antwerpen war ein starker Kerl, das war in der ganzen Welt bekannt. Aber die wenigsten wissen, daß er auch ein starker Trinker war, einer, der alle Kumpane unter den Tisch prostete. Eine große Tonne war für ihn nicht mehr als für gewöhnliche Menschen ein Glas. Und von solchen Gläsern schüttete er nacheinander eine ganze Menge hinunter. Stapfte er irgendwo in eine Herberge hinein, dann mußten alle Männer aus der Nachbarschaft zusammengetrommelt werden, um den Trunk in Eimern aus dem Keller heraufzulangen.

Als er einmal in der »Goldblume«zechte, stand eine Kette von vierzig Leuten bis in den Keller hinunter und reichte eimerweise das Bier für ihn an. Dreißig Tonnen trank er diesen Abend leer, und er hatte noch nicht genug. Nachher ging er wie gewöhnlich zum Steen. Aber er hatte noch immer solchen Durst, daß er den einen Fuß auf das andere Ufer setzte und sich niederbeugte, um in langen Zügen Scheldewasser zu schlürfen. Schließlich hatte er genug getrunken. Als er sich wieder aufreckte, sah er drüben auf Sint An einen armen Schiffer, der ihm nachschaute und lachte.

»Was ist los?«fragte der Riese. »Wenn du mich auslachst, helf ich dir!« »Nein, Herr Riese, ich lache nicht über dich. Ich bin zwar nur ein armer Schiffer, aber du weißt ja, daß ich viel von dir halte. Wer hat regelmäßiger als ich Zoll bezahlt? Ich habe dich niemals betrogen und übers Ohr gehauen.« »Weshalb lachst du denn?«

»Ja, Herr Riese, ich lache nur mit Verlaub, weil du beim Trinken ein ganzes Floß geschluckt hast.«



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»Ein ganzes Floß? Donnerwetter! Ich dachte eben schon, ich hätte einen Strohhalm eingeschlürft. Aber ein Floß! Jetzt begreife ich! Es ist mir da etwas im Zahn stecken geblieben. Siehst du!«

Und damit holte der Riese lachend einen Baumstumpf aus dem Mund und ließ ihn auf das Ufer niedersausen.


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