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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Jan Vettegraf

In alten Zeiten war einmal ein Mann - er hieß Jan-, der kehrte aus fernen Ländern zurück nach Hause. Als er eine Zeitlang gewandert war, verirrte er sich, und er kam an einen ganz hohen Berg; da war kein Haus noch die Spur von einer Menschenseele zu sehen.

Der Mann schaute betrübt darein, denn inzwischen war es Abend geworden, und sein Magen fing an zu knurren. Er versuchte alle Wege links und rechts und geradeaus, sah sich nach allen Seiten um und wußte nicht, was er anfangen sollte, seinen Hunger zu stillen.

Da hörte er auf einmal in der Ferne ein Spinnrad schnurren, rrr rrr rrr! Er lauschte, woher das Geräusch kam, ging in der Richtung vorwärts. Da saß eine Spinnerin, ein steinaltes Mütterchen, die ließ das Rädchen schnurren, daß es eine Lust war zuzuhören. Durch das ewige Treten hatte sie einen ganz platten breiten Fuß bekommen und von dem Fadenfeuchten eine lange vorstehende Unterlippe.

»Wie kommst du hierher geschneit?«fragte die Alte, als Jan eintrat; »seit die Welt steht, bist du der erste Mensch, der den Fuß über meine Schwelle setzt. Was willst du von mir?« — »Ich wandre nach Hause«, sagte Jan, »und hab mich verirrt und kenne hier nicht Ost noch West. Und um die Wahrheit zu sagen, ich hab solchen Hunger, daß ich einem Nagel den Kopf abbeißen könnte.«

»Gut«, sagte die Spinnerin, »du sollst mein Gast sein, setz dich.« Darauf schnitt sie ihm eine dicke Butterstulle und füllte ihm einen Krug mit einem wundervollen Getränk. Davon wurde Jan so quick und munter, daß er bald mit der Frau lustig am Schwätzen war.

»Wohnst du hier so mutterseelenallein, Mutter?«fragte Jan. »O nein«, sagte Gret Weißwohl - so hieß sie nämlich -, »ich wohne hier mit den vier Winden.« — »Mit den vier Winden?« sagte Jan und machte große Augen. »Mit den vier Winden! Wie soll ich das verstehen?« — »Nun, die vier Winde sind meine vier Söhne«, sagte Gret. »Deine vier Söhne!«



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sagte Jan, »ach, die möchte ich wohl sehen.« — »Das kannst du, warte nur einen Augenblick, sie kommen gleich nach Hause.«

Und wirklich, es war noch keine halbe Minute herum, da kam plötzlich etwas angesaust und gebraust, und zugleich drang eine so kalte Luft herein, daß einem die Nase fror. »Hier«, sagte die Spinnerin, »siehst du's nun? Da ist Norden, er hat eine Reise über See gemacht.«

Und da stand er wirklich, der Kerl, seine langen Haare wehten wild durcheinander, und sein dunkles Gesicht war wie verhagelt, sein Bart wie Pfeffer und Salz wie bei einem, der durch den Schnee gegangen ist. Ein Vaterunser später kamen noch zwei hereingestürmt, fast wäre der Alten, von dem heftigen Wind, der Flachs vom Rocken geflogen.

»Guten Tag, Mütterchen«, sagten sie alle beide zugleich, obwohl sie von entgegengesetzten Seiten kamen, »wie geht's wie steht's und wo ist das Nestküken denn?«

Kaum waren die Worte über ihre Lippen, da wurde es mollig und warm wie mitten im Sommer, so daß Jan vor Schläfrigkeit anfing zu gähnen. Und da stand auch schon der Süden vor ihm, ein schlanker juner Mann, mit flachsblondem Bart, langem Krülihaar, in einem grünen Mäntelchen. »Ah, mein lieber Junge!« sagte die Alte, »wo hast du gesteckt? Wenn das Wegbleiben kein Ende nimmt, dann muß ich nächstes Mal böse werden.« —»Nein, nein, Mutter, du wirst nicht schimpfen, wenn du hörst, daß ich in dem Lande gewesen bin, wo man nicht stirbt.« — >Wo man nicht stirbt!<dachte Jan und sah aus, als ob er Schnee brennen sähe. >Nach dem Land möcht ich auch mal.<

»Gut«, sagte Süden, der Jans Gedanken gehört hatte; »ich ziehe morgen wieder hin. Willst du mit? Aber du mußt alles tun, was ich sage, sonst kommst du nicht hin.« — »Nur ruhig«, sagte Jan, »du brauchst nur zu befehlen.«

Den andern Morgen vor Tau und Tag stand Jan schon fix und fertig, als der Südwind noch im Bette lag und schnarchte. Ungeduldig gingen Jan hin und her wie einer, der auf Schildwache steht, und jedesmal wenn er vor Südens Schlafkammer kam, stampfte er ein- oder zweimal, bis Süden endlich wach wurde und rasch aufsprang.

»Ach, du bist's, der da schon so'n Lärm macht«, sagte Süden. »Wahrhaftig, du bist kein Langschläfer; komm, wir brechen gleich auf, aber paß wohl auf, was ich dir sag', sonst . . . Sieh, da ist eine Pelzmütze«, sagte Süden, »die mußt du aufsetzen und immer dicht bei mir bleiben, sonst verirrst du dich! Und hüte dich, daß du das Mützchen nicht vom Kopfe fliegen läßt. Denn wenn das geschieht, ehe wir den Boden erreichen, fällst du herab und brichst den Hals.«



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»Nur keine Angst«, sagte Jan und setzte dabei seine Mütze auf, und im Augenblick war er unsichtbar geworden, auch für sich selbst. Dann tat Süden sein Mäntelchen an, fing an zu wehen, und Hui! stob er mit Jan hinaus.

Als sie schon Stunde um Stunde geflogen waren, sahen sie von weitem ein schönes Schloß stehen, und Süden sagte zu seinem Gefährten: »Da wohnt der König des Landes, in dem man nicht stirbt.«

»Können wir nach dem Palast fliegen?«fragte Jan, »ich möchte ihn aus der Nähe besehen.« —»Einverstanden«, sagte Süden, und sie stoben hin wie die Schwalben. Da flog von dem starken Luftzug ein Fenster auf, und sie gerieten in die Kammer der Königstochter. Als sie hereinwehten, wurden alle die kostbaren Sachen und Sächelchen, die auf Tischen und Schränken lagen und standen, emporgehoben und umgeworfen. Jan, wie von der Hand Gottes geschlagen, vergaß sein Käppchen auf dem Kopf festzuhalten; plötzlich flog es ab, und da stand er nun, wie er leibte und lebte, sichtbar vor der Prinzessin, während Süden schon auf dem Nachhauseweg war.

Die Königstochter fand es herrlich, einen sterblichen Menschen zu sehen, und sie fragte Jan, woher er käme. Jan erzählte, und darüber kam der König und wollte sehen, was es da gab. Als der König von dem ifnbekannten Lande reden hörte, wurde er immer freundlicher zu dem fremden Gast und bot ihm zuletzt an, ganz dazubleiben und sein Schwiegersohn zu werden. Daß Jan nicht nein sagte, versteht sich. Als er aber über ein Jahr mit der Prinzessin gelebt hatte, dachte er an seine Mutter und bekam je länger je mehr Heimweh nach ihr. »Herr König«, bat er eines Tages, »darf ich einmal nach Haus und sehen, wie es meiner alten Mutter geht?«

»Du magst gehen«, sagte der König, »aber was willst du dort? Es wird dich keine lebende Seele mehr kennen; du wohnst hier schon viel länger, als du denken magst.«Als der König aber sah, daß Jan nicht davon abzubringen war, holte er sein bestes Pferd, und beim Abschied sagte er, er solle ja nicht von dem Pferde steigen; er würde es sonst bitter bereuen.

»Keine Sorge, keine Sorge!« sagte Jan und weg war er. Als er nun zu guter Letzt in seine Heimat kam, kannte er weder Land noch Sand, weder Mensch noch Tier; alles war anders, und was er gekannt hatte, tot und begraben. Er ritt zum Bürgermeister und ließ nachschlagen, aber alles war verlorene Mühe; sie durchsuchten zwei, drei dicke Folianten, fanden aber niemand, der da hieß wie Jan, nämlich Johannes Vettegraf, genannt Jan Knop von Munkenreede. Der Bürgermeister wollte das



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Suchen aufgeben, da kam ihm zufällig noch ein altes Register unter die Finger, das die Mäuse halb aufgefressen hatten. Er schlug es auf, und da stand Jan wirklich, mit Tauf- und Zunamen, gebucht vor siebenhundert Jahren.

»Wollt Ihr nicht bei mir zum Essen bleiben, mein Herr?« sagte der Bürgermeister, neugierig geworden. »Nicht nötig«, sagte Jan, machte rechtsum kehrt und ritt weg, ohne von seinem Pferd gekommen zu sein, denn er hatte die Warnung von seinem Schwiegervater noch nicht vergessen.

Als er nun wieder ein gut Stück Weges zurückgelegt hatte, sah er einen alten Mann unter einer Karre verbrauchter und zerbrochener Wagenräder liegen. Der arme Teufel ächzte und jammerte, daß es Jan erbarmte und er nicht an das dachte, was ihm sein Schwiegervater befohlen hatte. »Komm«, sagte er, »ich will dir helfen, Kamerad.« Und er zog den Alten unter dem Wagenrad hervor. Aber kaum war Jan von seinem Pferde gestiegen und der alte Taugenichts auf den Beinen, da packte er Jan fest an der Schulter. »Ha, Vogel, nun hab' ich dich gefangen. Siehst du all die zerbrochenen Räder auf meiner Karre? Die hab ich in Stücke gefahren, als ich dich verfolgte. Es sind schon siebenhundert Jahr, mußt du wissen, daß ich dir vergebens nachsetzte, aber nun hab ich dich; mein Name ist Pietje der Tod.« Das letzte Wort war gerade ausgesprochen, als Vettegraf, genannt Jan Knop von Munkenreede, der so lange gelebt hatte, tot hinfiel wie ein Stein.

En er kwam een kater,
En hij sprong in 't water.
En er kwam een puit
En 't vertelselken is uit.


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