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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Die steinerne Suppe

Es waren einmal zwei Schwestern, die eine sehr reich, die andere sehr arm. Eines Tages kam die arme, die sechs Kinder hatte, zu der reichen und sagte: »Gib mir ein halbes Schwarzbrot, denn ich habe nichts mehr zu essen.«Doch die Schwester schlug es ihr ab und sprach: »Komm und backe mir mein Brot, wenn du von mir ernährt werden willst.«

Die arme Frau nahm dies an und erhielt für ihre Arbeit jeden Tag eine Semmel. Das war arg wenig für eine ganze Familie. Deshalb behielt die



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arme Schwester -Anna war ihr Name - immer die Hände voll Teig, wenn sie nach getaner Arbeit heimkehrte, und wusch sie sorgfältig in eine Schüssel mit Wasser hinein. Von diesem Wasser kochte sie eine Suppe ihren Kleinen zu essen, und die wurden ganz frisch und rosig davon. Die Kinder von Maria, der bösen Schwester, aber waren schwach und kränklich, obwohl sie alles hatten, was ihr Herz begehrte, und jeder, der sie sah, rief sofort: »Die armen Kinder!«Dadurch wurde Maria eifersüchtig. >Wie können die so rund und hübsch sein?<dachte sie. >Sie essen eigentlich nichts Besonderes und sind doch besser beisammen als die meinen, die alles bekommen.<

Eines Tages, während Anna bei ihr das Brot machte, begab sich Maria in das Haus der armen Schwester und schaute nach, was die Kinder aßen. »Nun, wie ist's, habt ihr heute schon gefrühstückt?« —»Ja, liebe Tante.« —»Was hat es denn gegeben?« —»Die Mutter hat uns eine Suppe gemacht.« —»Und wo hat sie das Mehl hergenommen? Habt ihr eins im Haus?« — »Nein, aber wenn die Mutter heimkommt, hat sie die Hände immer ganz weiß, dann wäscht sie sich die Hände und stellt den Topf mit dem Wasser auf. Dann ist die Suppe gleich fertig, und wir essen sie.«

>Ah<, dachte die böse Maria, >meine Schwester trägt Teig aus dem Haus, das werde ich ihr schon austreiben.< Von diesem Tag an mußte Anna sich die Hände waschen, bevor sie das Haus verließ. Und die armen Kinder, die keine Suppe mehr zu essen hatten, wurden genauso mager wie die Kinder der bösen Maria.

Eines Abends hatte Anna nichts mehr, was sie ihren Kindern hätte vorsetzen können. Sie setzte sich traurig am Herd nieder und fing zu weinen an. »Mutter, was hast du?« fragten die Kinder. Die arme Frau senkte den Kopf und schwieg. Der Älteste, als er seine Mutter so traurig sah, glaubte, sie sei krank, und verhielt sich still. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und sagte ganz unglücklich: »Ich habe Hunger, so argen Hunger!«Das Jüngste, das, um seiner Mutter keinen Kummer zu machen, beiseite geblieben war, kam jetzt auch immer näher heran, umarmte die Mutter und sagte: »Liebe Mutter, wenn du wüßtest, was für einen Hunger ich habe!« Und da die Mutter nichts sagte, fingen alle Kinder zu weinen an.

Da wachte Anna auf einmal wie aus einem tiefen Schlafe auf. »Was habt ihr, Kinder? Warum weint ihr so?« — »Wir haben Hunger!« — »Was nicht gar! Wir haben ja Geld und wollen gleich eine gute Suppe machen. Du, Francesco, bring Wasser im Topf; Giovanni soll Holz holen und ein ordentliches Feuer anzünden. Hört auf zu weinen; ich gehe ein



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großes Stück Fleisch kaufen und bin gleich wieder da.«Und Anna verließ das Haus und begab sich zu Maria.

»Schwester, liebe, gute Schwester, magst du mir nicht ein klein wenig Brot geben, damit ich meine Kinder füttern kann?« — »Ich gebe gar nichts; wer Brot haben will, soll es sich verdienen.« — »Ich flehe dich an! Wenn du es weigerst, müssen wir alle Hungers sterben.« — »Was geht das mich an? Ich habe dich immer bezahlt für deine Arbeit, ich bin dir nichts schuldig.«

Traurig kehrte Anna heim. >Was soll ich ihnen nur geben?<dachte sie. >Wenn sie nur noch bis morgen aushielten, da könnte ich vielleicht etwas auftreiben.<Auf einmal kam ihr ein Gedanke. Sie nahm drei schöne Steine und wickelte sie in Papier ein. Zu Hause angekommen, stellte sie sich ganz vergnügt. »Francesco, bist du Wasser holen gewesen?« — »Ja, Mutter; hast du Fleisch dabei?« — »Freilich. Und du, Giovanni, hast du Holz gebracht?« —»Ja, einen großen Haufen. Sag, braucht das Fleisch lang, bis es fertig ist?« — »Nein, liebe Kinder, gar nicht lang. Geht inzwischen spielen; wenn das Fleisch fertig ist, rufe ich euch.« Und die Kinder gingen fröhlich fort. >Wie herrlich, wir bekommen etwas zu essen!<dachten sie. Inzwischen hatte Anna den Topf aufs Feuer gesetzt und die drei Steine hineingetan.

Nach einiger Zeit kamen die Kinder heim. »Ist das Fleisch fertig?« — »Nein, noch nicht ganz.« —»Dauert es noch lang?« — »Es wird bald fertig sein; geht nur inzwischen wieder spielen.« Aber die armen Kinder rührten sich nicht von der Stelle, denn sie hatten zum Spielen nicht mehr Kraft genug. Nach einiger Zeit fragte der älteste wieder: »Mutter, ich habe Hunger -ist das Fleisch noch nicht gar? Schau genau, damit du dich nicht täuschst.« — »Warte nur noch ein bißchen, es wird gleich gar sein; horcht nur, wie der Kessel kocht!« Die Kinder warteten weiter. Als die Mutter aber immer wieder sagte, daß das Fleisch noch nicht fertig sei, fingen sie alle zu weinen an.

In diesem Augenblick klopfte es an die Türe: pum pum pum! »Wer ist da?« — »Ein armer Mann bittet um Einlaß.« — »Wir haben nichts, das wir Euch geben könnten, guter Mann.« —»Ich will mich ja nur ein wenig wärmen, wenn Ihr mich am Herd niedersitzen laßt.« — »Laß ihn herein«, sagten die Kinder, »wir haben doch bald Fleisch!«

Anna machte die Türe auf, und der Bettler setzte sich an den Herd. Als er sich richtig gewärmt hatte, bat er: »Gebt mir ein Stückchen Brot!« »Ach, wir haben gar nichts, nicht einmal ein Stückchen Brot.« Der arme Mann schüttelte traurig den Kopf und sprach: »Anna, Anna, Ihr seid nicht barmherzig! Ihr habt den Schrank voll weißem Brot, und mir



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wollt Ihr nicht einmal ein Stück davon geben.« — »Ganz bestimmt, ich habe nichts, sonst ließe ich mich doch nicht so bitten.« — »Gut, wenn Ihr kein Brot habt, gebt Ihr mir ein Stück von dem Fleisch?« —»Ich habe keines.« — »Und was ist dort in dem Topf?« — »Ganz und gar nichts zum Essen. Das Wasser kocht wohl, aber es ist kein Fleisch darin.«

Als die Kinder dies hörten, weinten sie noch ärger. »Wir haben solchen Hunger!« sagten sie. Die arme Mutter war ganz verzweifelt. »Ihr seid sehr böse«, sagte der Bettler, »Eure Kinder so leiden zu lassen.« — »O Gott, was soll aus ihnen werden? Wir werden alle Hungers sterben.« »Wenn Ihr weder Brot habt noch Fleisch«, sagte der Bettler, »so gebt mir wenigstens ein bißchen von dem guten Wein, den Ihr im Keller habt.« — »Ihr seid im falschen Hause, ich habe nichts, sage ich Euch, aber auch gar nichts.«

»Was, Ihr habt kein Schwein geschlachtet? Ihr habt keine Schinken? Auch keine Käslaibe und keine Broccios?« —»Nein, ich habe von dem allem nichts.« — »Ihr wollt mich belügen, Anna. Ich bitte Euch, gebt mir und den Kindern ein wenig Brot und Fleisch; wir haben alle sehr Hunger.«

»Gut, wenn Ihr mir nicht glauben wollt, schaut selbst in den Topf.« »Oh, soviel Fleisch!« rief der Bettler, wie er den Deckel abnahm. »Das reicht ja für zwei Tage!« Und schon zog er drei große Stücke heraus. Die Kinder waren sehr froh. »Ist es endlich fertig?«fragten sie. »Ja, es ist schön weich«, antwortete der Bettler. »Jetzt brauchen wir noch Brot und Wein. Holt etwas, Anna.«

Die arme Frau lief voll Verwunderung an den Schrank und in den Keller. Und wirklich fand sie eine Menge Brot und drei große Fässer ausgezeichneten Wein. »Was sagt Ihr jetzt?« sprach der Wandersmann. »Ich dachte, ihr habt nichts zu essen?«

Anna traute ihren Augen nicht, und alle aßen und tranken. Als sie fertig waren, wollte der Arme, der um Einlaß gebeten hatte, noch Käse haben, und die glückliche Frau fand auf ihrem Speicher auch davon mehr als genug; außerdem hing dort ein schönes, gut gesurtes und geräuchertes Schwein samt Broccio und Würsten. Der Freudenrufe war kein Ende: »So viel gute Sachen! So ein Glück!« Die arme Frau kam vom Speicher herunter, die Arme voll Vorräten. »Warum habt Ihr mich belogen?« sagte der Bettler. —»Der liebe Gott hat ein Wunder für uns gewirkt, denn wenn ich etwas gehabt hätte, hätte ich Euch ganz gewiß etwas gegeben.«

»Ja, ich habe ein Wunder für Euch gewirkt. Ich wollte Eure armen Kinder nicht Hungers sterben lassen, die Ihr so lieb habt und für die Ihr alles



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getan habt, was in Euren Kräften stand. Eure Schwester Maria aber will ich bestrafen, weil sie gegen Eure Bitten taub war.«

»Herr«, sagte Anna zitternd und bebend, »ich flehe Euch an, tut ihr nichts; ich verzeihe ihr alles.«

»Weil Ihr ein so gutes Herz habt, sollen alle die Vorräte bis zu Eurem Ende vorhalten, aber der Stolz der Bösen muß gebeugt werden. Hört zu, was ich sage: Heute noch will ich die ganze Ernte Eurer Schwester verbrennen, ihre Herden vernichten und ihr Haus in Asche legen.« Darauf verließ der Herr in Bettlergestalt das Haus, und bald hörte man all die Übel berichten, welche die böse Schwester getroffen hatten. Anna war darüber sehr unglücklich, aber sie hatte nichts vermocht gegen den Willen des Herrn. »Zu Hilfe, zu Hilfe!« rief es von allen Seiten, und die Glocken verkündeten düster die Feuersbrunst, deren Flammen zum Himmel aufstiegen. Aber alles war umsonst; man konnte nichts retten. Plötzlich erfüllte ein furchtbares Krachen die Luft; Marias Haus stürzte zusammen, die Strafe Gottes war erfüllt. Mit einem Schlag wurde die reiche Maria arm wie die ärmste Bettlerin. Es blieb ihr nichts, weder Rinder noch Schafe noch Ziegen; alles war dahin wie ein Traum.

Die böse Schwester und ihre Kinder waren ins tiefste Elend gestürzt. Niemand wollte sie aufnehmen, denn alle hatten unter Marias Stolz zu leiden gehabt. Sie zog durch die Straßen und bat: »Ein Almosen, Leute!« Doch alle kehrten ihr den Rücken zur Strafe für ihre Bosheit. Eines Tages kam Maria, traurig und sehr verändert, in das Haus ihrer Schwester Anna. »Magst du mir nicht ein ganz kleines Stück Brot geben? Meine Kinder sterben vor Hunger.« — »Gewiß, Schwester, setz dich hin und nimm, was du brauchst.« Und die gute Anna gab ihr ein ganzes Brot samt Fleisch und Wein. »Iß nur, iß! Wo sind denn deine Kinder?« — »O Gott, sie sind tot.« — »Arme Schwester. Warum hast du mich angelogen? Hast du Angst gehabt, daß ich dir sonst das bißchen Brot verweigere?« —»Ich bin so böse zu dir gewesen, daß ich nicht gehofft habe, dein Mitleid zu erregen; aber ich dachte, wenn ich für sie bitte, stößt du mich nicht zurück.« — »Ich hätte dir auch so gegeben. Ach, was mußt du durchgemacht haben? Bleib ganz bei uns, und es soll dir nichts abgehen. Nachdem der liebe Gott mich reich gemacht hat, ist es nicht mehr als gerecht, daß auch du davon profitierst.«

Maria weinte vor Freude. Sie nahm das Angebot ihrer Schwester sofort an und hatte von nun an die Kinder der guten Anna so lieb, als ob es ihre eigenen gewesen wären. Und die beiden Schwestern lebten noch lange und waren glücklich bis zum letzten Tag.


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